Beim Auszug aus dem alten neobarocken Frankfurter Polizeipräsidium in der Friedrich-Ebert-Anlage tauchten leider nicht die unerklärlicher Weise verschwundenen Beweismittel im Falle Nitribitt auf, also Rosemaries Notizbuch, die Tonbandspule mit den Aufnahmen ihrer letzten prominenten Besucher … Die Nitribitt hatte sich selbständig gemacht und arbeitete auf eigene Rechnung und eigenes Risiko. Sie meinte selbst abschöpfen zu können statt nur abgeschöpft zu werden. Deshalb lies die Chefin des Frankfurter Rotlichtviertels „Breite Gasse“, die Witwe des Frankfurter Unterwelt-Königs „Stalin“ sie nicht länger schützen. Auch die Verbnehmungsprotokolle „Breite Gasse“ wurden nicht wieder gefunden. Vermutlich enthielten sie zu viele brisante Aussagen über die Nitribitt-Kunden. Denn Margarete, „Stalins“ Witwe ließ Rosemarie Nitribitts „Ein-Frau-Betrieb“ noch bis 1956 beobachten und versuchte auch weiter sie „anzuzapfen“.
Dafür fand man aber in den Untiefen des Archivs der politischen Polizei (18.K) beschlagnahmte Notizen zum Fall des 1973 im Hinterhof einer besetzten Westend-Villa erschlagenen Polizei-Hauptkommissars Karl-Wilhelm-Friedrich Finkh (K2EFF). Der polizeiintern auch als „Schmutzfink“ gemobbte Chef einer geheimen Sondereinheit wurde von etlichen Kollegen verdächtigt, ein Nummernkonto in der Schweiz mit „Kolateral“-Ermittlungs-Ergebnissen aufzufüllen. (Die Sondereinheit „Sauberes Frankfurt“ existierte bereits seit den 1920er Jahren und hatte den Spitznamen „Putztruppe“)
Hier Auszüge aus den Unterlagen: Aufzeichnungen von Zeugen und einiger im Rahmen der Aufklärung als der Tatbeteiligung verdächtigt vorübergehend Festgenommener; Fotos, Propagandamaterial, Plakate, Informationen, geständnisähnliche Niederschriften usw. … bisher weitgehend unbearbeitetes Material:
siehe auch dazu : 1973: Hauptkommissar Finkh in Frankfurt ermordet. Die „Putztruppen“-Mordsgeschichte 1968-2008/18
1973: Hauptkommissar Finkh in Frankfurt ermordet. Die „Putztruppen“-Mordsgeschichte 1968-2008/18
“ ….. Hannes (Schwarzmüller) plante und dachte in Jahrzehnten. Manchmal erschien es Karl, als dachte der in Jahrhunderten. Oder wie Schorsch Füllberth in Jahrtausenden. Sie kennen Schorsch Füllberth nicht ? Macht nichts. Oder doch. Hannes und Schorsch müssen sich gekannt haben und um Hannes zu verstehen, muss man Schorsch Füllberth kennen oder kennenlernen. Hannes Schwarzmüller war auf den Spuren der 1848 und der Badischen Reichsverfassungskampagne zur Rettung der ersten deutschen Demokratie von Karlsruhe kommend an Waaghäusel vorbei, Rastatt im Rücken, Heidelberg überspringend, mit kurzem Aufenthalt in Neckarsteinach durch den Odenwald auch auf Neustadt gestoßen, jener ersten Wirkungsstätte Füllberths, wo der sich in popeligen Fragen der Lokalpolitik, Maikundgebungen und Ostermärschen, Streiks und Flugblattverleilung und was sonst so alles dazugehörte seit den 50er Jahren ausprobierte. Neustadt an der Saale, am weißen Main, in der Pfalz –an der Weinstraße? Neustädte gibt’s wie Sand am Meer. Na ja, Wein hat es hier auch gegeben , am Südhang des Breuberges, ein paar Steinwürfe waren es von hier bis nach Main-Franken. Doch der nördliche Odenwald war noch nicht weit genug zu den offenen Sonnentälern Main-Frankens hin geöffnet. Gerade diese erste Enge im Tal der Mümling, von Süden kommend kurz vor der Mündung in der Main, wo man heute am Rande Obernburgs das Pompei des Nordens ausgräbt, machte die strategische Bedeutung der Breuburg aus. Nein, Neustadt am Fuße der Breuburg, dieses Raubritternests oberhalb der Mümling. Da schmeckte der Wein bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erst nach heftiger Zuckerzugabe, nach dem Verschnitt mit Met, der preisgünstiger war als der teure Kristallzucker, zu teuer, selbst wenn er aus den Runkelrüben, den Zuckerrüben der Wetterau und des Rheinischen Rieds und dem Gersprenztal raffiniert war. Rüben hatte die Oberzent des hessischen Odenwaldes zwar noch mehr zu bieten als die Unterzent, das Land um den Unterlauf der Mümling, aber das reichte bei Weitem für das Zuckerraffinieren, für den Markt nicht aus. Höchstens für den Hausgebrauch. Mit Met war die Gegend schon besser gesegnet. Aus Wild- und Zuchtbienenbeständen. Vielleicht stammte der Name der Breuberges ja auch von diesem sagenumwobenen Gebräu? Wer weiß ? Schorsch mit Sicherheit, der wüßte so was. Von dem wusste Hannes ja auch, dass man von der Breuburg aus den Handelsweg zu Land und den zu Wasser entlang der bis tief in den Odenwald schiffbargemachten Mümling überwachen konnte. Die Mümling , dieser bei Obernburg südlich von Aschaffenburg in den Main mündende Fluss. Stellenweise war es wohl eher ein Bach. Was wollten da Raubritter schon überwachen ? Welche ahnungslosen Desperados aus dem Hochadel hatten schon Interesse an diesem wüsten Urwald.? Oho! Nur Mal langsam mit den Vorurteilen, die schon seit Varus Zeiten über den Odenwald verbreitet wurden. Hier gab es weite Flächen für den Anbau eines Stoffes, ohne den die Mainischen Klöster nicht überlebensfähig waren: Gerste in Hülle und Fülle. Für den Weizen war das Klima zu hart. Aber Gerste, Gerste, Gerste. Gerste war neben dem Grubenholz deeeer Exportschlager des Odenwaldes, sah man von der Heimarbeit der Textil- Verlagswirtschaft mal ab, mit der sich die Mondscheinbauern ein unverzichtbares Zubrot verdienten. Nach der Knochenarbeit wie die Ochsen im Joch auf schwerstem Boden – schuffteten meist die Frauen und Kinder die Nächte durch bei Kerzenlicht. Vorprodukte für de Textilindustrie in Aschaffenburg, Hanau, Darmstadt, Frankfurt, Wiesbaden und Mainz, kleinere Lieferungen gingen an die Textilunternehmen im Mümlingtal, an die Tuchfabrik Arzt in Michelstadt
Deshalb wurde im Odenwald neben Gerste auch Flachs angebaut, bis die Kleinbauern aus dem Markt flogen, weil sie den Industrieflachs an die Veith-Reifenwerke bei Strafe des Verhungerns nicht billiger liefern konnten als die Konkurrenz der Großagrarier. Verhungern- so oder so. Die Hallen der Kautschuk- und chemischen Industriebetriebe zwischen Mainz und Aschaffenburg, Mannheim und Frankfurt füllten sich mit verschuldeten Kleinbauern vom Taunus, der Eifel, dem Vogelsberg, dem Spessart und dem Odenwald und mit Gottes Segen und Bischöflicher Weihe wanderten auch die Bauern der Rhön nach Fulda in die Reifenwerke.
Der Gerstenberger baute auch Flachs an, dazu musste man nicht erst ins fränkische Flachslanden.
Und der Abtransport ? Dafür sorgte ab 1866 die Odenwaldbahn noch bevor die Preußen auch Hessen-Darmstadt 1871 übernahmen. Das war jetzt nicht gerade so, dass die Bahn für die Menschen gebaut wurde, die im Odenwald keinen Broterwerb mehr fanden. Nein, die Bahnhöfe waren immer in der Nähe der fürstlichen, gräflichen Grubenholzbestände, sie lagen meist weit ab der Ortschaften und besonders Schulkinder konnten davon ein Klagelied singen, wenn sie es über die Dorfschule hinaus gepackt hatten in Resalschulen und in die dünngesäten Odenwälder Gymnasien: ..aber das waren zum Glück nicht so viele.
Carlos war mächtig beeindruckt. Wenn er Hannes zuhörte, war das manchmal schon in etwa so wie die Reaktion eines Bauern beim ersten Anblick der Guttenberg-Bibel: die Buchstaben konnte er zwar immer noch nicht entziffern, aber die Bilder und dass da die Geschichte nicht auf Lateinisch sondern in seiner Sprache, naja, fast in seiner Spreche geschrieben stand . Jetzt musste er nur noch Hochdeutsch lesen und Schreiben lernen.
Beruhigend für Carlos war es , dass man nicht so allwissend geboren sein musste, wie es bei Hannes den Anschein hatte. Hannes hatte es auch erst gelernt, hatte es von Schorsch Füllberth erfahren und von seinen Eltern, hat viel gelesen … so etwas war eventuell aufzuholen…
In Frankfurt waren solche Wissensgefälle überall zu spüren. Da war es Gang und Gäbe, dass man sich in Bibliotheken und Museen schlau machte. Und Carlos war eifrig dabei, aufzuholen. Nicht nur, um einfach nur mithalten zu können, Eindruck zu schinden, wo die anderen wie selbstverständlich auf Geschichtsdaten herumklimmperten, als sei es ihnen mit der Muttermilch eingeflöst worden.
Hannes hatte bereits vom „Roten Turm“ aus in Karlsruhe recherchiert, bevor er nach Frankfurt kam. Er wußte schon vor seinem Einzug in die WWG in der Uhlandstraße, was ihn dort erwarten würde.
Er kannte Finkh zwar damals noch nicht persönlich, doch er hatte Fotos von ihm gesehen und war so auf sein Erscheinen in der Uhlandkommune vorbereitet. So kannte er auch Vogel, Loos und die anderen aus der Putztruppe. Der Bundesvorstand der sozialistischen Schüler hatte an die einzelnen Schülergruppen von allen bekannten Figuren der politischen Polizei Fotos verschickt
Nächtelang diskutierten er und Christine über die Ursachen, die Notwendigkeit aufgrund derer solche Finkh’schen Charaktere entstünden und wo man ansetzen müsse, um solche Entwicklungen in Zukunft zu verhindern. Die autoritären Charaktere fielen nicht analfixiert, führungsorientiert, xenophob .. vom Himmel, sie wurden gemacht.
Christine war eher dafür , solche Menschen – auch Polizisten- in die Diskussionen einzubeziehen.
Hannes dagegen drängte auf strukturelle Veränderungen, die sich auf kommende Generationen auswirken sollten, natürlich auch auf die jetzt lebenden, aber, „Leute, seid nicht so ungeduldig und nicht so idealistisch, unrealistisch, das dauert alles über Gnerationen. Das ist so wie bei den Bauern, die sich heute noch gegenüber der Natur so verhalten als sei sie ihr Feind: Brandrodung, Unkraut-Ex, Abschießen aller Untiere, die die Dorfgrenze überschreiten…“
Bei Christines Ansatz konnte Finkh einhaken, er gab sich von Besuch zu Besuch immer bereiter zum Umdenken, reflektiv, sich selbst und seine Sozialisation hinterfragend. Das hinterließ auf die Dauer bohrende Zweifel, Erschütterungen im festgefügten Weltbild vom „Schweinesystem“, das damals noch nicht so genannt wurde.
So kam es dazu, dass Christine „ihren Opa Finkh“ bearbeitete, ohne dabei zu merken oder sich ernsthaft zu fragen, wer hier denn nun wen in der Hirnwäsche hatte. Wer wen ummodelte.
An dieser Frage gab es heftigen Streit in der Uhlandkommune: man(n) könne aus den tragenden Säulen dieses Schweinesystems, des Repressionsapparates keine revolutionären Subjekte machen.
In Frankfurt wäre man in der gesamten Linken bald unten durch als Bullenlieblinge und Spitzel-WG.
Die Debatte wurde sicherheitshalber nicht öffentlich geführt. Finkh und andere Umerziehungsobjekte sollten nicht davon erfahren. Der Gedanke vom Marsch durch die Institutionen bekam eine besondere Variante: einige wollten Finkh umdrehen: er sollte sie mit Infos aus dem Polizeiapparat versorgen.
Karl war verunsichert. Christines Argumentation leuchtete ihm ein. Solche Typen wie Finkh waren nicht als „Schweine“ geboren. Auch sie wurden erst dazu gemacht. Und so war auch denkbar, sie zu ändern, sie zum Nachdenken zu bewegen, wenn man ihnen die Bilder aus Vietnam, aus Afrika und Lateinamerika zeigte, ihnen nachwies, dass sie letztlich auch gegen ihre Bedürfnisse, ihre eigenen Interessen handelten, nicht selten handeln mussten – bring Du erst Mal eine Familie durch in härteren Zeiten als diesem Wohlstand verheißenden „Wirtschaftswunder“, das tatsächlich so wundervoll nicht war – basierend auf Kriegsgewinnen, Zwangsarbeitsprofiten , US-Dollar-gesponsort und geführt von persilgewaschenen Ex-Reichswirtschaftsführern wie Ludwig Ehrhardt, Abs und Co..… Aber irgendwie erschien es ihm lachhaft, geradezu kindisch, zu meinen, sie könnten ein halbes Jahrhundert Drill umkehren, die verbeamtete Sklavenseele eines Polizisten missionieren. Vom Saulus zum Paulus. So was klappte nur in diesem dicken Märchenbuch unter göttlicher Allmacht.
Und was war das für ein Begriff „Schweinesystem“? Hannes kommentierte das zwar nicht, aber in seinem Gesicht war nicht ein nur leichter Anflug von Übereinstimmung zu erkennen. Sicher, das kam aus den Tiefen des Bauches, war autentisch, Wut und Abscheu und die wilde Entschlossenheit es zu bekämpfen. Das schätzte Hannes und machte es dann auch nicht nieder, wie viele andere OberGurus hier im Nabel der Welt.
Hannes sagt es auch selbst im Brustton der Überzeugung. Klar war das ein Schweinesystem. Nur das allein war nicht viel aufklärerischer, als einen Mörder auch Mörder zu nennen… Aber musste jeder Urschrei gleich auch der Aufklärung verpflichtet sein. Das war ungefähr so, wie kurz vor dem Orgasmus darüber nachzudenken, ob es denn bitte auch alles eher matriarchalisch sei mit dem heraufziehenden Gefühlswallungen, obs durch den TÜV des Weiberrates kam, vorher oder nachher. Mea Culpa, mea maxima Culpa ! Manchmal hatte der plakative Schwarzer-Feminismus richtig katholische Züge.
Aber auch das war zu überstehen, musste überstanden werden, man lernte bei ausbleibenden strukturellen Veränderungen die Oberfläche feministisch zu glätten und ansonsten mit der patriarchalischen Erbsünde zu leben. Sechs Paternoster, sieben Maria Hilf, vierteljährlich eine Ohrenbeichte bei einer der Hohen Priesterinnen des Weiberrates und schon konnte munter weiter gesündigt werden.
Hannes und das Schweinesystem! Klar hat auch er es so geschrien, wenn er zusammen mit Carlos festgenommen wurde. Sollte er da den Bullen erst eine seitenlange Analyse der politisch-ökonomischen Lage vortragen:“ Ihr Schweine! Ich werd euch nicht wieder den Juden machen!“ Die Akustik im Großen Saal des Wiesbadener Kurhauses war auch noch bei engstem Gedränge sehr gut, die gesamte Haute Volée des Rein-Main-Region konnte Hannes Aufschrei hören: „Ihr Schweine „Aus Knüppelgarden werden Prügelknaben! Ihr seid doch eh nur das Kanonenfutter!“ So war er, selbst in den brennzlichsten Situationen- so wie jetzt, wo sie ihn an seinen langen Locken und den Schulterklappen seines Karlsruher Straßenbahnschaffner-Mantels mit auf den Rücken gedrehten und gefesselten Armen quer durch den Kursaal schleiften, während der versammelte Finanzadel frenetisch klatschend die Greifer und Schlepper anfeuerte: „ Gleich ins Arbeitslager!“, „ So was hätte man früher standrechtlich erledigt!“, „ Ab in den Keller zum Scheren!“ Selbst da noch setzte Hannes sein Sprecheisen an den schwächsten Stellen an. Natürlich lauerte in den flachgehaltenen Hirnen der Bereitschafts-Hundertschaften ein Rest Verstand, auch Wut auf „die da Oben“, die sich gerade zu einem Benefiz-Fressen gegen den Hunger in der Welt mit Nobelkarossen, Ehefrauen und Maitressen versammelt hatten Und nun sollten sie für die den linken Sturm gegen dieses eiskalte Buffet aufhalten. In unbezahlten Überstunden, mit hungerentlohntem Bereitschaftsdienst, dressiert und kaserniert. Hannes wollte ihnen nicht schon wieder den Juden machen! Aber sie machten ihn schon fast wieder dazu. Selbst da war er noch in der Lage zu differenzieren: „Ihr seid eh nur Kanonenfutter !“ Auch wenn er nur selten mit NS-Vergleichen arbeitete, hier brachte er ihn immer an: auch dann noch, wenn er im Polizeigriff gebeugt abgeführt wurde: Hannes war einfach nicht zum Schweigen zu bringen: „ Selbst die SA wurde von der Knüppelgarde zum Prügelknaben!“ Doch solche Florettsticheleien konnten maximal die Trommelfelle der Goldfasane treffen und bis ins Hirn vordringen. Die Geschichtskenntnisse bei einfachen Bereitschaftspolizisten wie bei den Greiftrupps der Sondereinheiten waren eher lückenhaft, wobei die größten Lücken in der Regel so zwischen 1933 und 1945 lagen. Hannes war kein Jude, seine Eltern waren säkular, schon seit ihrer Flucht nach Amerika, konfessionslos, doch Hannes Großeltern, Tanten und Onkels wurden schon vor 30 Jahren ins Arbeitslager geschickt, in ihren neuen Lebensraum im Osten zum Wohle der IG Farben, bei Fluchtversuchen standrechtlich erschossen oder als arbeitsunfähig in Auschwitz gleich vergast.
Carlos begriff es nicht, wie konnte Hannes mit all dem im Hinterkopf selbst bei solchen Rufen aus der VIP-Launch noch die Ruhe bewahren. Carlos hätte sich wie eine Furie auf sie gestürzt. Zumindest hätte er es gewollt.
Hannes griff ab und zu in die Diskussionen ein, meist moderierend in der ganzen Bandbreite de Strömungen in der Linken: „Es nützt uns nichts, wenn wir da unsere Wut nur herausbrüllen. Nur die, die das hier bereits als „Schweinesystem“ erfahren haben, hören uns überhaupt zu, aber denen brauchen wir das nicht noch Mal in die Ohren brüllen. die anderen hören nur, dass wir etwas angreifen, mit dem sie bisher in der Regel gut gefahren sind. At the sunny side of the street im Wirtschaftswunder. Natürlich müssen wir anklagen, aber noch wichtiger ist es mit der Anklage die Ursachen offenzulegen. Die Zusammenhänge begreiflich zu machen. Die Wut auf das Schweinesystem ist ein andauerndes Strohfeuer, es wärmt auf wie Strohfeuer, wie Schnaps im Winter, aber es entwickelt nicht die nötige langanhaltende Hitze, um die Stahlpanzer zu schmelzen. Wir müssen die Wut umsetzen in Kraft, Ausdauer und analytische Schärfe … „
Carlos dachte mit einem Anflug von Schuldbewußtsein an das letzte Wochenende, wo er beim gemischten Slibovics – Stroh-Rum-Wettsaufen gegen Werner und Milan gewonnen hatte. Werner hatte den Stroh-Rum aus den Beständen der Wiener KPÖ ohne jegliche Prozentverluste durch den Zoll geschmuggelt. Milans Slibovics stammte aus der Elterlichen Schwarzbrennerei, die aber im titoistischen Realsozialismus als lässliche Sünde nicht geahndet wurde. „Wanns die bei uns dawischen däten, dös kost a Stange Göld!“ Das war zwar nicht gelogen, aber die Wahrheit sah doch anders aus: in Österreich und das erzählte Werner nicht erst nach den ersten 10 Stamperln, durfte jede Familie an einem festgelegten Tag im Jahr 24 Stunden lang brennen, was das zeug hielt. Das war dann wirkliche Schwarzbrennerei, denn um die nötigen Temperaturen so schnell wie möglich zu erreichen, wurden da landesweit ganze Halden von alten Autoreifen verfeuert, um den Jahresvorrat an Birnen, Pflaumen, Mirellen usw. —Schnaps in 24Stunden unter die Korken zu kriegen. Schwarze Rauchfahnen über der Steiermark, Über Ober und Nieder-Österreich, überm Waldviertel. Dagegen konnten rote Fahnen nicht an.
„Es wärmt auf wie Schnaps im Winter …“ Kein Wunder, dass das mit der Revolution in Österreich nie richtig geklappt hatte. Soffen die Franzosen weniger, oder die Russen etwa oder die Kubaner ?
Klar soffen die und sie soffen vielleicht noch mehr, nur wahrscheinlich soffen sie erst nach der Revolution und dann auch nicht bis zur Bewusstlosigkeit. „ abgefackelt wie ein Strohfeuer…“
Wenn man Hannes so reden hörte, so eindringlich, so fordernd wie geduldig, so ähnlich muss Che Guevara mit den analphabetischen bolivianischen Campesinos gesprochen haben: „Verwandelt euren Hass in Energie!“
Wenn Hannes so sprach, ging Carlos ein Gänsehautschauer übern Rücken wie Schwärme von Sternschnuppen durch den nächtlichen Himmel vom Scheitel bis zur Sohle.
Ach, ja, Danke für den Hinweis, ja, ja, von da wo früher bei der Bundeswehr noch der Scheitel ordentlich gezogen war und jetzt lange Strähnen oder Locken wild durcheinander wucherten. Nicht jeder trug die neue Uniform. Die neue Einheitsfrisur. Nicht jeder brauchte sie. Der Krahl hatte seinen alten Scheitel behalten aus den Zeiten, als er noch in Alsfeld Gründer und Häuptling der Jungen Union war. Der Scheitel gehörte zu ihm wie sein Schmiss aus der Schlagenden Verbindung. Das hörte sich auch für Carlos im ersten Moment sehr exotisch an, das wusste auch nicht jeder: der Cheftheoretiker der Sozialistischen Studenten kam aus der CDU ? Der gescheitelte Schmissträger erzählte über seine rechte Vita, wenn überhaupt, dann erst nach dem zehnten Halben in den Königsbacher Stuben in Kettenhofweg, wo er unter Zustimmung einer qualitativen Mehrheit von 1,9 Promille bereits die akademische Räterepublik ausrief und Ministerposten an die um ihn versammelte Bodyguard verteilte. Verwunderlich war das gar nicht. Die gesamte studentische linke Elite kam aus gutbürgerlichen Elternhäusern: Unternehmer, Anwälte, Politiker, Pfarrer, Professoren, Studienräte und andere Oberlehrer, katholische Theologen kurz vor der ExKommunikation, da besonders, wenn sie aus der Gegend um Münster und Paderborn kamen, aber auch Tübingen, wo der Küng der kritischen Katholiken thronte und seine Kirche auf für revolutionäre Zeiten überlebensfähig machen wollte: Vom Münsterland aus starteten Berfreiungstheologen in Kompaniestärke zu linken Kreuzzügen ausgerüstet von Jesuiten-Profs wie Nell-Breuning, Hengsbach, Metz und wie sie alle hießen… K.D. Wolff , der Bundesvorsitzende des SDS war Reserveleutnant Und er selber? Auch nicht gerade als Revoluzzer geboren. Sein Weg aus der evangelischen Jungschar in die Uhland-Kommune sah für Außenstehende nicht wesentlich weniger exotisch aus als die Krahl’sche Karriere.