Wie in deutschen Fibeln: die Herrschaft süßlicher „Kindgemäßheit“
Es herrscht im bearbeiteten Wortschatz eine auch in deutschen Schulen sattsam bekannte süßliche „Kindgemäßheit“ vor, in die sich jedes pädagogische Hasenherz gerne flüchtet, weil ihm einerseits der Zugang zu den tatsächlichen Verhältnissen der Kids fehlt, andererseits aber auch die Kenntnis der kindlichen Fluchtwelten. Es geht nicht darum, die Kinder mit der erlittenen Realität auch noch in der Schule totzuschlagen. Aber es gibt auch realistische schöne Geschichten, in denen sich die Kinder wiedererkennen.
Weniger existenzielle Ängste bei ethnischen Minderheiten
Der Schwerpunkt ‚Bildende Kunst‘ in der Notenknacker-Schule ist eine wunderschöne Angelegenheit, die wie bei vielen ähnlichen Projekten in deutschen Schulen etwas exotisch in der Umgebung wirkt, aber in Amsterdam und auch in London längst nicht so exotisch wie bei uns. Dort, in Amsterdam und London, sind solche kreativen Projekte wesentlich weniger Alibitrostpflästerchen als bei uns. Mir scheint, daß sich die kreativen Bereiche trotz der von mir konstatierten Exotik gut in die Gesamtatmosphäre der Schulen einpassen, eine Atmosphäre die Aufgehobensein der Kinder signalisiert. Selbst bei eventuell größerer Arbeitslosigkeit und Verelendung in den Einzugsgebieten oder den angrenzenden Vierteln, selbst bei vielleicht gleich harter Ignoranz gegenüber der jeweiligen ethnischen Identität hatte ich den Eindruck von Ruhe, mehr psychischer Ausgeglichenheit bei den Kindern. Ich habe lange gebraucht, bis ich dafür eine Erklärung gefunden habe.
Ich fand sie am 10. 12. 97 kurz vor Schulschluss, als eine Schülerin aus dem Schulchor mit ihrer Mutter seltsam ausdruckslos ins Sekretariat ging und genauso wieder heraus kam. Ich fragte sie, ob sie am Montag wieder zum Chor käme, Sie verneinte und sagte wir gehen weg. „Habt ihr jetzt eine neue Wohnung?“ Sie lächelt mich etwas verständnislos an und sagt: “ Nein, wir gehen zurück nach Sarajewo.“
Sensibelerweise frage ich sie, ob sie sich darauf freut.
Mit Tränen in den Augen antwortet sie :“Ja“ sonst nichts.
Es droht keine Abschiebung
IEinen Vorteil haben die Kinder in London und Amsterdam. Sie sind nicht einem preußischen Rechtsstaat ausgeliefert, der seine außen-, militär-, macht- und innenpolitischen Spiele mit ihnen betreibt,
sie sind nicht permanent von Abschiebung, sogenannter Duldung, nicht von andauernder Folter unterschiedlicher Intensität seitens deutscher Ämter und Behörden oder mit ihnen zusammenarbeitender Institutionen ihrer Herkunftsländer bedroht. Es gibt in London und Amsterdam im Vergleich zu Deutschland wesentlich weniger Ausländerfeindlichkeit, zumindest aber weniger pogromartige Gewaltaktionen und regierungsoffizielle Hetze gegen sie.
In London wie in Amsterdam stehen die ethnischen Gruppen erheblich weniger als Außenseiter da, sie sind z.T. Bürger der alten Kolonialgebiete und zumal als Commonwealth-Bürger haben sie die Britische Staatsangehörigkeit oder erhalten sie ziemlich problemlos.
Schriftspracherwerb mit Perspektive
Auf diesem Hintergrund fällt es den Kindern in Amsterdam und in London um einiges leichter, sich auf Schriftspracherwerb einzulassen. Dieser Erwerb hat für diese Kinder im Gegensatz zu den Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Afghanistan, aus Kurdistan usw. eine Perspektive.
Was mir in Hanau, besonders in der Gebeschusschule, aufgefallen ist, ist, daß Kinder aus Aussiedlerfamilien, auch aus Familien, in denen kein einziges deutsches Wort gesprochen wird, mit großem Tempo und großer Zuversicht relativ unabhängig von einzelnen Methoden Deutsch gelernt wird – mit entsprechender Ausstrahlung auf andere Fächer.
Die völlig unsichere Lage ist es, die große Teile der Flüchtlingskinder wort- und sprachlos macht. Die Kriegs- und Verfolgungstraumata im Kreuz, bekommen diese Kinder von der deutschen Gesellschaft noch einige andere Traumata angehängt und dabei noch bescheinigt, daß sie integrations-, lern- und sonst wie unwillig oder unfähig sind. Da wird Reichen nicht reichen und auch an der Fibel können sich diese Kinder nicht festhalten, wie unsereins in existenziellen Situationen am Katechismus. Offen gestanden ist mir in dieser Situation der gelehrte Streit zwischen den einzelnen Methoden etwas über. Ich habe jetzt schon zig Kinder beobachtet, denen trotz hoffnungsvollster Ansätze diese Lage das Kreuz gebrochen hat und es gibt unzählige, die gerade in dieser Prozedur stecken, ohne daß ich ihnen grundlegend helfen kann.
Um es im Bild auszudrücken, wir sorgen uns kreuzbrav um das richtige grob- und feinmotorische Packen der Schulranzen, während die Familien zu Tausenden bereits auf ihrem Notgepäck für die Fahrt in die Megakatastrophen sitzen ist in dieser Situation das Lesenlernen mit Hand und Fuß, mit Fibel oder mit Reichen motivierender?
Bevor wir also als deutsche beamtete Pädagogen den Mund vollnehmen, sollten wir uns vielleicht etwas mehr um unsere eigenen Hausaufgaben kümmern und die Lage der Kinder nicht nur durch Verteilen diverser methodisch-didaktischer Bonbons sondern politisch-sozial grundlegend verbessern helfen. Da haben wir erheblichen Nachholbedarf.
Dieser gesicherte Vorsprung ist m.E. ein wesentlicher Grund für die friedlich freundliche Atmosphäre an den besuchten Schulen. Diese Atmosphäre, soweit sie in zwei Tagen einzufangen war, ist es und die Ausstattung mit Lehr- und Lernmaterial und Technik, was den himmelweiten Unterschied zu den beteiligten deutschen Schulen ausmacht.
Wenig verbissene Konkurrenz…
Mir fiel auf, daß es wenig verbissene Konkurrenz zwischen den SchülerInnen gibt, eine höflich freundliche Haltung gegenüber den Lehrern und beiderseits relativ gleichbleibende Nähe und Distanz.
…in kleinen Klassen mit zwei Bezugspersonen und Sozialarbeitern
Entscheidende Grundlage für diese Atmosphäre ist neben der o.a. gesicherten Situation der SchülerInnen die personelle Ausstattung der Schulen, die geringen Klassengrößen, die häufige Doppelbesetzung, die Einbindung der Eltern in die aktive Schulgemeinde, die hohe Akzeptanz der Eltern gegenüber der Schule, die ein wesentlicher sozialer Mittelpunkt der Wohngebiete zu sein scheint. Mir scheinen die Schulen wesentlich organischer in das Netz der Nachbarschaftseinrichtungen integriert zu sein las dies in Deutschland der Fall ist.
Diese soziale Mittelpunktsfunktion der Schule scheint in Amsterdam möglich ohne die andauernde Belastung der Lehrkräfte mit Aufgaben, für die sie nicht ausgebildet sind.
Hier stellt sich für mich die Frage, in wie weit die Divergenzen bei den Modellen der Schriftsprachvermittlung eine wesentlich untergeordnete Rolle spielen. Ob schriftsprachliche Lernfortschritte im Wesentlichen zunächst durch das Aufgehoben sein in der Schul- und Klassengemeinde, durch stärkere Zuwendung, kontinuierliche und kalkulierbare positive soziale Kontakte, Familiensubstitution etc. besser ermöglicht und gefördert werden. Mir scheint das auf der Hand zu liegen.
Ich war nicht in der Lage innerhalb von zwei Tagen das Modell dieser Schulen bezüglich der „Zuwendungsorganisation“ zu erschließen. Mir scheint sie weniger familiär (mit allen positiven wie negativen Mutter/Vaterfixierungen) dafür mehr betriebsorganisatorisch/professionell/arbeitsteilig und für die Kinder so leichter durchschaubar und nachvollziehbar organisiert zu sein. Möglicherweise ist diese Organisation viel besser geeignet, selbständiges Lernen und Leben in der Schule zu unterstützen, zu initiieren. Mir scheint es in deutschen Grundschulen in der Regel den Versuch zu geben, Vater und Mutter zu ersetzen, tatsächliches Abnabeln dabei zu verhindern, aus dem Schuldgefühl heraus, daß man für die Kinder nicht genug tun kann. Wobei das andere Extrem auf den Fuß folgt, sich nicht mehr so stark auf die Kinder einzulassen, weil die Ersatz-Elternrolle mangels Zeit und Energie nicht eingehalten werden konnte. Das Hergeben von Kindern in Fördermaßnahmen kommt oft dem Eingeständnis des Versagens gleich. „Rabenmutter!“ (oder -vater!). Außerdem sind es meine Kinder, an die ich möglichst niemand anderen heranlassen will, auch, weil andere mein Versagen entdecken könnten.
Die rundherum qualifizierte Grundschullehrerin ist eine nicht realisierbare Fiktion, meist sind wir rundherum etwas anqualifiziert, merken, daß vieles notwendig ist, wir es aber nicht leisten können wegen der mangelnden Qualifikation, der mangelnden Energie und Zeit. Die Addition von unzureichender Qualifikation ergibt nicht automatisch eine zureichende.
(eine Chance ergäbe sich auf diesem Hintergrund lediglich durch eine erhebliche Verbesserung der quantitativen personellen Ausstattung der Schulen: mehr Zeit für die Kinder, mehr Zeit für Fortbildung und Professionalisierung in Teilbereichen).
Die Amsterdamer Schulen machten auf mich den Eindruck rundherum qualifizierter Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, wo sich ausgesuchte Qualifikationen bewusst und auch quantitativ ausreichend ergänzen und nicht die wahllose Addition von „guten Tanten“ oder „bösen Tanten“ einen Lehrkörper füllen, der dann schicksalhaft mal gut und mal schlecht sein kann.
Um diese Vermutungen zu verifizieren müsste ein längerer Austausch mit den betreffenden Schulen organisiert werden. Die tatsächlichen relevanten Unterschiede in der Organisation müssten herausgearbeitet und auf diesem Hintergrund mit verschiedenen Schriftsprachvermittlungsansätzen gearbeitet werden.
Ein wissenschaftlich einigermaßen seriöser Vergleich verschiedener Methoden der Schriftsprachvermittlung kann m.E. nur erfolgen, wenn die Bedingungen unter denen sie angewendet werden zumindest annähernd gleich sind.
Ich vermute, daß es organisatorische und Fragen der personellen und materiellen Kapazität sind, die den wesentlichen Unterschied ausmachen. Das gilt es zu überprüfen.
Dort: professionell koordiniertes soziales Zentrum
Hier: zusammengekürztes Flickwerk und Gschaftelhuberei
Die verschiedenen Teilfunktionen der Amsterdamer Schulen als soziale Zentren erscheinen mir professioneller und effektiver koordiniert und ebenfalls besser personell bestückt zu sein als das in Hanau und auch sonst wo in Deutschland der Fall ist, wo mit Flickwerk, unhaltbarer ehrenamtlicher und wenig professioneller Arbeit Selbstausbeutung betrieben und ein Alibi nach dem anderen produziert wird. Hier etwas Kirche, Caritas und Diakonie mit immer weniger Puste, da etwas IB, dort etwas Stadtteilkonferenz, daneben etwas Volkshochschule, manchmal Vereine, alle Schaltjahr der Landessportbund mit wenig Angebot aber um so mehr Plakaten und Terminen für die Selbstdarstellung in der Presse, viel Leerlauf, viel Neben- und Gegeneinander, ein wenig Gesundheitsamt, ein bißchen Jugendamt, viele Potemkinsche Dörfer, voluntaristische Kraftakte, einzelne Highlights, Schauveranstaltungen aber wenig kalkulierbare verlässliche Normalität. Noch fünfzigmal Schauturnen bis zur Landesgartenschau und danach ist der Lamboy wieder vergessen. Was bleibt, sind angesichts der Stellenstreichungen zum schlanken Staat frustrierte MitarbeiterInnen und buissiness as usual.
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