Die intrinsische Motivation der Zahlen und des Zählens
ob kardinal, ob ordinal,
egal
Was sich mir bei den verschiedenen Zählprojekten erst sehr spät erschloß, ist die intrinsische Motivation des Zählens und der Zahlen. Bei allen Projektplanungen hatte ich niemals damit kalkuliert. Ich habe sie erst durch die Kinder kennengelernt und mir erst im Nachhinein die für Transfer notwendigen analytischen Gedanken dazu gemacht. Bis wir auf das freie Surfen im Hunderterfeld stießen, dachte ich, um Kinder zum Zählen zu bewegen, sei es notwendig, soziale, emotionale, materielle Bedürfnisse der Kinder mit dem Zählen zu verknüpfen, besondere Zählsituationen zu konstruieren. Dieser „pädagogischen“ Bühnenbildnerei bedarf es aber nicht. Die Kinder wollen zählen. Im Zählen selbst liegt genügend Motivation. Intrinsische Motivation. Bei allem Jubel über diese einfache Sachlage muss die obige Aussage insoweit relativiert werden, als das Zählen für die Kinder nicht l’art pour l’art ist. Das Zählen ist bei Kindern immer auch mit einem konkreten Zweck verbunden: sich orientieren können, sich einordnen, Hierarchien klären und fixieren, Abfolgen nachvollziehen und planen, Bewegung und Rhythmen koordinieren und festlegen, Regeln erstellen und nachvollziehen, sich präzise mitteilen, mit Zahlen und Sprache spielen, jonglieren.
Freies Surfen im Hunderterwortfeld
Im Unterricht mit Kindern überwiegend nichtdeutscher Muttersprache sind die Zahlen neben den Flüchen mit die ersten entscheidenden Verbindungspunkte: sie haben weitgehend gleiche sprachgeschichtliche Wurzeln, ähneln sich oft phonetisch, produzieren den gleichen Sprachrhythmus und sind von der Semantik her identisch und deshalb leicht übersetzbar zumindest aber in Zeichensprache unmissverständlich umzusetzen. Auch da, wo im Türkischen z.B bei den Zahlwörtern die Zehner vor den Einern gesprochen werden ergeben sich über die ersten Irritationen sehr ernsthafte und intensive Gespräche über diese Unterschiede. (Für manche deutschen Kinder ist es ein besonderes Erlebnis, dass die türkischen Zahlwörter die Zahlen korrekter beschreiben als die deutschen.) Es kommt selbst bei weit zurückgebliebenen Kindern zu metasprachlichem Handeln. Das Zählen und die folgenden mathematischen Grundstrukturen sind ein zentraler Hebel zum Sprach- und Schriftspracherwerb. Die Verbalisierung der eigenen Entdeckungen im Hunderterfeld schafft gleichgültig in welcher Sprache srachliche Kompetenz nicht um der Sprache willen. Erschließt über pantomimische Darstellung, durch Vermittlung über Piktogramme und ihre fremdsprachige Ubersetzung den Wortschatz der Zweitsprache, ohne auf die Erbringung zweitsprachiger „Glanzleistungen“ fixiert zu sein. Gerade das Zulassen eigener Strukturierung- und Lösungswege schafft kommunikative Spannungen, die die Kinder zur Bearbeitung zwingen. Sie müssen ihre Gedanken vermitteln und suchen sich die dazu notwendigen Mittel, ohne auf bis ins Detail vorgeschriebene vorgegebene, auswendiggelernte verbale Muster zurückgreifen zu können.
Von der Langweiligkeit der Mächtigkeit
Das „kleiner als“ und „größer als“, das „gleich viel“ usw. hängt meinen Kindern nach drei bis vier Aufgabenkolonnen zum Hals heraus. Besonders dann, wenn ich sie aus sehr vitalen „Mächtigkeitsvergleichen“ beim Sammelbildertauschen und -werfen zu solchen Aufgaben herausreißen will. Jeder Dreikäsehoch weiß, wann er beim Pocks- oder Klickerspielen gewonnen oder verloren hat, weiß, welches Stück Kuchen beim Geburtstag in der Klasse größer oder kleiner ist und welche Mannschaften gleich viele Tore geschossen, welche Kinder gleich weit geworfen haben. Und wenn sie es nicht gleich wissen, zählen sie es aus. Oder messen es „zu Fuß“, per „Tipp“, mit der Handspanne oder ganz mittelalterlich mit der Elle. Es soll auch schon vorgekommen sein, daß Kinder im Kindergarten oder in der ersten Klasse ihre Körpergröße mit dem Metermaß gemessen und dabei festgestellt haben, wer größer, kleiner oder gleich groß oder ist.
Kleinschrittige Verdrängung oder Behinderung eigener Lösungsstrategien
Kinder spüren sehr schnell, ob die Erwaschsenen selbst von dem fasziniert sind, was sie mit ihnen zusammen erarbeiten und spielen. Es gibt nur wenig Material für das Rechnen in der Eingangsstufe, das mich selbst fasziniert. Die Motivierungsbemühungen beim herkömmlichen Eingangsstufenrechnen sind bei den meisten Materialien nur äußerlich, sozusagen an die Zahlen geklebt, den Rechenaufgaben beigegeben und dem eigentlichen Lerngegenstand fremd und seiner Struktur nicht entsprechend. Meist sind sie nur das Zuckerbrot zur Peitsche der Verdrängung eigener Lösungsstrategien. Die Aufgabenstellungen lassen meist nicht die Entwicklung eigener Lösungswege zu und bauen zum Teil auf strukturell falschen Prämissen auf (Z.B. das mit horizontal verlaufenden Zehnerblöcken von links nach rechts und von oben nach unten durchnummerierte Hunderterfeld im Mathebaum 2). Selbst dort, wo sich die Rechenbücher spielerisch geben ist der „motivierende“ Zuckerguß hauchdünn und nach kürzester Zeit kommt das Pflichtrepetieren vorgegebener Strukturen zum Vorschein. Ernstzunehmende Zähl- und Rechenanlässe, die sich notwendig aus der Spielsituation ergeben, sind in herkömmlichen Rechenbüchern selten. Daß die Kinder sich trotzdem auf die mageren Rechenbuch-spiele stürzen ist mehr Flucht als Begeisterung und eher dem noch drögeren sonstigen Rechenunterricht zu verdanken der Motivationsträchtigkeit dieser Spiele. Der Fluchtgedanke dominiert, die Kinder entdecken bei den Rechenpuzzeln die zu suchenden Gegenstände oft ohne zu rechnen, vermeiden das Rechnen und malen die Arbeitsblätter nach eigenen Vorstellungen aus und halten sich nicht an die schriftlichen Arbeitsanweisungen, auch wenn sie schon etwas lesen können. Hier ist das Rechnen lästige Pflichtübung zum erreichen eines Zieles, das mit Zahlen und Rechnen eigentlich nichts zu tun hat. Und als Lehrer bin ich sauer, wenn die Kinder die „pädagogische Absicht“ des „Spieles“ durchkreuzen und nicht rechnen. Dann muß ich eingreifen und sagen : Ihr soll nicht nur spielen, malen usw, ihr sollt rechnen! In der Regel riechen die Kinder den Braten sehr schnell und die Kinder die es nicht brauchen, leisten diese Übungen sehr schnell ab und die, die es bräuchten verweigern die Übung, das Spiel, weil sie es noch nicht können. Für sie bleibt es ein wenig feinmotorische Übung, Umgang mit Farben usw. Es schafft aber kein Zugang zum Rechnen. Ganz anders reagieren die Kinder auf Spiele, die als Spiele ernstgenommen werden, die von der Struktur her zu Zählen und Rechnen zwingen: Tischkegeln, Dosenwerfen, Hasenjagd(Golfspiel) Mühlespiel, alle Würfelspiele, Turmbau
Das kindliche Zählen und Rechnen beginnt nicht umsonst mit den immer mitgetragenen Materialien, den Fingern, die sich so ähnlich sind, die immer in Serie auftauchen, die als Serie Gesetzmäßigkeiten in sich bergen. Sie sind die erste und zuverlässigste Rechenmaschine, über die der Mensch verfügt. Das kaum versteckt pikierte Gerede über Kinder in der Eingangsstufe, die „noch abzählen“, die „noch mit den Fingern rechnen“ erinnert mich fatal an ähnliche Sprüche abendländisch-fundamentalistischer Sauberkeitsneurotiker: „lutscht noch Daumen“, „nuckelt noch an der Flasche“, „spielt noch mit dem Essen“ usw.
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