Die deutsche Nachkriegs-Sozialdemokratie hatte immer einen Januskopf, zwei Gesichter. Manche behaupten es seien zwei Flügel. Sei’s drum. Ein Janus- oder Doppelkopf ist wohlbekannt: Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine. Die regional-lokale Version dieser Zwiegesichtigkeit ist/war zwischen Maintal und Schlüchtern, zwischen EZBankfurt-Ost und Fulda-Süd das ungleiche SPD-„Bruderpaar“ Rainer Krätschmer und Sepp Sigulla. Noch kurz vor Sepp Sigullas Tod hat Rainer Krätschmer dabei geholfen, den unermüdlich außerparlamentarisch opponierend zwischenrufenden DGB-Kreisvorsitzenden, das linke SPD-Gewissen & -Urgestein Sigulla aus einer Kreistagssitzung entfernen zu lassen. („Da müsst ihr schon die Polizei holen, um mich hier rauszukriegen!“: Sepp Sigulla zu Rainer Krätschmer). Sie waren nicht nur Partei-„Brüder“, sie kamen auch aus der gleichen Gegend in der Tschechoslowakei. Aber dazu erst später…
Was ich zu Rainer Krätschmer zu sagen HaBE ist Klartext. Wir haben immer auf Augenhöhe miteinander gesprochen, er als Fraktionschef der SPD und ich als der der damals noch halbwegs linken & grünen GRÜNEN im Kreistag des Main-Kinzig-Kreises.
Mein Nachruf auf den „Kennedy von Flörsbachtal“, beginnt sowohl für den Rufer als auch für den Nachgerufenen als Nichtsportler etwas außergewöhnlich im Bereich der Spitzen- und Leistungssports:
Das Bild unten zeigt nicht etwa den verstorbenen Rainer Kretschmer, auch nicht Charly Eyerkaufer aus der BRD beim Start zur Entscheidung über die 1.500 Meter bei der Europameisterschaft 1966 in Budapest. Es zeigt auch nicht den zweiten damaligen 1.500 Meter Weltstar und 1.000 Meter-Weltrekordler Jürgen May aus der DDR.
Was die beiden Bilder mit Rainer Krätschmer zu tun haben, soll im Folgenden geklärt werden.
Der Kennedy von Flörsbachtal, HaBEs Nachruf auf Rainer Krätschmer
Wie weit ist es von Wächtersdorf nach Wächtersbach? Die Reise dauerte für Rainer Krätschmer 45 Jahre. Wann und in welchem Alter er Wächtersdorf in Richtung Wächtersbach tatsächlich verließ, darüber hat er mir nichts verraten. Noch nicht einmal, dass er aus dem Sudetenland kam. Ich schätze, es war so um 1947/48, als nach den Verbrechen der deutschen Faschisten in der Tschechoslowakei, den Massenmorden an über 350.000 Tschechen, den Massakern von Lidice, Lezaky und Prag 2,6 Millionen alteingesessene deutschsprachige Tschechen und die von den NAZIS nach 1938 neu angesiedelten „Reichsdeutschen“ die Tschechoslowakei nach dem Benesch-Dekret verlassen mussten. Rainer Krätschmer durfte zu Beginn dieser Abschiebungs-„Wanderung“ gerade erst richtig Laufen gelernt haben.
https://www.waechtersbach-online.de/news/index.php?rubrik=1&news=162823
https://de.wikipedia.org/wiki/Bene%C5%A1-Dekrete
Wollte er mir das etwa verschweigen, weil er dachte, ich als Linker hätte etwas gegen Sudetendeutsche, ich hätte sie alle im Generalverdacht der Henlein-Landsmannschaftelhuberei? Das bleibt jetzt leider unbeantwortet. Auch die Frage, ob er aus einer „sozialdemokratischen“ oder gar „kommunistischen“ sudentendeutschen Familie stammte. Dabei hätte ich mich gerade darüber mit ihm gerne unterhalten, denn ich kenne derer sehr viele, Sepp Sigulla zum Beispiel oder den Betriebsratsvorsitzenden der Michelstädter Eisengießerei Mühlhäuser, den IG-Metall-Kollegen Wohlrab, der seine politisch-gewerkschaftliche Einstellung verschwieg und deshalb auch zusammen mit anderen sudetendeutschen Flüchtlingen als Ersatz für Zwangsarbeiter als Billigarbeiter eingestellt wurde. Der ließ zunächst auch die Lohnverhandlungen vom katholischen Pfarrer führen, so wie das auch im Ex-NS-Musterbetrieb Koziol geschah. Der göttlicher Tarif-Hungerlohn war dann auch mehr ein VerGELDs-Gott. In der irrigen Annahme, alle Sudetendeutschen stünden politisch rechts neben der CDU, wurden die Flüchtlinge gezielt dort angesiedelt, wo man damit sozialdemokratische und kommunistische Mehrheiten meinte kippen zu können. Und die SPDler und KPDler sorgten auch selbst dafür. Ortschaften mit linken Mehrheiten zeigten sich gegenüber den Flüchtlingen und Vertriebenen wesentlich solidarischer, hilfsbereiter als ehemalige NSDAP- und dann BHE-CDU-Hochburgen …. Wenn er nicht schon als Baby mit sozialdemokratischer Muttermilch gestillt wurde, muss er doch spätestens in der auslaufenden Pubertät den rechten Weg nach linksoben gefunden haben, denn sonst wäre er nicht 1972 als SPD-Kandidat im damals noch selbständigen Meerholz, dem heutigen Gelnhausener Stadtteil Hailer-Meerholz, zum jüngsten Bürgermeister Hessens gewählt worden.
Als mit der Gebietsreform dieser Job wegrationalisiert wurde, wurden rundherum Großgemeinden gegründet und damit neue Bürgermeister gesucht. Rainer und sonst keiner schaffte es auf Anhieb zum Bürgermeister der kleinsten Großgemeinde Hessens im tief katholischen Notstandsgebiet an der bayrischen Grenze: in Flörsbachtal.
Hier verdiente er sich als entscheidungsfreudiger, wagemutiger Strippenzieher, Antichambreur und Charmeur seinen Spitznamen „Kennedy von Flörsbachtal“.
Freibad, Langlaufloipen, Mittelpunktschule, Lehrerakquisition, Lehrerwohnungsbeschaffung, (die er im Gegensatz zu seinem Lehrmeister und anfänglichem Leitbild MKK-Landrat Martin Woytal nicht zur Zweit-, Dritt- und Viertfrauen Beschaffung nutzte), DGB-Jugendzeltlager, Festivals, Flörsbachtaler Kulturwochen, ….
(vom segensreichen Wirken des späteren HL-Immobilien-Maklers Woytal können GRÜNE Großväter noch viele Klagelieder singen. Man sollte dazu Lesungs- und Liederabende organisieren :-0)))))
Zurück zu Rainer Kretschmer:
Es gab in dieser Zeit und dieser Region keine Anzeigenblatt-Ausgabe ohne ein Bild vom „Kennedy“ mit Landrat, Land- und Bundestagsabgeordneten, Minister/innen, Kulturpreisträger/innen, beim Grundsteinelegen, Richtfestefeiern, Einweihungen, Schul- und Feuerwehrfesten … Arbeitsessen mit Unternehmern und ihren Verbänden … seit „Kennedy“ in Flörsbachtal als Chef im Rathaus saß, florierte der Fremdenverkehr, die regionale Kulturszene, nur kam dann PUMA doch nicht nach Flörsbachtal sondern blieb im bayrischen Partenstein. „Charly“ hatte es zwar versprochen, den ADIDAS-Konkurrenten Rudolf Dassler rumzukriegen, doch dann hatte Eyerkaufer, der PUMA-Vertreter es verdasselt. Und das hat ihm Rainer Krätschmer nicht vergessen.
Rainer Krätschmer, ein lupenrainer Macht-Pragmatiker
Keiner macht große Brötchen ohne Macht. Macht war nicht (nur) Selbstzweck für Rainer Krätschmer. Ohne ihn hätte die Messe-Weltstadt Wächtersbach heute keinen der modernsten Bahnhöfe zwischen Frankfurt und Fulda, wahrscheinlich auch keinen GLOBUS-Weltmarkt, keine so gut funktionierende Kleinkunstszene, auch kein vor dem Abriss gerettetes Schloss -….
Hätte er den Job noch bis in die 85 weiter geMACHT, wäre Wächtersbach auch noch ICE-Haltepunkt geworden …
Aber noch sind wir mit Rainer Krätschmer in Flörsbachtal.
Er mischte überall mit: bei grün-alternativen Festivals auf dem Gelände der Schinderhannes-Kneipe „Ziegelhütte“; bewegte sich, als ob ers immer täte, zwischen Bodyguards leibhaftiger Minister durch die Ausstellungen der Flörsbachtaler Kulturwochen und Außenstehende hatten immer den Eindruck, er sei der beschützte Minister…
Schön war auch Rainer Krätschmers Regie bei einer meiner Lesungen in Flörsbachtal: Kultur- & Wissenschaftsministerin Vera Rüdiger (lange bevor sie zur Ministerin fütr Europa-Angelegenheiten mutierte) und ihr Chauffeurs- & Body-Guard-Troß lauschten meinen Polemen und Liedern … Rainer wurde es zu politisch-links und zu lange. Er schlich sich an mich heran und flüsterte mir während des Vortrags ins Ohr: „Kannst Du das jetzt Mal etwas abkürzen?!“ Painlich für Rainer: Vera Rüdiger hatte es gehört und forderte ihn auf, mich nicht zu unterbrechen …
Böse Zungen im benachbarten schwarzen Jossgrund berichteten, dass nach einigen Jahren im Notstandsgebiet Rainers Gattin zum Aufstieg drängte: „Rainer, Du bist zu Höherem geboren als nur in diesem KuhKaff zu versauern!“ so oder so ähnlich soll sie sich geäußert haben und das nicht nur im ehelichen Schlafzimmer.
Rainer Krätschmer als Mehrheitsbeschaffer für Landrat Karl Eyerkaufer
Ich HaBE sie noch im Keller stehen, die Flasche ungarischen Rotweines, die mir Rainer Krätschmer aus der Partnerstadt des Main-Kinzig-Kreises einige Wochen vor der Abwahl des CDU-Landrates Rüger nach Hause brachte. Ab und an kam er auch mit Südfrüchten in Niedermittlau vorbei, um sie unseren WG-Kindern unter den Tisch zu reichen, wohin sie sich vor dem Flörsbachtaler Wirbelwind geflüchtet hatten….
Diese Oral-History wird gelegentlich fortgesetzt. mit u.a. diesen Kapiteln:
Rainer Krätschmer konnte auch gut Feilschen : Nach Tschernobyl 50.000 DM für Milchpulver für Kleinkinder und Schwangere!, forderten die damals linken Grünen. Die schwarz-rosa-gelbe Main-Kinzig-Kreistags-Mehrheit wollte als Erstes 50.000 DM für Gemüsebauern lockermachen! Als Grüne-Fraktions-Chef drohte ich mit Nichtwahl Eyerkaufers, wenn die 50.000 für Trockenmilch nicht beschlossen würden. Kretschmer bot zunächst 20.000 für die Trockenmilch, …“aber dann wählt ihr auch den Charly!“ ….
steigerte sich nach Rücksprache mit den Vorderbänklern der SPD auf 25.000,- DM.
Zähneknirschend landete er dann doch bei 50.000,- DM.
Die Trockenmilch für 50.000 DM hatte noch bittere Folgen für Rainer Krätschmer, ddie der FDPler und Heraeus-Spitzenkraft Dr. Morlock besorgte … (Das kann man heute noch bei SPON nachlesen).
Rainer und die Rache des kleinen Mannes:
ein rotgrünes PUMA-T-Shirt für den frisch gekürten Landrat Eyerkaufer … Bernd Reuter ist an Eyerkaufer vorbei in den Bundestag gezogen, Eyerkaufer ist an Krätschmer vorbei ins Landratsamt gezogen. Martin Woytal stieg auf zum Immobilien-Manager der REWE-Vorfeld-Organisationen HL und Penny – Spötter nannten den politischen Ziehvater des Eyerkaufer-Nachfolgers Erich Pipa nur noch „die Abrissbirne“, weil er viele hessische Dörfer und Kleinstädte mit Einkaufs-Centern verschönerte, so zum Beispiel im Hanauer Stadtteil Mittelbuchen, wo er die historische Gaststätte „Zur Krone“ abreißen ließ.
Wohin sollte der Kennedy vom Flörsbachtal noch ziehen ?
Nun, von Wächtersdorf nach Wächtersbach! Als Heldmann-Nachfolger mitten zwischen Wächtersbacher-Schloss-Pils, Ysenburg-Wächtersbacher Steingut – und Porzellan-Manufaktur (die nach 1989 volksenteignete in Lichte), Süddeutscher Feinmechanik, fürstlicher Möbelfabrik (Eisenhammer), der Lochkarten-Fabrik der Gebrüder Adt …., der Mitteldeutschen Hartstein-Industrie (MHI-Ex-Hermann-Göring-Werke) ….
Jürgen May, der schönste Mann im MKK, mindestens aber im Landratsamt, hatte mit der Kür Charly Eyerkaufers zum Landrat ausgesorgt, Sport und Kulturdezernent mit Dienstwagen, einem flotten tiefergelegten höherklassigen BMW.
Ja, ja ich weiß, es gibt viel Wichtigeres
Wichtigeres? Wer die Dörfer nicht gewinnt, wird die Städte verlieren.
Als die USAREUR Wächtersbach besetzen wollte, war Rainer Krätschmer noch nicht der Messe-Weltstadt-Bürgermeister. Da war der Heldmann noch dran. Aber Rainer Krätschmers Freund und Konkurrent Erich Pipa hat entscheidend dabei geholfen, diese Besatzung zu verhindern … und Rainer Krätschmer hat ihn dabei unterstützt … Leider kam bei dieser Gelegenheit nur Erich Pipa, der Baudezernent des Main-Kinzig-Kreises in der Hessenschau zu Wort. Der erste Beigeordnete an der Seite Charly Eyerkaufers und spätere Landrat Erich Pipa, der politische Ziehsohn Martin Woytals punktete in der SPDinternen Konkurrenz um die Eyerkaufer-Nachfolger. Es wurde ausführlich aus der „Neuen Hanauer Zeitung“ (nhz) zitiert, die den US-Überfall auf Wächtersbach, Bad Orb und Schlüchtern hauptsächlich verhindert hat. Doch zwischen Dietmar Schönherr und Ernesto Cardenal, die den Überfall der gleichen US-Einheit auf Nicaragua zusammen mit der nhz zeitgleich verhinderten, wurde Rainer Krätschmer mit keinem Ton erwähnt.
Aber immerhin war er nicht wie sein Parteifreund, der Landtagsabgeordnete und ministerialverdächtige Jurist Lothar Klemm auf die USAREUR-Manöver reingefallen …
Er hat immer wacker dagegen gekämpft, dass US-Panzer die Langlaufloipen im Ostkreis zerfurchen und Tiefflieger der Touristen Waldeslust stören.
Meine Güte, Hartmut – in der Politik hast du dich auch getummelt. Wieviel Leben hast du eigentlich hinter dir? Blicke überhaupt nicht mehr durch. Aber deine Geschichten sans alleweil spannend.
Aber ich frage mich, wie riesig deine Archive sein müssen und wie zum Teufel du da durchfindest. Denn so einen großen Bordkomputer kannst du doch nicht HABEn.
Ciao
Einar