Hartmut Barth-Engelbart , Lehrer an der Gebeschusschule Hanau Mitarbeiter im Comenius/Sokrates-Projekt der Europäischen Union
Bericht zum Besuch an drei Amsterdamer Schulen
Zu den Einzugsgebieten der drei Amsterdamer Grundschulen
Bei allen drei Einzugsgebieten habe ich den Eindruck, daß die dortige Population weder mit der in London noch mit der in unseren beteiligten Schulen zu vergleichen ist.
Ohne genauer in die Strukturen Einblick genommen zu haben, schien mir die ethnische wie die soziale Mischung wesentlich günstiger als in den besuchten englischen und unseren Schulen.,d.h. es waren keine Ghettoschulen in ethnischer und sozialer Hinsicht. In den drei Amsterdamer Schulen gibt es nach meiner Beobachtung viele Kinder aus in die Mittelschicht aufgestiegenen Familien der verschiedensten ethnischen Gruppen.
Das Zusammenleben mit unterschiedlichsten ethnischen Gruppen ist schon lange holländische Normalität
Das Zusammenleben vieler ethnischer Gruppen scheint in Holland (wie auch in England) eine seit langer Zeit selbstverständlich praktizierte Angelegenheit zu sein. Das spiegelte sich m.E. im Umgang der SchülerInnen miteinander und im Umgang der Lehrerinnen mit den Kindern wieder. Eindrucksvollstes Beispiel war für mich der Vorlesewettbewerb, wo nicht der geringste Anschein von „Ausländerbonus“ bei der Beurteilung der Leistung und beim Umgang der LehrerInnen mit den SchülerInnen zu spüren war. Gleiche Situation in den Klassen. Bei der „eingeborenen Restbevölkerung“, wie ich sie spontan bei uns nennen würde, ist -soweit ich sie nach „zentraleuropäischem Aussehen“ und den Namen überhaupt identifizieren konnte- in den besuchten Amsterdamer Schulen im Gegensatz zu unseren nichts von einer Negativauslese zu bemerken.
Soziale Mischung in den Einzugsgebieten
Im Einzugsgebiet der drei Schulen sind anscheinend noch viele soziale Schichten bei der „eingeborenen Bevölkerung“ vertreten, was Integrationsbemühungen und rasche Fortschritte beim Schriftspracherwerb der nicht holländisch sprechenden SchülerInnen erleichtert.
Viele Gruppen sind bilingual
Weiterhin ist zur spezifisch holländischen Situation anzumerken, daß viele ethnische Gruppen aus den ehemaligen holländischen Kolonien kommen und dort schon mit Holländisch als Amtssprache konfrontiert waren, dort teilweise bilingual oder sogar mit Holländisch als Muttersprache aufgewachsen sind (vor allem Surinam, aber auch teilweise Indonesien) ((ähnliches gilt zum Teil auch für die SchülerInnen in London)).
Eine ähnliche Problemstellung ergibt sich in Holland bei den nicht aus dem ehemaligen Kolonialbereich kommenden Arbeitsimmigranten und politischen Flüchtlingen: den Türkischen und Kurdischen Familien, den Afrikanern, den Indern und Pakistani und den ostasiatischen Einwanderern. Hier ergeben sich wiederum andere Problemstellungen insofern, als relativ viele asiatische Einwanderer mittlerweile, bzw. schon seit etlichen Jahrzehnten und mehr sehr gut in die holländische Gesellschaft integriert sind.
Diese Eindrücke sind zugegebenermaßen sehr subjektiv, werden aber von etwas intimeren Kennern der Niederländischen Gesellschaftsformation weitgehend bestätigt.
Vernachlässigung der muttersprachlichen Kompetenz
Was ich in Holland (wie auch in den anderen beteiligten Ländern) als negativ bemerkt habe, ist die nicht genügend berücksichtigte und nicht genügend geförderte muttersprachliche Kompetenz der nicht die jeweilige Landes- als Muttersprache beherrschenden SchülerInnen. Zu diesem Problem habe ich bereits in den Berichten zum Besuch in London einige Ausführungen gemacht.
Auf dem Hintergrund der Eindrücke, die ich bei ausgedehnten Gängen durch die Ghettos in Amsterdam und auch in London gewonnen habe, bestätigt sich erstens meine Einschätzung, daß die von uns besuchten Schulen die weniger problematischen sind.
Identitätsverlust, Verelendung, Gefahr fundamentalistischer Radikalisierung
Besonders im Bereich um Skiphol, dem Amsterdamer Großflughafen, existieren Schulen und Vorschulen mit katastrophalen Bedingungen, was einerseits die Nicht-Integration in die holländische Gesellschaft und andererseits die Zerstörung der ethnisch-kulturellen Identität und als entscheidendes Moment eine in deutschen Großstädten bisher noch nicht so vorhandene Verarmung und Verelendung betrifft. Bedingungen, die -so fürchte ich- über kurz oder lang radikalisierten Fundamentalisten ethnisch-religiös-politischer Natur großen Zulauf bringen werden.
Hier sind Fragen der Schriftsprachvermittlung zunächst völlig sekundär, zumindest dem ersten Anschein nach. Tatsächlich sind aber solche Bevölkerungsschichten m.E. nur durch gleichzeitige soziale und identitätsstiftende Maßnahmen vor einem völligen Wegbrechen zu bewahren. D.h. u.a. Verbesserung des Wohnumfeldes, vorsichtiges Aufbrechen der Ghettos, Arbeitsbeschaffung im sozialen (und) Dienstleistungssektor, Ansiedlung von Handwerk und öffentlichen Werkstätten.
Das ist nicht unsere Aufgabe. O.k., aber die Alphabetisierung ist unser Job. Und hier muss die Grundsicherung in der muttersprachlichen Kompetenz bewerkstelligt werden, eine Aufgabe, die auch bei uns in Deutschland (in Hanau) stiefmütterlich betrieben wird.
Es reicht nicht aus, Lehrer einzustellen, die ihre pädagogisch-fachwissenschaftliche Qualifikation aus der Türkei mitgebracht haben, die in zahlreichen Fällen sehr fragwürdig, zumindest aber nicht auf die Problemstellung in den Einwanderungsländern ausgerichtet ist.
Notwendig ist die pädagogische Ausbildung von Einwandererkindern und -enkeln, die die Problematik des kulturellen Spagats am eigenen Leib erfahren haben. Hier sind die Engländer wie die Holländer (begünstigt durch ihre besseren auch historisch bedingten Optionen) wesentlich weiter als die Deutschen. (s.o.)
Kleinschrittiges Lehrgangslernen
Der strikt nach Lehrgängen (mit detaillierten Zentralvorgaben und landesweiter Evaluation) betriebene Schriftspracherwerb auf dem Hintergrund des angekoppelten Vorschullese- und Schreibtrainings verbunden mit Buchstaben- und Wortschatzerarbeitung in Fibelmanier mit diversen technischen bis High-Tech-Variationen lässt den Kindern wenig Raum, an den eigenen Interessen, Neigungen usw. selbständig zu lernen.
Verplanter Unterricht wenig selbstbestimmtes Lernen
Der Unterricht ist in höchstem Maß ge- und verplant, was sicher bei erreichten SchülerInnen zu schnellem Anhäufen von Kenntnissen und Fertigkeiten führen wird und bei starken Kindern das selbständige Erforschen, Probieren etc. nicht sonderlich stark behindert.
Ich habe den Eindruck, daß die Lehrkräfte die SchülerInnen stark im Griff haben, daß sehr früh trainierte Grenzen weitestgehend internalisiert sind, aber wenig Selbstregulierung passiert.
Insgesamt scheint in Amsterdam wie in London nur eine geringe Bereitschaft vorhanden zu sein, offenen Unterricht und tatsächlich freies Arbeiten zuzulassen. Ich glaube eher, daß ein solcher Unterricht bewusst nicht gemacht wird. Verstärkt hat sich dieser Eindruck durch Bemerkungen über die Unterrichtspraxis eines jüngeren Kollegen an der Schule bei Skiphol, der „meint, das Gras auf der anderen Straßenseite wäre besser“. Bei ihm hatte ich den Eindruck, daß er mit offeneren Unterrichtsangeboten arbeitet und deshalb bei der Schulleitung und dem Kollegium einen nicht so guten Stand hat.
Lernen nach Formeln und Rezepten
Es geschieht ein Lernen nach Formeln und festen Regeln, vergleichbar mit dem Rechnen an klassischen Haupt- und Realschulen in Deutschland. Ermutigt und gefördert wird weniger das selbständige Erforschen von Lösungswegen, als das Nachlernen bewährter und kanonisierter Rezepte.
Das alles meint nicht, daß es an Hanauer Schulen viel besser wäre, aber hier besteht in der pädagogischen Freiheit und der weiten Fassung der Rahmenpläne zumindest die Möglichkeit anderer Wege, die nur unterschiedlich intensiv genutzt werden.
Das äußerst diszipliniert kleinschrittige Lernen in den holländischen Schulen stranguliert für meine Begriffe kombiniert mit der relativen Unterdrückung der muttersprachlichen Fähigkeiten die Entwicklungspotenzen der Kinder trotz der gut organisierten Binnendifferenzierung, die lediglich die kleinschrittige Führung der Kinder auf verschiedenen Niveaus reproduziert. (Ähnliches gilt m.E. für die besuchten englischen Schulen, die jedoch mit wesentlich mehr „Werkstattmöglichkeiten“ und entsprechenden Selbständigkeitsoptionen ausgerüstet waren.)
Was mir gut gefallen hat, waren verschiedene Unterrichtsegmente im Bereich Mathematik, die sehr gezielt den kreativen Umgang mit Zahlen, Mengen, Strukturen trainiert haben. Ziemlich enttäuschend war die Demonstration neuer Mathematik in der Lehrerfortbildung.
Unter handelnd Rechnen verstehe ich etwas anderes, als das dort gezeigte, aber auch hier gilt, daß es an deutschen Schulen mitunter wesentlich düsterer aussieht.
Zum Schriftspracherwerb ist noch zu sagen, daß das Ansetzen an der Erfahrung, der Erlebniswelt der Kinder weder in London noch in Amsterdam richtig stattfindet. In beiden Städten tritt die Schriftsprache den Kindern als etwas von weit außen vor- und aufgesetztes gegenüber.
Es findet zu wenig die Verschriftlichung der eigenen Vorstellungen statt, der eigenen Sprache, des eigenen Dialektes und die Wörter und Texte sind m.E. zu wenig auf die Kinder bezogen.
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