Die Faszination der Serie
Die fallenden Blätter von den Bäumen, der Kies an der Baustelle, die Kronkorken am Kiosk. Das immer vorfindliche und schier unerschöpfliche Material regt die Kinder zum Zählen an, seien es Kieselsteine, Vögel auf den Freileitungen, die Fenster der Häuser, die Autos auf dem Parkplatz. Und immer wieder sind es die Serien, die unterschiedlichen Serien, die großen Murmeln, die kleinen, die gelben, die roten etc. Der völlig unverständliche Reiz des konkurrierenden Zählens zweier verschiedener Automarken an der Einfallstraße des Viertels. Bei diesen elementaren Eindrücken und Erfahrungen lernen die Kids im Vorbeigehen an vorhandenen Materialien, die nichts kosten, die keiner arrangiert, die nicht pädagogisch, methodisch, didaktisch aufbereitet werden. Diesen Dingen braucht kein Illustrator motivierende Schnörkel anzumalen.
Die Faszination des Sammelns
Kinder sammeln alles mögliche, was sich sammeln läßt. Enfach nur so, zweckentfremdet, zweckverfremdet, Kronenkorken, Jägermeisterflaschen, kleine Schachteln, auch hier fasziniert die Serie. Ich habe schon so viele, ich habe mehr, du hast weniger. Mit den gesammelten Dingen lassen sich Türme bauen, Schlangen legen, Bilder formen. Kinder spielen im Sand, legen mit Steinen oder Muscheln geometrische Muster, verdoppeln, teilen, addieren subtrahieren ohne es zu merken. Mit Akkribie haben die Kinder der Elefantenklasse im ersten Schuljahr Blätter gesammelt, getrocknet, gepreßt, riesige Tierbilder im Format 1 X 2 Meter geklebt und dabei gehandelt: „Wir brauchen noch 5 schwarze gezackte Blätter, ihr könnt von uns noch 11 lange gelbe haben.“ und gerechnet, Mengen geschätzt, Größenvergleiche angestellt usw. Sie haben auch gemerkt, daß mich das Sammeln und Bilden selbst begeistert, wie aus einer konkreten Form über Abstraktion eine andere werden kann. Sammeln, Abstrahieren, Mengen erfassen, Sortieren, Kategorien festlegen, Teilmengen eingrenzen. Blätter verschiedener Bäume verwandeln sich in Teile verschiedener Tiere, Fischschuppen, Krokodilhaut, Federn, Stacheln, Augen, Vogelbeine,…..
Die Gedanken sind frei – die Zwanzig ist ein Gefängnis
Kein Kind hört in einer bestimmten Entwicklungsphase bei zehn oder zwanzig gesammelten Muscheln auf zu sammeln und mit den Muscheln zu spielen. Stolz zeigen sie sich gegenseitig über hundert gesammelte Streichholzschachteln, Zigarettenschachteln, Siku-Autos und Bierdeckel, bauen damit Häuser, Burgen, Autobahnen, Bahnhöfe….
Ja, ich gebe zu, ein Sammler zu sein, alles Mögliche zu sammeln. Es macht mir einen kindlichen Spaß, einen Stapel gleichgroßer Pappstücke aufzuheben, Abfälle bei Schneidearbeiten, Druckereiabfälle. Mag sein, daß dieser Spaß sich auf die Kinder überträgt. Aber ich glaube, daß die Faszination der Serie bei allen Kindern latent vorhanden ist und nur einen geringen Anstoß braucht, um offen auszubrechen.
Die Faszination des Unerschöpflichen
Ärgerlich ist die teuere Ersatzbeschaffung bei immer wieder verschwindenden Rechenmaterialien, mit denen ich als Lehrer dann auch sehr geizig umgehe. Die Kinder spüren einerseits, daß dieses Material scheinbar unbegrenzt vorhanden ist, sie sehen, daß sie sich nicht sonderlich darum kümmern müssen, vom Spielstein bis zum Steckwürfel, andererseits merken sie, daß ich immer wieder interveniere, wenn sie -eigentlich positiv- sorglos damit spielen, damit umgehen, damit rechnen, damit bauen, es einstecken und mit nachhause nehmen.
Ausgehend von diesen elementaren Erfahrungen der Kinder, ihren Neigungen zum Sammeln, ihrer Lust an der Serie (die sich im Übrigen alle Spielzeughersteller und Werbestrategen zu Nutze Machen) habe ich angefangen, Zählkästen zu entwickeln, die nichts kosten. Dank der Firma Ikea, die mir ihre Bilderrahmenhalter aus Plastik überlies (recykelbarer Verpackungsmüll) ging das sehr schnell vonstatten: die Rahmenhalter werden in zehn Zehnerbahnen am Stück geschnitten und mit zwanzig Würfeln mit 1,5 cm Kantenlänge und mit acht 15 cm langen und 1.5 cm breiten Pappstreifen befüllt. Hierbei kann farblich auch noch „die Macht des Fünfers“ eingeführt werden. (zwei mal fünf blaue Würfel, zwei mal fünf rote Würfel, die Pappstreifen mit je zehn Würfelfeldern, von denen jeweils fünf rot und fünf blau gefärbt sind) Jede Zehnerbahn wird mit dem entsprechenden Zehner gekennzeichnet (10, 20, 30,…)
Dieser Zählkasten ist in jedem Zahlenraum benutzbar, die Mengen sind im Gegensatz zu den „Rechenschiebern“ isolierbar, was subtrahiert werden soll, kann tatsächlich weggenommen werden, befindet sich außerhalb des Zählkastens, was addiert werden soll, kommt tatsächlich hinzu. Die Operationen sind visuell und manuell trennscharf erfaßbar. Die Zehnerübergänge sind klarer zu erkennen als bei den „Rechenschiebern“, bei denen sich die gesamte Hundertermenge/ Zehnermenge immer auf der Schiene/in dem Schieber befindet und damit die Kinder verunsichert, die Ergebnisse bei leichten Erschütterungen verschiebt.
Als Demonstrationsmaterial an der Tafel dienen Zehner-Pappstreifen mit Drahthaken, die an der Tafel aufgehängt werden können und mit Wandfarbe gestrichene Deckel von Einweggläsern, die mit Magnetstreifen von hinten beklebt sind und so an der Tafel haften (wer eine Magnettafel hat, braucht das nicht).
Die Faszination des Selbermachens
Dieses Rechenmaterial war und ist so motivierend, daß sich alle Kinder darauf stürzten (und es heute gegen Ende der zweiten Klasse immer noch tun), um damit Bilder an der Tafel zu gestalten. Mit entscheidend für den hohen Motivationsgehalt und die Identifikation mit IHREN Deckeln war und ist der Umstand, daß alle Kinder Deckel gesammelt, Magnete geklebt, Deckel gewaschen und bemalt haben. Zugegebener Maßen sind bei diesen Entwicklungen viele Anregungen aus dem Kutzer’schen Gedankengut eingeflossen. Was wir allerdings neu eingeführt haben (das ist auch dem stolzen Preis der Kutzer’schen Materialien zu verdanken), ist das aus den Zählkästen entstandene frei disponible Hunderterfeld, das freie Surfen im Hunderterfeld
Zwischen zwei Klassen (zunächst zwischen erster und zweiter, jetzt zwischen zweiter und dritter Klasse steht eine mobile Tafel mit zweimal hundert Milchflaschendeckeln, magnetbestückt und in der Innenfläche mit den Zahlen bis hundert beschrieben. Im offenen und jahrgangsübergreifenden Unterricht in beiden Klassen ziehen sich regelmäßig unregelmäßig verschiedene Kindergruppen aus dem Unterrichtsgeschehen in den Räumen zurück nach draußen an das Hunderterfeld und arbeiten teilweise bis zu zwei Schulstunden mit diesen Deckeln.
Lähmende Strukturvorgaben oder warum die meisten Rechenbücherecht fesselnd sind
Im Lauf zweier Jahre beobachteten wir die Kinder beim Surfen im Hunderterfeld immer möglichst nur aus den Augenwinkeln, im Vorübergehen, manchmal auch beim Mitsurfen. Die an der mobilen Tafel angebrachten engeren Strukturvorgaben schränkten die Kinder ein. Die mit Drahtgittern und befestigten Blechdeckeln vorgegebenen Muster und Zahlfolgen, der vorgegebene Zehneraufbau von links nach rechts oder von unten nach oben bzw. von oben nach unten, all dies hat die Kinder eher abgeschreckt. Angenommen wurde in der Regel die völlig leere Tafel, auf der die Kinder ihre eigenen Strukturvorstellungen entwickeln, ausprobieren, variieren konnten. Dort haben sie mit den Deckeln und den Zahlen gespielt und frei surfend das Hunderterfeld erforscht, entdeckt. (Dies ist kein Stabbrechen über vorgegebene Strukturen, an die sich Kinder auch gerne halten, oftmals auch halten müssen. Weniger weit entwickelte Kinder halten sich ja auch kopierend an die durch FrühstarterInnen vorentwickelten Strukturen. Aber es macht einen wesentlichen Unterschied, ob ein Kind vorgefertigte Strukturen nur noch kolloriren und füllen darf, oder ob es die Entwicklung der Strukturen miterlebt).
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