Libyen – religiöse Raserei versus Anstand und Ritterlichkeit
Einar Schlereth
Libyen ist ein großer Spiegel, in dem nicht nur wir, sondern große Teile der Mensc?heit ihre eigene Geschichte wiedererkennen können. Wenn wir uns diese irren Haufen des NTC und der NATO-Soldadeska anschauen, mit welcher Besessenheit sie rasen und wüten und schlachten und foltern, dass einem übel wird, dann versteht man auch, warum die Libyer sich bis zum Letzten wehren, um dieser Meute nicht in die Hände zu fallen.
Aber lasst uns trotzdem hinschauen, denn was wir da sehen, ist genau das, was das christliche Abendland seit fast 1700 Jahren – seit Konstantin der „Große“ 325 u. Z. das Christentum zur Religion des Staates (zwingend vorgeschrieben für alle Bürger) erhoben hat – erst im Mittelmeerraum, dann in Europa und am Ende in der ganzen Welt betrieben hat.
Zuschlagen und tot machen. Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns. Also abmurksen und zwar so grausam und unmenschlich wie nur möglich. Denken wir daran, dass die Kreuzzüge nicht erst gegen die Moslem im 12. Jahrhundert begannen. Die begannen sofort, nachdem die Christen die Macht in Händen hielten. Insbesondere gegen die Heiden, aber auch gegen die Eigenen. Alle, die nicht die gerade offizielle Version des Christentums billigten, waren Abtrünnige, Ungläubige. So wurden beispielsweise die Arianer in Spanien mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Und was die Moslem heute sind, das waren über Jahrhunderte hinweg die Slawen. Karl der „Große“ hat sich nicht nur gegen die Germanen hervorgetan, sondern er hat auch schon die Kreuzzüge gegen die Slawen begonnen, die von Generationen christlicher Kaiser, Fürsten, Grafen mit Eifer fortgeführt wurden. Schon damals ging es auch um Kolonisierung. Das Land, das Hab und Gut der Menschen stehlen und sie versklaven. Der unausrottbare Russenhass hat tiefe Wurzeln.
Als dann Europa endlich weitgehend „pazifiziert“ und „christianisiert“ war, richtete man das Augenmerk auf die Moslem und ihre Bastionen in Europa. Die ‚Reconquista‘ wurde in Angriff genommen, von Anfang an als Kreuzzug ausgewiesen. Alle, die daran teilnahmen, konnten das Seelenheil erringen. Es dauerte Jahrhunderte, aber man leistete auch gründliche Arbeit. Eine umgekehrte ‚Reconquista‘ wäre nie möglich gewesen, weil es keine Moslems mehr in Spanien gab. Denn sie wurden ausgerottet, und da man gerade dabei war, wurden die Juden gleich mit ausgerottet, so dass das allerchristliche Spanien das erste judenfreie Land Europas wurde. Man machte nicht den Fehler, den die Araber in Spanien begingen: die Christen unbehelligt und am Leben zu lassen. Die hatten die Araber ja auch als Befreier begrüsst, nachdem sie von ihren eigenen christlichen Königen bis aufs Blut ausgebeutet worden waren.
Gleichzeitig wurden auch die Kreuzzüge im Osten begonnen. Vordergründig ging es um die ‚Befreiung‘ der Geburtsstadt des lieben Jesulein, aber im Grunde natürlich um die Reichtümer des Ostens und die Handelswege nach Indien und China. Kommt uns doch irgendwie bekannt vor.
Noch bevor die Reconquista 1492 mit dem Fall von Granada abgeschlossen war, hatte der kastilische König Heinrich III die Armee „unter dem Deckmantel christlicher Mission, aber doch eher aus wirtschaftlichem Interesse, auf die Kanaren geschickt.“ Fast 100 Jahre dauerte der Widerstand der Guanchen, bis er 1496 in Blut erstickt wurde.
In jenem schicksalschweren Jahrzehnt am Ende des 15. Jahrhunderts „entdeckte“ 1492 Kolumbus Amerika. Nun, über die „Heldentaten“ der Spanier und später der Portugiesen sind wir ja hinreichend unterrichtet. In einem knappen Jahrhundert ca. 60 Millionen Indios in gediegener Handarbeit ausgerottet. Heute wird ja gerne gesagt, dass es die europäischen Krankheiten waren, von denen die meisten Einwohner dahingerafft wurden. Man „vergisst“ nur die Kleinigkeit, dass die „heroischen“ Eroberer ja schnell den Trick mit der Krankheit heraushatten und Völker, die zur Eroberung vorgemerkt waren, mit Geschenken wie verseuchten Decken bedachten (was im übrigen viele Jahrhunderte später von den Amerikanern an den Indianern auch durchexerziert wurde). Der Rest wurde dem ‚lieben Gott‘ überlassen.
Die anderen Europäer traten schnell in die Fußstapfen der Spanier. Engländer, Holländer, Franzosen vorneweg, Deutsche, Belgier dackelten hinterher. Um dem gegenseitigen Gemetzel ein Ende zu bereiten, wurde dann auf der ruchlosen Berliner Konferenz oder auch Kongokonferenz 1884 die restliche Welt auf dem Reißbrett aufgeteilt und die Einflusszonen abgesteckt. Nun legten die Herren Kolonisatoren eine Blutspur nach der anderen über die Erde. Sie waren alle gleich – in Namen der Missionierung, der Zivilisation, des Fortschritts wurde gemordet, geraubt, geplündert, versklavt und vergewaltigt. Den Vogel schoss Leopold II ab, dem es gelang, in einem knappen viertel Jahrhundert ca. 9 Millionen Kongolesen zu ermorden und nebenher Milliardengewinne aus dem Land zu ziehen. Die Deutschen, Engländer, Holländer versuchten nach Kräften, es ihm gleichzutun.
Bald traten dann auch die Amerikaner auf den Plan, die ja nach ihrem ‚Freiheitskrieg‘ erst einmal damit beschäftigt waren, die Indianer auszurotten und das Land bis zum Pazifik auszudehnen. Inzwischen war die Welt leider unter den großen Räubern aufgeteilt, weshalb die Amis sich den schwächsten aussuchten – die Spanier – und ihnen Kolonien abjagten – die Philippinen und Kuba. Nebenher beraubten sie Mexiko eines Drittels seines Territoriums. Und dann erklärten sie ganz Lateinamerika als ihren Hinterhof und ihr Einflussgebiet.
Durch eine raffinierte Politik, die diplomatische Umschreibung für Heuchelei, Betrug in großem Maßstab, Verrat, auch in großem Maßstab, Subversion, Infiltration, alles in Verbindung mit Drohungen, Putschen, Morden und Kriegen haben sie sich an die Spitze katapultiert, zu einer Supermacht, die mit über tausend Militärbasen fast die gesamte Welt im Würgegriff hält. Eine Liste aller US-Kriege brauche ich hier nicht anzuführen, das hat William Blum erschöpfend geleistet.
Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts brach die UdSSR auseinander. Der alte Feind verschwand über Nacht. Was tun mit den all den Waffen, den Militärbündnissen, den Basen. Ernsthafte Überlegungen wurden angestellt, endlich die Atomwaffen zu beseitigen und abzurüsten und das Geld vernünftig zu verwenden. Doch vor diesem Schreckensszenario bewahrte uns die Schaffung eines neuen Feindes: der Islam und die Terroristen. Maßgeblichen Anteil daran hatten die Israelis.
Den USA und Israel gelang es, die alten Kolonialmächte zu mobilisieren und das gewaltigste Militärbündnis aller Zeiten zu schaffen – die NATO. Die ersten Kriege gegen islamische Länder – Irak und Afghanistan – führten zu verheerenden Niederlagen. Trotzdem wird diese Politik fortgesetzt, da man glaubt, durch die neuen Zauberwaffen, die DU-Bomben und die Drohnen, die moslemische Welt und nun auch Afrika endgültig in die Knie zwingen zu können.
Ob diese Rechnung aufgehen wird, bleibt abzuwarten. Eines ist sicher, wie jetzt auch der Überfall auf das friedliche Libyen zeigt. Diese ‚modernen‘ Kriege werden mit einer solchen Barbarei, Brutalität und Unmenschlichkeit geführt, dass nur noch Leichenfelder, verseuchte Restbevölkerungen und Steinwüsten zurückbleiben. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit wachsen unterdessen ins Unermeßliche.
Ein wichtiges Instrument sind gekaufte Söldner und Legionäre – von Blackwater bis zu den islamischen, zionistischen und christlichen Extremisten. Sieht man die islamischen Extremisten in Libyen in Aktion, da sehen wir, wie die Christen zu allen Zeiten aufgetreten sind. So haben die Deutschen in Namibia, Tansania gewütet, die Belgier im Kongo, die Engländer in Indien und Afrika, die Holländer in Indonesien, die Franzosen in Algerien und Madagaskar usw. usf.
Ein großes Trauerspiel ist, dass hier Moslems aus Afghanistan, Pakistan, Jordanien, Katar und Libyer selbst – die Söldner des TNC – durch die US/NATO sich verleiten ließen, auf eine so tiefe Stufe zu sinken, sich in Verbrecher, Vergewaltiger, Folterer, Diebsgesindel verwandelt haben, im Gegensatz zu den Soldaten der libyschen Armee, die noch Anstand und Ritterlichkeit kennen. Sie ließen die englischen SAS-Soldaten ihre Toten und Verwundeten mitnehmen. Sie nehmen Gefangene und behandeln sie anständig. Das ist nicht verwunderlich, denn das bisschen Anstand und Ritterlichkeit, das die europäischen Christen lernten, das lernten sie von den Arabern Spaniens. Sogar der Minnesang kommt aus Andalusien (siehe Sigrid Hunke ‚Allahs Sonne über dem Abendland – unser arabisches Erbe‘, Fischer Verlag, FFM 1990, S. 199, 333 etc.).
Allein die Tatsache, dass die gewaltigste Militärallianz aller Zeiten gegen ein kleines, friedliebendes Volk ohne Kriegsmarine, ohne Luftwaffe, ohne Raketen zuschlägt, die Menschen, wahllos Frauen, Kinder, Alte, Kranke durch Bomben, Raketen, Granaten zu Zehntausenden in Fetzen reisst und verstümmelt, ihre Versorgung an Wasser und Nahrung, Krankenhäuser, Schulen mit ausgeklügelter und teuflischer Absicht zerstört und sich bei uns – bis auf marginale Anzeichen – kein Widerstand und Protest regt, weder bei Friedensaposteln, Frauen, Linken, Liberalen, Demokraten – das ist so schändlich und beschämend und zeigt deutlich, was ich im Titel schon andeutete: den totalen Verlust von Anstand und Ritterlichkeit. Da ist es nur ’natürlich‘, dass der Reiche den Armen niedertrampelt, der Starke dem Schwachen in die Fresse haut, Straßengangs einsame Mädchen und Frauen vergewaltigen. Das ist im Kleinen genau dasselbe, was wir im Großen beobachten können.
Das macht, dass man jede Hoffnung für die Menschheit verlieren kann, jedes bisschen Vertrauen in den Menschen, jeden Glauben an Brüderlichkeit, Vernunft, an Gerechtigkeit, an die Kraft des Geistes, an eine Fortentwicklung des Menschen. Man möchte sich in eine Ecke verkriechen, eine Decke über den Kopf ziehen, nichts mehr hören und sehen, auch nichts mehr sagen, weil man sich schämt, in eine solche Zeit, in eine solche Gesellschaft hineingeboren worden zu sein.
Und doch weiss man, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Da denkt man an die Tapferkeit des libyschen Volkes, all die Menschen, die sich gegen Willkür, Unrecht, Unterdrückung wehren und kämpfen, und dann weiss man, dass es Feigheit wäre, sie in ihrem Kampf alleine zu lassen.
Klavrestöm, 22. Oktober 2011