Sokrates-Projekt

Lesen durch Schreiben modifiziert nach Reichen

SchülerInnen aus Familien, in denen sich die Eltern und Geschwister aktiv mit den betreffenden Kindern auseinandersetzen, denen außer dem laufenden Fernseh- und Videoprogramm weitere Anregungen geboten werden, konnten nach einigen Schrecksekunden in Wochenlänge mit dieser Methode sehr schnell selbständig Schreiben und Lesen lernen und hatten dabei auch auffällig schnelle Lernfortschritte im Rechnen gemacht.

Es waren die in Mutter- wie in Zweitsprache eloquenten Kinder, die mit dieser Methode gut zurechtkamen und jetzt in der Anwendung große kreative Fähigkeiten entwickeln und bereits entwickelt haben.

Zur Vergleichbarkeit der methodisch-didaktischen Ansätze in London, Amsterdam und Hanau habe ich bereits einiges ausgeführt.
Für mich ergibt sich die Schwierigkeit des Vergleich aber schon in Hanau selbst, in meiner eigenen Praxis.
So habe ich in der Anne-Frank-Grundschule mit einer Mischung aus Fibel, „Lesen mit Hand und Fuß“ und selbst entwickelten Methoden und selbsterstelltem Material gearbeitet. Mein Unterricht war dort wie in der Gebeschusschule in der Regel ein sehr offener Angebotsunterricht, der schwerpunktmäßig auf die Bearbeitung der Erlebniswelt jedes einzelnen Kinder und der Kinder im Viertel angelegt war, mit dem Ziel des frühzeitigen kreativen Umgangs mit Sprache: Lieder texten, Reimspiele, Silbenverwechslung, Phonetisches Training, Lautdifferenzierung, Handel mit Buchstaben in einer Buchstabenbörse mit dem Ziel über Formanalyse zur Lautdifferenzierung zu kommen, Lautdifferenzierung dabei zu lernen, um dann, was den Kindern von vornherein als Auftrag und Angebot klar war mit synthetischer Methode Worte und Texte zu erstellen (mit ausgeschnittenen Buchstaben, mit der Produktion von Pappstempeln..) .
Hier lernten die Kinder, die sich an der Fibel festhalten wollten und mussten in allmählichem Übergang und parallel den kreativen Umgang mit Sprache und Schrift. Einige blieben lange Zeit beim Auswendiglernen der Fibel stehen und konnten so die Fibel „lesen“.

Kinder in äußerst schwieriger psychischer und sozialer Lage lernten lange Zeit mit der Fibel, rechneten gleichzeitig mit der Multiplikationstabelle, lernten das meiste auswendig. Einige davon bekamen im dritten und vierten Schuljahr ihren Kick und begannen selbständig zu schreiben: Geschichten, Gedichte, Briefe. Zum Teil haben sie in archaischen Formen damit bereits im ersten und im zweiten Schuljahr begonnen. Es war sehr schwierig unter der Bedingung der Alleinarbeit in der Klasse den Spagat zwischen den einzelnen Methoden stringent durchzuhalten. Ich habe es auch nicht geschafft. Die Kinder und ich standen im hartem Vergleichsdruck mit den anderen Klassen und der ärgwöhnischen Beobachtung durch die Kolleginnen. Nicht umsonst wurde nach meinem Weggang aus der Anne-Frank-Schule meine Klasse aufgelöst, wie es jetzt auch wieder nach meiner langen Erkrankung in der Gebeschusschule passiert ist.

Ich schwanke bei der Einschätzung der Arbeit in den beiden Klassen zwischen dem Vertrauen auf die von mir gewählten Methoden, die den Kindern erheblich mehr Zeit für die Entwicklung lassen müssen, der Erkenntnis, daß diese Methoden wesentlich mehr Personal brauchen und daß ich es mit diesen Methoden nicht schaffen konnte und es so besser war, die Klassen aufzulösen und die Kinder in anderen Klassen anders lernen zu lassen. Andererseits sehe ich bei einer Zahl von Kindern, daß mit meiner Arbeit ein guter Grundsockel von Selbstbewusstsein und kreativer Arbeitshaltung geschaffen wurde, von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die keinen Vergleich scheuen müssen.
Das größte Sorgenkind aus der Anne-Frank-Schule, das schon für die Sonderschule vorgesehen war, bevor ich es übernahm, besucht mittlerweile das Gymnasium. Eine Reihe von Kindern aus meiner Gebeschus-Klasse befindet sich in den Leistungsspitzen der jetzigen Klassen, einige werden dagegen wahrscheinlich jetzt nicht versetzt, mussten zurückgestuft werden. Ich hatte sie nicht zurückgestuft, weil ich mit weiteren Entwicklungsschüben rechnete, die sich in der Arbeit in der Klasse bereits abzeichneten. Unter anderen Voraussetzungen in den Klassen meiner „Nachfolger“ sind dies vorsichtigen Ansätze zunächst wieder verschwunden, oder wurden nicht wahrgenommen. Sie waren auf jeden Fall noch nicht so weit und stark, daß sie sich unter der Bedingung härterer Leistungsanforderungen und Konkurrenzen hätten behaupten können.

Jeder hat seine persönlichen pädagogischen Erfolge und lügt sich dabei mehr oder weniger in die eigene Tasche.
Möglich ist durchaus, daß nicht meine Arbeit ursächlich für die Entwicklung der Kinder war, ich halte es für eher wahrscheinlich, daß die häuslich-sozialen und sozialpsychologischen Konstellationen entscheidend für die Entwicklung sind.
Das Sorgenkind aus der Anne-Frank-Schule ist in der Auseinandersetzung mit seiner Lage nicht zusammengebrochen, sondern erstarkt (zumindest bis jetzt). Was ich eventuell geleistet habe, ist, daß das Kind nicht weiter stigmatisiert, nicht abgeschoben wurde. Ich habe für dieses Kind viel Zeit und Geduld aufgebracht und nicht nur für dieses. Bei manchen war die Marginalisierung schon so weit fortgeschritten, daß sie noch Jahre gebraucht hätten, um sich aufzubauen, im kreativen, im sozialen Bereich, um sich langsam an die „Kulturtechniken“ heranzumachen. Wieder einige haben mit eisernem Festhalten an der Fibel tiefe familiäre Krisen überwunden und sich so weiterentwickelt, andere sind wiederum gescheitert, weil meine Zuwendung und die anderer nicht ausgereicht hat, weil die Krisen zu tief waren.
Wiederum andere sind in ihrer formalen Leistung stecken geblieben, schaffen die Haupt- und die Realschule und bleiben damit weit unter ihren Möglichkeiten.

Die Variablen in einer Schule, in einer Klasse sind so verschieden, daß mir eine Entscheidung für eine bestimmte Methode des Schriftspracherwerbs schwerfällt. Die Reichensche Methode erscheint mir noch am ehesten den Kindern die Möglichkeit zu geben, zu lernen, sich sehr schnell selbständig schriftlich auszudrücken, nur muss es da etwas geben, was ausgedrückt werden kann, die Kinder brauchen Zeit, es zu finden, sich zu finden, sich zu werden. Dieser Prozess ist sehr unterschiedlich im Tempo, er ist auch unterschiedlich was die Eignung der Medien betrifft.

Und wenn in der Schule die „Kulturtechniken“ am höchsten in der Wertigkeitsskala stehen, scheiden oftmals andere Techniken und Medien für die Kinder aus, obwohl sie besser geeignet wären.

Sehr schnell geht es bei Kindern, die sich auch von anderen Methoden nicht hindern lassen würden. Die bräuchten eigentlich überhaupt nicht in diese Schule gehen.

Es muss Zeit sein, mit den Kindern an ernsthaften Gegenständen, Projekten zu arbeiten, bei denen sie die Notwendigkeit und Nützlichkeit der verschiedenen Kulturtechniken erfahren. Die Schrift ist auch nicht von der Menschheit als Selbstzweck erfunden worden, wenn es den menschlichen Zwecken besser gedient hätte nur in verschiedenen Tonlagen zu rülpsen, hatte die Menschheit das Rülpsen kultiviert. Es würde heute eventuell in der Grundschule gelehrt. Die Schule müsste eigentlich eine permanente anthropologische Wiederholungstat sein. Die Zwecke standen im Fordergrund, die Schrift hatte eine dienende Funktion.

In ein er Gesellschaft, die zunehmend weniger schreibt, fällt das Schreibenlernen um so schwerer. Bezeichnender weise sind die meisten Arbeitsblätter vorgedruckt und das Schreiben in der Schule kommt bei Lehrern (in Gegenwart der Kinder) immer weniger vor, es sei denn als pädagogisches aber für den Arbeitsablauf der Erwachsenen nicht weswesentliches Phänomen. Hoffnung besteht vielleicht bei der Einführung der Computer. Aber Handschrift ist für die Kids eigentlich out.

Kinder lernen von Vorbildern. In Familien, wo nicht geschrieben, nicht gelesen, nicht diskutiert wird, können die Kinder diese Techniken nicht lernen. Wenn sich die Familien immer weiter auflösen und die Erziehung der Kinder nicht mehr ausreichend leisten können, muss ein Ersatz geschaffen werden.

Reichen nur für sich, ohne einen offenen Unterricht, der lernen durch existentielles Erfahren ermöglicht, ist mehr oder weniger genauso gut, wie jede andere Methode, die den Kindern das Schreiben als etwas Äußerliches beibringt. Schreiben ohne Übung geht nicht, aber der Kern des Unterrichts muss die existentielle Erfahrung sein. Sonst lernen die Kinder viel mehr das, was sie in wirklich existentiellen Situationen außerhalb der Schule erleben.
Und das ist von ihrer sozialen Lage abhängig.
Einen solchen Unterricht kann man in deutschen aber auch in anderen europäischen Schulen nur schwer realisieren, am besten noch da, wo die Schule als tendenzielle Ganztagseinrichtung in den Mittelpunkt des Kinderlebens rückt, wo sich aus dieser Organisation auch ernsthafte Pflichten (nicht nur als pädagogische Sanktionen oder Kunstveranstaltungen) ergeben.

Vielleicht kann man bis zu einem bestimmten Grad über verschiedene Methoden urteilen.
Ohne die Klärung der Prämissen lässt sich jedoch jede Einschätzung m.E. in ihr Gegenteil verkehren. Wer die Rahmenbedingungen für die Kinder (und ihre Eltern, und auch die Lehrerinnen) nicht verbessert, kann alle vier Jahre eine neue Methode ausprobieren. Unterm Strich wird das gleiche Ergebnis herauskommen. Mit Jahrgangsweise schwankenden Erfolgsprozenten, die sich landesweit und europaweit statistisch ausgleichen.

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