Heiße Geschichte(n) vom Kalten Krieg in der Provinz – Teil 1

Heiße Geschichte(n) vom Kalten Krieg in der Provinz

aus der Zeit zwischen 1. und 2. Weltkrieg, und danach zwischen Demokratie und Notstand und dem ausbleibenden Aufstand gegen die Ausbrecher eines 3. Weltkrieges (denn Kriege brechen nicht aus wie Vulkane, sie werden ausgebrochen)

Zum Beispiel im 800jährigen Dorf Mittel-Gründau:

(Ja,ja, Sie heben Recht: das war bekannt aus Funk und Fernsehn: Möbel-Walther A66, Abfahrt Gründau-Lieblos … nur muss man nach Mittel-Gründau die heutige Heerstraße nach Osten (heute heißt der Möbel-Walther-Besitzer  zur Heerstaße passend Krieger und sein Filial-Reich Möbel-Höffner, da Möbel-Krieger doch nicht sooo Kundenfreundlich klingen würde!?) … Man muss also die Route 66 bei Abfahrt Lieblos nach Nordwesten verlassen und drei Kilometer Richtung Festung Büdingen fahren. Dort liegt zwischen der fürstlichen Festung und dem langen Abendschatten der Ronneburg das Dorf am Fuße des Stickelberges. Stickelberg? Ja, das ist der Hinweis auf steinzeitliche Grabsteine, die dort  nicht erst 1867 beim Bau der Heldmann-Bahnstrecke Gelnhausen-Gießen gefunden wurden. Stickel heißen bis heute in einigen Teilen Hessens aber auch in der deutschsprachigen Schweiz die Grabsteine. Ums Dorf rundherum führen alle Gründe in diese(s) Mittel-Gründau: Sauerngrund. Atzmersgrund, Allmessengrund,  Judengrund: „Mittel-Gründau- aus gutem Grund führen alle Gründe nach Mittel-Gründau!“, könnte ein Tourismus-Slogan lauten)

 

Am Anfang war ein Ort, mit Natur fast Pur, mit Vielfalt in Flora und Fauna beinah wie auf der Arche Noah.

Alles schien bei Sonne wie in Butter. Unser Anfang waren die frühen 60er, die frühen 80er und 1987 bezogen wir eine historisch bedeutungsvollen Bauernhof, zunächst ohne davon etwas zu wissen. Nicht Mal zu ahnen.  Alles schien bei Sonnenschein wie in Butter. Nur die vielen Butterblumen zeugten neben dem vielen Löwenzahn auf den Au-Wiesen schon vom Zahn der Neuzeit, die an der Natur-Pur nagte: die Wild-Wiesen verarmten, die Waldwiesen auch: Brombeerhecken und Brennnesseln zeugten schon von Nitratüberdüngung und Saurem aus Luft und Regen. Feld- und Wegraine  Hollundergebüsch-gesäumt. Wo doch der Hollunder der gute Hausgeist dort neben dem Bauernhaus war, wo der Mensch das Plumpsklo speist und  das Vieh, die Rinder nicht minder.

Hier entstand das Märchen von der Frau Holle, der Hüterin des Feuers in der schützenden Höhle.

Noch war das Monsanto-Roundup nicht im Einsatz, noch gab es Kornblumen, Mohn, Kamille, Meerrettich an den Feldrändern und bis tief ins reifende Getreide und meistens keinen Mais. Ja, Zuckerrüben-Monokultur  war auch nicht gerade Natur-Pur.  Zwar viel Blaukorn, aber wenig Spritzmittel. Arbeit in den Feldern, Rübenvereinzeln gab’s schon nicht mehr, aber das “Unkraut“ zwischen den Rübenreihen wurde noch schweißtreibend in Handarbeit erlegt. Niederwild fand noch Deckung in Feldgehölzen, die Hasen rammelten den Winter adé, Kibitze brüteten und Lerchen, ohne zu früh weggemäht in der Silage zu landen,  Reiher und Störche fraßen Frösche und Fische aus den Bächen, ohne an Phosphat und Tensiden zu erbleichen (seit einiger Zeit gibt es wohl wegen Grauschleier-Entfernung immer weniger Grau-Reiher und Schwarzstörche :-0))) ..

 

Und mitten rein in die dörfliche Idylle drängte nicht nur Gift und Gülle. Pestizide, Herbizide, Funghizide, Plötzlich entdeckten die Groß-Argarunternehmer und Waldherren-Wellpappenheimer das dicke Geschäft mit der Müllentsorgung.-

 

Die Frage kam auf: wem gehört der wald, wem gehören Wiesen und Feld, wem gehört die kleine Welt und woher haben die Weltherren sie genommen…

Und da fing dann die Archäologie im Dorf erst richtig an. Nicht nur die Scherben aus Steinzeit und Bandkeramiker- aus Latene und Broncezeit, aus der Zeit der römischen Besatzung.

 

Wer hat den Dörfern und Dörflern die Wälder genommen und wann.  Wer hat ihnen die Wald- und Wasserrechte genommen, die seit dem frühen 14. Jahrhundert kaiserlich-barbarossisch garantiert  ihre Geltung hatten- bis heute?  Wer hat die Dokumente über diese Rechte unter Verschluss gebracht und zum Teil illegal auf dem Antiquitäten Markt, bei Sotheby’s in London versilbert? Wer hat diese Hehlerei hessischen Staatseigentums noch im Nachhinein „legalisiert“ ?  War das nicht die hessische Wissenschafts-Ministerin Kühne-Hörmann mit ihrem nachträglichen Archiv-Geschenk an die Ysenburg-Büdinger Fürsten?

Viel dazu hat Dr. Walter Nix geschrieben.:-0)))))

Der Kampf gegen eine Müllverbrennungsanlage und eine drohende Mega-Mülldeponie war DER Anstoß nicht nur für die Suche nach Boden-Denkmälern, die Suche auf Äckern und Wiesen nach historisach wertvollen Scherben.

 

Die archäologischen Grabungen fanden auch in Archiven, in Literaturlisten, Bibliotheken statt. Man baggerte auch die zum Schweigen vereidigten fürstlichen Archivare an …. Zwar mit magerem, aber doch einigen wenigen oder weniger schönen Erfolgen.

Wem gehörte wann welcher Acker, wann wurde der Geimeindewald oder Teile davon „fürstliches Eigentum“?

Wie wurden die Dorfbewohner in die Verschuldung getrieben – mit Zehnten, Steuern, Abgaben, wie und wann wurden sie zu Fron-Sklaven und wann und wie zu Lohn-Sklaven gemacht … in Kriegen verheizt, im „Frieden“ vernutzt, zur Auswanderung gezwungen oder in die Zuchthäuser verschleppt? An die britische Krone als Söldner gegen die um Unabhängigkeit kämpfenden Siedler in Nordamerika verkauft?

(Erbarmen!- die Hessen kommen!!“ war der  Schreckensruf der Siedler! Und die Rodgau-Monotones haben das falsch verstanden, ganz richtig damals aber doch schon fast prophetisch Roland Koch! Und jetzt dürfen das auch die Ex-Jugoslawen, die Iraker, die Syrier, die Malinesen, die Afghanen usw. singen )

 

In nicht systematisierter Folge sollen hier exemplarische Dorfnachrichten und Dorfgeschichte(n) veröffentlicht werden – aus dem oberhessischen Dorf Mittel-Gründau.

 

Dieses Dorf am Rand des römischen Limes, liegt nicht nur in der Nachbarschaft des Areals, wo der Hunnenkönig Attila/Etzel, der aus dem Nibelungen-Lied  – auf seinem Weg nach Burgund Hof gehalten hat und  sein Heerlager am „Hunnen-Hof“, (dem heutigen vom Hunnen- zum Huhn- und schließlich zum „Hühner-Hof“ mutierten später Ysenburg-Meerholzer Anwesen) auf den Trümmern einer Kelten- und später Merowinger-Siedlung aufschlug.

 

Dieses Dorf am Kreuzungspunkt wichtiger Nord-Süd- (Main-Tauber/Fulda-Werra-Weser) und Ost-West-Handels- und Heerstraßen (Frankfurt-Leipzig(/ Frankfurt-Würzburg-Prag/ Paris-Warschau-Moskau) war

1830 der Ausgangspunkt der „Oberhessischen Bauernaufstände“, zu dessen überlebenden Anführern Georg Büchner 1834 Kontakt aufnahm und seinen „Hessischen Landboten“ durch deren Höfe, Äcker und Wälder nach Gießen und Marburg schmuggeln ließ.

 

1848 war dieses Dorf ein „revolutionärer Vorort“ (heute würde man das als Brückenkopf bezeichnen). Hier gründeten die demokratisch und sozial gesinnten Bauern, Handwerker, Wanderarbeiter und Mägde und Knechte zusammen mit ihrem Paulskirchenabgeordneten Dr. Christian Heldmann die erste politische Partei: den Demokratischen Verein Mittel-Gründau von 1848.

 

Hier bildete sich im Litterbach- und Gründautal  ein Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat unter Anführung durch den Ex-Matrosen der kaiserlichen Kriegsmarine, Bauarbeiter und Gewerkschafter Johannes Weinel, dem sogenannten „Marine-Hannes“, der am Kieler Matrosen-Aufstand beteiligt war. Dieser Aufstand beendete den 1. Weltkrieg. Bzw. leitete das Ende ein.

 

in Gelnhausen gab es 1918/19/20 eine linkssozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit, Generalstreik gegen den Kapp-Putsch … wo sind die Dokumente über die Parteibüros, die weiteren Widerstandsaktionen der linken Organisatoionen, wo die Hinweise auf das Gelnhäuser Gewerkschaftshaus ?

Aus dem folgenden Text wird auch klar, warum der Automechaniker und OPEL-Autohaus-Besitzer Blumenbach von den Nazis zusammengeschlagen und aus Gelnhausen hinausgeprügelt wurde, warum die Kreissparkasse sein Guthaben „arisierte“, als er Gelnhausen nicht mehr betreten durfte und der „Arisierer“ Hempel sich das Autohaus und alle Blumenbach’schen Immobilien unter den Nagel gerissen hat:

… die jüdischen Bürger Strauß und Blumenbach erklärten bei einer Versammlung (1920), daß sie sich in einer „Einwohnerwehr nicht wohlfühlen, wenn Mitglieder derselben antisemitische Hetze treiben.“ Der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch wird unbeirrbar und mit unerwarteter Disziplin durchgeführt – vermutlich, weil viele Arbeiter in ihm die ersehnte Einigung aller Sozialisten sahen. Nach einer Woche war der Putsch der Konterrevolution abgewehrt. Die Ebert-Regierung konnte nach Berlin zurückkehren. Sie versprach harte Bestrafung der Putschisten; in Wirklichkeit konnten die meisten der Beteiligten ins Ausland fliehen und wurden fünf Jahre später amnestiert. ….. 

 

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http://www.historische-eschborn.de/berichte/Hessen/Kaisertreu/Die_Reaktion_marschiert/body_die_reaktion_marschiert.html

Viele Wege führen heim ins Reich
der Reaktion.
Michael Schneider

II. Die Reaktion marschiert – Der Feind steht rechts

Schon Anfang 1919 finden sich im Gelnhäuser Tageblatt Aufrufe von Freikorps, die Soldaten anwerben – so das ‚Hessisch-Thüringische- Waldecksche Freikorps‘, das ‚Freikorps Hessen-Nassau‘, das ‚Freikorps Hülsen‘, das ‚Hessische Freikorps‘. Die Sprache ist beredt: „Bürger, Soldaten, das Vaterland braucht Euch! Auf zum Schutz gegen Bolschewisten und Polen“ – „Wollt Ihr den Bolschewismus? Wollt Ihr Ruhe, Ordnung, inneren Frieden?“, heißt es da in der Zeitung. Das Gelnhäuser Tageblatt macht sich selbst zum Anwalt der Reaktion. Unter dem Titel ‚Heimatschutz’ ruft es auf: „Unsere Feinde [werden] rücksichtslos bei uns einmarschieren. Ihnen mit den Waffen entgegenzutreten, ist unmöglich, da wir keine Armee mehr haben denn während unsere Feinde in einem Teil unseres Reiches stehen, sind im Innern Elemente tätig, die, anstatt die Wunden unseres vielgeprüften Volkes zu heilen, diesen neue hinzufügen. Handlanger des Bolschewismus, von Rußland bestellte Agitatoren, hirnverbrannte Idealisten versuchen, bei uns den Bolschewismus ans Ruder zu bringen, indem sie dem Volke goldene Berge versprechen … Alle diese zu bekämpfen, dazu gebraucht unsere jetzige Regierung tüchtige zuverlässige Leute. Wollt Ihr verhüten, daß solche Zustände, wie sie in Bayern zu Zeiten der Räterepublik (Räterepublik in Bayern: Sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg gegründet, aber militärisch niedergeschlagen) geherrscht haben, auch bei uns kommen, dann meldet Euch zu den Freikorps.

Auch das Garde-Kavallerie-Schützen-Korps hat schon in hervorragender Weise an der Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung in verschiedenen Teilen des Reiches, sowie auch in München teilgenommen…

Darum meldet Euch, Ihr deutschen Männer und Jünglinge, denn es gilt für uns, im Kampf gegen den Bolschewismus unser Wirtschaftsleben vor dem drohenden Zusammenbruch zu bewahren und staatliches sowie privates Eigentum zu schützen!“

Die Freikorps waren Freiwilligenverbände aus ehemaligen Offizieren, Soldaten und Studenten, die zum Niederschlagen der Revolution benötigt wurden. Im Kampf gegen die revolutionäre Linke verbündeten sich die Mehrheitssozialdemokraten – Ebert und Noske an der Spitze – mit der Obersten Heeresleitung, um die kommunistischen Aufstände in verschiedenen Teilen Deutschlands zu zerschlagen. Sie hatten fast 400.000 Mann unter Waffen, und ihre Anführer sollten gut ein Jahrzehnt später in den obersten Rängen der Nazi-Hierarchie sitzen.

Die beiden großen Hoffnungsträger der Linken, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, fallen ihnen bereits im Januar 1919 zum Opfer: Sie werden von Freikorps ermordet. Die Leiche Rosa Luxemburgs wird erst Monate später gefunden. Anläßlich der Beerdigung im Juli 1919 ruft die Gelnhäuser KPD zur ‚Volks- und Protestversammlung‘ auf dem Obermarkt auf.

Auf dem Obermarkt in Gelnhausen:
Kundgebung für Rosa Luxemburg,
Gelnhäuser Tageblatt vom 12. Juni 1919

Die überall in Deutschland im Zuge der Revolution gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte – oder in ländlichen Gebieten Arbeiter- und Bauernräte – hatten sich auch in unserer Region organisiert. Der Mittelstand will mitmischen, darf aber nicht. Er bildet unter der Führung des Fabrikanten Maehler und des Realschuldirektors Dr. Küchenthal einen ‚Bürgerrat‘ und möchte bei den Verhandlungen des Arbeiter- und Soldatenrates gleichberechtigt dabeisein. Dieses Anliegen wird selbstbewußt in einer schriftlichen Antwort in der Zeitung zurückgewiesen: „Der Arbeiter- und Soldatenrat besteht zu Recht und hat allein die politische Macht auszuüben. Bürgerliche Kreise können nicht Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates sein. Die Revolution ist von Arbeitern gemacht und muß auch von Arbeitern geführt werden. Die bürgerlichen Kreise sind Gegner der Revolution gewesen und sind es infolgedessen im Grunde genommen heute noch … Es kann unter keinen Umständen gestattet werden, daß solchen Leuten irgendwelche Konzessionen erteilt werden. Der Arbeiter- und Soldatenrat wahrt die Interessen der Stadt im weitgehendsten Maße. Liegen irgendwelche Schwierigkeiten vor, so sind sie hier direkt vorzulegen und wird selbstverständlich in weitgehendsten Maße Abhilfe geschaffen werden. Jedenfalls haben Sie kein Recht, Gegenströmungen ins Leben zu rufen. Wir haben doch weit wichtigere Aufgaben: Vermeidung von Hungersnöten und geordnete Verhältnisse gegenüber der Entente nur allein bedürfen unserer intensivsten Arbeit. Das weitere überlassen Sie uns. – Der Bürgerrat wird die Lage kein Jota bessern!“

In den folgenden Monaten erledigt sich dieses Problem von selbst, weil die Räte schließlich an Bedeutung verlieren. In der ersten Zeit nach Kriegsende jedoch muß die Beteiligung an den Räten erheblich gewesen sein, denn bei einer Vertreterversammlung im März 1919 sind von den über 70 Orten des Altkreises Gelnhausen immerhin 46 Orte mit einem Arbeiter- und Bauernrat vertreten.

Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung Anfang 1919 siegen die Sozialdemokraten haushoch im Reich wie auch in Stadt und Kreis Gelnhausen. Ein Jahr später, bei den Reichstagswahlen 1920, sieht es allerdings ganz anders aus. Dazwischen war viel passiert in der jungen Republik.

Anfang 1920 kursierten überall im Deutschen Reich Gerüchte über Putschpläne des Militärs. Der Hintergrund war, daß die Freikorps, die von der Regierung Ebert zur Niederschlagung der Revolution benötigt worden waren, ihre Aufgabe zufriedenstellend erfüllt hatten und nun aufgelöst werden sollten. Diese aber wollten weder die Waffen niederlegen noch zurückkehren ins bürgerliche Leben. Der Oberbefehlshaber General von Lüttwitz, von der sozialdemokratischen Regierung mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, weigerte sich, seine Elitetruppe, die Brigade Ehrhardt, aufzulösen. Das Stammpersonal dieser Einheit war zur Beseitigung der Münchener Räterepublik eingesetzt gewesen. Sie trug bereits in dieser Zeit ein Hakenkreuz am Stahlhelm und war extrem republikfeindlich gesonnen. General von Lüttwitz widersetzte sich dem Reichspräsidenten Ebert und ließ statt dessen seine Truppen ins Berliner Regierungsviertel einmarschieren, um ‚das rote Pack‘ davonzujagen. Mit von der Partie waren General Ludendorff, Landschaftsdirektor Wolfgang Kapp und General Paul von Lettow-Vorbeck. Am 13. März 1920 ist das Regierungsviertel von Putschisten besetzt. Die Regierung muß fliehen und entschließt sich im letzten Augenblick zu einem Aufruf zum Widerstand und Generalstreik gegen die Militärdiktatur.
Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919
in Stadt und Kreis Gelnhausen
Prozentualer Anteil der abgegebenen gültigen Stimmen

Scheidemann SPD
Müller Zentrum
Luppe DDP
Veidt DNVP
Dißmann USPD
Rießer DVP
sonst.
Stadt Gelnhausen
39,0%
7,0%
24,4%
4,1%
6,2%
19,3%
0%
Kreis Gelnhausen(ohne Stadt Gelnhausen)
44,7%
25,2%
14,8%
5,9%
4,5%
4,9%
0%
Deutsches Reich
37,9%
19,7%
18,5%
10,3%
7,6%
4,4%
1,6%

Das Gelnhäuser Tageblatt zeigt Flagge und geht bereits an diesem Tag von einer neuen Regierung aus. Es druckt eine Erklärung von Kapp und Lüttwitz ab: „Die bisherige Regierung hat aufgehört zu sein. Die gesamte Staatsgewalt ist auf den Mitunterzeichneten sowie Generallandschaftsdirektor Kapp- Königsberg als Reichskanzler und als Preußischer Ministerpräsident übergegangen. Zum Reichskanzler wurde der General der Infanterie Freiherr von Lüttwitz berufen. Eine neue Regierung der Ordnung, der Freiheit und der Tat wird gebildet.“Aber so schnell ging es mit dem Sieg der Putschisten dann doch nicht. Bereits einen Tag später, am 14. März 1920, begann der Generalstreik. Die einmütige Befolgung des Streik-Aufrufs nahm den Putschisten jede Handlungsmöglichkeit. Alle Räder standen still. Eisenbahn- und Postverkehr ruhte, Fabriken, Zechen, Baustellen und Telefonverbindungen waren stillgelegt. Zeitweise war sogar die Strom-, Gas- und Wasserversorgung unterbrochen. In vielen Orten Deutschlands bildeten Arbeiter bewaffnete Einheiten gegen die Putschisten. Eines der Hauptzentren des Widerstandes wurde das Ruhrgebiet. Auch in unserer Region wird der große Streik befolgt. Allerdings berichtet das Gelnhäuser Tageblatt darüber sehr kärglich. Es versucht, im Gegenteil, seine Leserinnen glauben zu machen, daß die alte Regierung den Generalstreik verboten habe. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Streiks schreibt das Tageblatt: „Streikverbot der alten Regierung…. Dem Reichswehr-Gruppenkommando 2 Cassel ist es gelungen, eine Fernsprechverbindung mit der alten Regierung in Stuttgart… herzustellen. Die alte Regierung hat erklärt, daß der Aufruf zum Generalstreik den sozialistischen Mitgliedern nicht bekannt und von ihr nicht unterzeichnet ist. Die alte Regierung ersucht um sofortiges Aufhören aller Streiks und fordert zur sofortigen Rückkehr zur Arbeit auf.‘

Das bleibt nicht ungerügt. Die Arbeiter Gelnhausens beschweren sich über die lügenhafte Berichterstattung und einige Tage später muß die Zeitung ihren Kurs korrigieren: „In Gelnhausen hatte die Arbeiterschaft nach dem Streikbeschluß der Sozialdemokratie die Arbeitsniederlegung beschlossen. Die Arbeiterschaft setzte die Stillegung der Betriebe durch. Gestern Vormittag verhandelte eine aus den sozialistischen Parteien gebildete Kommission mit Herrn Landrat Delhis und Herrn Bürgermeister Voit im hiesigen Landratsamt. Die Kommission … beschwerte sich über die Veröffentlichung des Artikels ‚Streikverbot‘ in der Montagsnummer des ‚Gelnhäuser Tageblatt‘ … [Nun] soll durch entsprechende Kontrolle dafür gesorgt werden, daß alle Nachrichten mit Quellenangabe veröffentlicht werden, woraus sich dann die Leser selbst ihr Urteil über die Zuverlässigkeit der Angabe bilden können. In einer gestern nachmittag stattgehabten Versammlung im Brauhaus wurde das Ergebnis der Verhandlung den Arbeitern mitgeteilt …“

Das Wächtersbacher Schloß war mehrfach Schauplatz turbulenter Ereignisse: Während des Kapp-Putsches 1920 beschlagnahmten die Wächtersbacher Arbeiter hier zwölf Karabiner.
Auch in Wächtersbach kommt es zu Unruhen. Hier wendet sich der Zorn der Arbeiter besonders gegen den Erbprinzen Ferdinand Maximilian zu Ysenburg und Büdingen im Wächtersbacher Schloß, wo man – nicht zu Unrecht, wie sich später herausstellt – ein Waffenlager der Reaktion vermutet. Die Zeitung berichtet:

„Am Sonntag marschierten die Arbeiter von Schlierbach und Umgebung nach Wächtersbach. Auf dem Marktplatz hielt einer der Demonstranten eine Rede. Dann begab sich eine Kommission in das Schloß, um die Herausgabe von Waffen zu erlangen…“

Und man wird fündig im Wächtersbacher Schloß: Zwölf Karabiner, die angeblich zur Bekämpfung von Wilddieben eingesetzt werden sollten, werden von den Arbeitern beschlagnahmt.

Überall im Deutschen Reich verteidigten die Arbeiter entschlossen die Errungenschaften der jungen Republik, obwohl sie bereits jetzt in drei Parteien gespalten sind: SPD, USPD und KPD. Und man weiß zumeist genau, wo man seine Feinde zu vermuten hat: im deutschnationalen Bürgertum, bei den Großgrundbesitzern und beim Adel.
Reichstagswahl am 6. Juni 1920
in der Stadt Gelnhausen, im Kreis Gelnhausen und im Deutschen Reich
Prozentualer Anteil der abgegebenen
gültigen Stimmen

SPD
Zentrum
DDP
DNVP
USPD
DVP
KPD
sonst.
Stadt Gelnhausen
16,0%
7,0%
14,9%
10,3%
7,2%
32,3%
12,3%
0%
Kreis Gelnhausen(ohne Stadt Gelnhausen)
24,0%
30,3%
4,9%
15,1%
6,8%
10,4%
8,5%
0%
Deutsches Reich
21,7%
13,6%
8,3%
15,1%
17,9%
13,9%
2,1%
7,4%

Diese bringen denn auch gleich einen Lieblingsgedanken der Rechten ins Spiel: Die Aufstellung von Einwohnerwehren zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Gegen Ende des Generalstreiks wird in Gelnhausen in großen Versammlungen dieses Vorhaben diskutiert. Es soll in den aufzustellenden Einwohnerwehren gänzlich unpolitisch zugehen. Ausschließlich das ‚Bekenntnis zum Deutschtum‘ und die ‚Wiederherstellung des deutschen Nationalgefühls‘, das nach Meinung des Gelnhäuser Tageblattes „in der letzten Zeit etwas sehr in den Hintergrund getreten ist“, solle die Mitglieder solcher Einwohnerwehren zusammenführen. Die Linke scheint davon nicht viel gehalten zu haben. Die Sozialdemokraten bezeichnen das Vorhaben als reaktionär, und die jüdischen Bürger Strauß und Blumenbach erklärten bei einer Versammlung, daß sie sich in einer „Einwohnerwehr nicht wohlfühlen, wenn Mitglieder derselben antisemitische Hetze treiben.“Der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch wird unbeirrbar und mit unerwarteter Disziplin durchgeführt – vermutlich, weil viele Arbeiter in ihm die ersehnte Einigung aller Sozialisten sahen. Nach einer Woche war der Putsch der Konterrevolution abgewehrt. Die Ebert-Regierung konnte nach Berlin zurückkehren. Sie versprach harte Bestrafung der Putschisten; in Wirklichkeit konnten die meisten der Beteiligten ins Ausland fliehen und wurden fünf Jahre später amnestiert.

Anders allerdings verfuhr man mit den Arbeitern, die die Republik gerettet hatten und die sich im Ruhrgebiet weigerten, ihre Waffen abzugeben. Wiederum setzte die Regierung Reichswehr und Freikorps ein, und das Militär übte nun ‚legale‘ Rache. Mindestens 1000 Arbeiter wurden bei der Säuberung des Ruhrgebiets ermordet.

Für diesen erneuten Verrat bekommt die SPD bei den Reichstagswahlen ein paar Monate später die Quittung. Hatte sie im Januar 1919 noch 11,5 Millionen Stimmen erhalten, so bekommt sie jetzt gerade noch 5,6 Millionen Stimmen. Damit war das Ende der ‚Weimarer Koalition‘ besiegelt. Die ‚Weimarer Koalition‘, bestehend aus SPD, Demokraten und Zentrum, hatte 1919 noch eine überwältigende Mehrheit auf sich vereinigen können; jetzt, 1920, war sie in die Minderheit geraten. Auch in Stadt und Kreis Gelnhausen spiegelt sich dieses Ergebnis wider: Die SPD verliert hier 6500 Stimmen, die Demokraten 2493 Stimmen und das Zentrum 269 Stimmen, während DNVP und DVP hohe Gewinne verzeichnen. Die Republik wurde zunehmend rechtslastig. Der Traum von einer sozialistischen Zukunft rückte damit in weite Ferne.

Zwar war die Republik durch den Generalstreik vor Kapp und der Reaktion zunächst gerettet worden, aber die radikale Rechte wollte zurück zur Monarchie und schreckte auch vor Morden nicht zurück. Im Sommer 1921 fielen ihr der bayerische USPD-Landtagsabgeordnete Karl Gareis und der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger zum Opfer, im November 1921 erlag der USPD-Vorsitzende Hugo Haase einem Mordanschlag. Ein halbes Jahr später wurde auf den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann ein Blausäure- Attentat verübt, das er nur dank glücklicher Umstände überlebte. Kurz darauf – Ende Juni 1922 – trafen die tödlichen Kugeln den deutschen Außenminister Walter Rathenau in Berlin auf offener Straße. Die Spuren der Täter – rechtsradikale Offiziere – führten zur Organisation Consul und zur Marinebrigade Ehrhardt, die schon am Kapp-Putsch beteiligt war – Gruppierungen völkisch-rassistischer Art, die frühe Vorläufer des Nationalsozialismus waren. Diese Kampforganisationen wurden finanziert von adligen Großgrundbesitzern und der Schwerindustrie.

„Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau“, hatte es schon lange im rechtsradikalen Lager geheißen, und Sprüche dieser Art wurden gern von bierseligen Stammtischen aufgegriffen.

Walter Rathenau galt den Deutschnationalen als Inkarnation der verhaßten ‚Judenrepublik‘. Seine Ermordung ließ eine gigantische Protestbewegung entstehen. Hunderttausende nahmen an den Trauerkundgebungen und Demonstrationen gegen den Terror von rechts im ganzen Reich teil. In seiner berühmt gewordenen, leidenschaftlichen Reichstagsrede sagte der damalige Kanzler und Zentrumspolitiker Joseph Wirth, auf die rechte Seite des Plenums blickend: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden des Volkes träufelt: da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel, dieser Feind steht rechts…“

Freilich, das wußten die Arbeiterorganisationen und die Sozialisten aller Schattierungen schon lange: Ihr Feind hatte immer rechts gestanden. Die Verbitterung über diesen erneuten Triumph der Reaktion war gewaltig.

Auch in Hessen gehen die Menschen massenweise auf die Straße. Wut und Trauer mischt sich mit der Empörung über die miserablen wirtschaftlichen Verhältnisse und darüber, daß – insbesondere in ländlichen Regionen – die alte Herrschaftskaste immer noch tonangebend ist. Die Demonstrationen sind oft spontan und wenig organisiert und so läuft manches aus dem Ruder, was für die Empörten später katastrophale Folgen hat. Aber ist eine Revolution anders zu machen?

Die an der großen Wächtersbacher Demonstration Beteiligten waren von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt. Ihnen ging es um nicht weniger als um die Verteidigung der Errungenschaften von 1918/19.

Aber beginnen wir die Sache von vorn: In der letzten Juniwoche des Jahres 1922 findet in Wächtersbach – anläßlich des Mordes an Rathenau – eine riesige Protestdemonstration statt, zu der die drei Linksparteien SPD, USPD und KPD aufgerufen hatten. Eine Woche später, am 4. Juli, kommt es in dem kleinen Ort erneut zu einem Massenaufmarsch. Von 2000 Menschen ist die Rede. Die Stimmung ist aufgeheizt.

Auf dem Marktplatz sprechen der SPD-Vorsitzende Franz Kitzing aus Hesseldorf, der Sozialdemokrat August Schmidt aus Hanau und der kommunistische Bergarbeiter Heinrich Leis aus Wächtersbach. Insbesondere Leis beläßt es nicht bei Schlagworten, sondern spricht auch über örtliche Mißstände: Er greift das Verhalten der Wohnungskommission an, berichtet über den Ausspruch des deutschnationalen Schneidergesellen Christian Hain, der gewünscht hatte, daß Rathenau schon vor zehn Jahren hätte umgebracht werden müssen und gibt seiner Empörung darüber Ausdruck, daß der Knecht Friedrich Huck wegen angeblicher Brandstiftung noch immer unschuldig im Wächtersbacher Gefängnis sitzt. Solche Reden sind nicht gerade dazu angetan, die Menschen zu beruhigen.

Dazu kommt, daß Landrat Delius vor der Demonstration den Arbeiterführern zugesichert hatte, keine Polizei und keine Reichswehr nach Wächtersbach zu entsenden, sich aber an diese Zusage nicht hält: Er hatte drei Landjäger ins Rathaus beordert. Das sollte unauffällig geschehen, war aber offenbar nicht unauffällig genug; denn es wird von den Demonstranten entdeckt. Die Empörung ist groß. Man diskutiert, die Gendarmen gewaltsam zu entwaffnen, beschließt aber dann, eine Kommission zu wählen, die ins Rathaus gehen und die Landjäger zur Abgabe ihrer Waffen und Teilnahme an der Demonstration bewegen soll. Der Kommission gehören Franz Kitzing, Johann Harnischfeger, der Wittgenborner Arbeiter Heinrich Beyer, der Schlierbacher Steingutmaler Ferdinand Dietz und andere an. Mit leichtem Druck lassen sich die drei verunsicherten Gendarmen Hedderich, Gräber und Hölzinger schließlich dazu bewegen, ihre Waffen abzugeben. Auch Bürgermeister Hankeln hatte ihnen angesichts der drohenden Menge vor dem Rathaus dazu geraten. Als die Kommission den Versammelten auf dem Marktplatz mitteilt, daß die Gendarmen freiwillig ihre Waffen ablegen und sich an der Demonstration beteiligen, wird das mit großem Beifall begrüßt.

Auf dem Platz wird derweil eine neue Kommission beauftragt, mit dem Erbprinzen im Wächtersbacher Schloß zu verhandeln. Es geht um Lohnforderungen der Schlierbacher Arbeiter – die fürstliche Familie Ysenburg war damals einer der größten Arbeitgeber der Region – und um das fürstliche Wild, das den ‚Fünf-Uhr-Bauern‘ die Feldfrüchte abfrißt. Ein Teil der Menge drückt das große Schloßtor auf und dringt in den Schloßhof ein, um dem Anliegen der Kommission Nachdruck zu verleihen. Der Erbprinz Ferdinand Maximilian geht bereitwillig auf alle Forderungen ein.

Aber noch etwas anderes erregt die Volksmenge: Es hatte sich herumgesprochen, daß die Reaktion im Schloß Waffen gehortet hätte. Um dieser Beunruhigung entgegen zu treten, waren Landrat Delius mit Kitzing und Dietz schon vorher ins Schloß gegangen. Der Erbprinz zeigte harmlos seine alte Waffensammlung und versicherte treuherzig, daß keine weiteren Waffen im Schloß seien.

Wie sich später herausstellte, waren die Karabiner, die die Arbeiter zwei Jahre zuvor beim Kapp-Putsch im Wächtersbacher Schloß beschlagnahmt und dann staatstreu den Behörden übergeben hatten, allerdings klammheimlich an den Fürsten zurückgegeben worden.

Wie arglos waren die Arbeiter damals, die die Waffen nicht selbst behielten, sondern brav ablieferten! Der Verdacht, daß erneut Waffen im Schloß gelagert seien, war also nicht unbegründet. Der in fürstlichen Diensten stehende Forstmeister Rudolf Schreiber sagt später vor Gericht aus, daß die Gewehre den einzelnen Förstern zur Bekämpfung der Wilddiebe ausgehändigt worden seien. Wer wollte das Gegenteil beweisen? Und – war das letztlich eine Beruhigung? Die Forstbeamten waren durchweg antirepublikanisch, deutschnational und kaisertreu. Wie würden sie die Waffen gebrauchen, wenn es zum Äußersten käme?

Und noch ein anderes Gerücht ist im Umlauf: Der in den Tagen des Rathenau- Mordes auswärts weilende Erbprinz soll ein Telegramm an die Seinen gesandt haben – mit dem bezeichnenden Wortlaut: „Hurrah! Der Frühling ist da!“

Wie konnte eine Telegramm in diesen Tagen äußerster Spannung anders als politisch gedeutet werden? – Zumal Ende Juni wohl kaum der jahreszeitliche Frühling gemeint sein konnte, sondern eher das Wiedererstarken der Republikfeinde. Auf dieses Telegramm wird noch zurückzukommen sein.

Also, die Stimmung ist gereizt bis zum Äußersten. Es brodelt in der Volksmenge. Während sich die Menschen auf dem Marktplatz noch formieren, ist der vordere Teil des Zuges bereits durch das Prinzessgässchen zum Haus des Schneidermeisters Hain vorgedrungen.

„Holt ihn raus, den Mörder, den Lump“, erschallen Rufe aus der Menge und einige Demonstranten schicken sich an, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Der Sohn des Schneidermeisters tritt heraus und wird von August Wittmann aufgefordert, an der Demonstration teilzunehmen: „Christian, geh‘ nur hinaus, du sollst die rote Fahne tragen“, sagt er zu Hain. Hain fügt sich der Übermacht und marschiert mit der roten Fahne in der Hand mit zum Wächtersbacher Marktplatz – ein Ritus, der sich an diesem Tag noch oft wiederholen sollte. Hain wird Monate später wegen dieser Vorkommnisse vom Gericht zu seiner Einstellung bezüglich des Rathenau-Mordes befragt. Er antwortet erwartungsgemäß: „Ich verurteile voll und ganz, daß der Minister Rathenau ermordet ist, daß der Jude Rathenau ermordet ist, freut mich.“

Nun wird von den Demonstranten erneut eine Kommission gewählt, die die Freilassung des Untersuchungsgefangenen Huck bewirken soll – eine schwierige Mission: Die Wächtersbacher Heinrich Leis und August Meyenschein, der Gärtner Friedrich Grüdtke, der Fabrikarbeiter Karl Wirth und andere übernehmen sie. Sie gehen ins Amtsgericht, werden bei Amtsrichter Volkmar vorstellig und fordern „im Namen der sozialdemokratischen Partei“ die sofortige Freilassung des Untersuchungsgefangenen Friedrich Huck.

Amtsrichter Volkmar windet sich: Er sei nicht befugt und seine Pflicht verbiete ihm das. Draußen wird es unruhig. Man hört Rufe wie: „Was soll das ganze Reden, ja oder nein!“ Was soll er tun? Da kommt ihm – ganz Bürokrat und auf seine Absicherung bedacht – die Idee, eine Quittung für die Aushändigung des Gefangenen zu verlangen. Dieses lächerliche Ansinnen lehnen die Kommissionäre ab. Statt dessen berichten sie der draußen stehenden Menge über den Stand der Verhandlungen. Die Demonstranten, immer noch von erstaunlicher Geduld, beschließen nun, den Bürgermeister Hankeln für ihr Anliegen einzuspannen. Man zieht zur Wohnung des Bürgermeisters am Marktplatz. Leis, Meyenschein und der Wittgenborner Zimmermann Wilhelm Müller gehen als Abgesandte zu ihm und fordern ihn auf, mit ihnen zum Amtsrichter Volkmar zu kommen. Aber auch Hankeln ist die Sache nicht geheuer. Er bietet der Kommission an, ihr ein Schriftstück mitzugeben. Das allerdings lehnen die Unterhändler ab. Schließlich ist er bereit mitzukommen und wird auf dem Marktplatz gleich gebührend empfangen. Rufe wie „Schuft, Lump, Halunke“ schallen ihm entgegen; er bekommt eine rote Fahne in die Hand gedrückt und muß an der Spitze des Zuges zum Amtsgericht marschieren.

Nun geht’s wieder zu Amtsrichter Volkmar, diesmal in Begleitung von Leis, Meyenschein und dem Fabrikarbeiter Christian Menzenbach aus Neuenschmidten. Die Menge vor dem Amtsgericht schreit und johlt. Einige besonnene Arbeiter postieren sich vor dem Eingang, um ein Eindringen der Menge ins Gerichtsgebäude zu verhindern. Auf Zureden des Bürgermeisters entschließt sich der Amtsrichter schließlich, den Gefangenen Huck freizugeben. Als er mit der Kommission vor das Amtsgericht tritt, wird er mit großem Jubel begrüßt.

Fast rührend ist, wie man sich um den befreiten Gefangenen, der während der Haft nur trocken Brot bekam, sorgt. Meyenschein, Leis, Wirth und der 21-jährige Ernst Protzmann aus Wittgenborn gehen mit ihm zur Gastwirtschaft Stein und verlangen für ihren Schützling zu Essen und zu Trinken sowie Schuhe und ein Hemd, was ihnen auch gegeben wird.

Monate später, als die Geschehnisse dieses Tages gerichtsrelevant werden, wird hieraus ein dem Huck verschaffter rechtswidriger Vermögensvorteil gedrechselt.

An diesem denkwürdigen 4. Juli 1922 wird mit vielen politischen Gegnern in Wächtersbach abgerechnet. Rund einem Dutzend Leuten der örtlichen deutschnationalen Reaktion stattet man Besuche ab. Dabei durchsuchen die Aufrührer meist die Häuser nach Kaiserbildern und zwingen den Hausherrn, sich mit einer roten Fahne in der Hand der Demonstration anzuschließen. Natürlich wird das nicht von allen gebilligt. Johannes Müller, Fabrikarbeiter aus Wittgenborn, versucht seine Genossen vergeblich zur Vernunft zu bringen: „Was macht ihr für einen Blödsinn“, ruft er, „unser Symbol, was wir verehren, zwingt ihr unseren Feinden auf!“ Und Wilhelm Ungermann, Betriebsrat im Fürstlichen Sägewerk Neuenschmidten, bemüht sich inständig, seine Kollegen von spontanen Gewalttaten abzuhalten.

Aber es nützte wohl nur wenig. Der Stein war ins Rollen gebracht. Die Wut über die nicht beseitigte Klassenherrschaft und die elenden wirtschaftlichen Verhältnisse muß ungeheuerlich gewesen sein und machte sich Luft. Der Demonstrationszug marschiert zum Apotheker Horn; der soll mitkommen, er schützt jedoch vor, er sei allein im Haus und könne die Apotheke nicht verlassen. „Das ist egal. In der Zwischenzeit wird keiner krank“, wird ihm entgegnet. Schließlich erklärt sich der zufällig anwesende Herr Katz bereit, den Apotheker zu vertreten. Dieser weigert sich dennoch. Darauf holt man Verstärkung von draußen; und 50 bis 60 Mann dringen in die Apotheke ein. Rufe wie „Schuft, deutschnationaler Fettwanst“ schallen dem Apotheker entgegen. Man zwingt ihn, Rock und Kragen abzulegen, die verhaßten Symbole der Bourgeoisie, und mit roter Fahne im Zug mitzumarschieren.

Im Verlauf der Demonstration werden noch weitere Republikfeinde besucht: der Sattlermeister Kolb in der Hauptstraße, der Bergwerksdirektor Glöckner und Feldhüter Stein, dem man vorwirft, er zeige die armen Leute an, wenn sie Holz sammeln. Bei Oberstraßenmeister Wolf wird Kaiser Wilhelms und Bismarcks Konterfei von der Wand genommen; im Gasthaus Schützenhof werden ebenfalls Bilder der kaiserlichen Generäle Hindenburg und Ludendorff konfisziert und bei Kleinbahndirektor Cordes in der Hesseldorfer Straße werden Kaiser Wilhelm und Hindenburg durch Messerstiche unkenntlich gemacht. Die leeren Bilderrahmen werden allerdings dem Dienstmädchen akkurat zurückgegeben; die Herrschaften hatten derweil das Weite gesucht. Auch im Haus des Kammerdirektors Wörner trifft man den Hausherrn nicht an. Aber man findet auch hier reaktionäre Requisiten: Die Kaiser-Wilhelm-Büste fliegt in hohem Bogen aus dem Fenster und zerschellt auf dem Pflaster. Den Forstmeister Schreiber trifft man bei Gastwirt Grau im Gasthaus Zum Erbprinzen an. Er wird aufgefordert, ein Hoch auf die Republik auszubringen und mit roter Fahne im Demonstrationszug mitzumarschieren, was er, wohl oder übel, auch tut.

Gegen Ende der Demonstration am Abend ziehen die Schlierbacher Arbeiter, 80 bis 100 Personen, nach Hause und machen auf dem Weg noch Station beim Forsthaus Ziegelhütte in Weilers. Hier wohnt der Revierförster Sroka, der am Fenster steht und den Zug herannahen sieht. „Du stehst schon lange auf der Liste, Du schreibst die armen Leute auf“, schallt es ihm entgegen. Und der Udenhainer Maurer Konrad Wilhelm setzt hinzu: „Du hast meine Frau angezeigt, weil sie etwas Leseholz gesammelt hat!“

Die Menge ist inzwischen in den Hof eingedrungen. Sroka fragt, immer noch am Fenster stehend: „Wer ist euer Führer?“ Die Demonstranten antworten ihm: „Wir sind alle Führer!“ Da Sroka nicht herunterkommen will, heißt es: „Brecht die Tür auf!“ Dabei geht eine Fensterscheibe zu Bruch. Nun lenkt Sroka ein und kommt heraus. Auch er bekommt eine rote Fahne in die Hand gedrückt und muß sie an der Spitze des Zuges bis nach Schlierbach tragen. In Schlierbach angekommen, stattet man noch Werkmeister Singer und Magazinchef Schleicher einen Besuch ab; dann setzen starke Regenfälle ein und ein ereignisreicher Tag geht seinem Ende entgegen.

Wäre die deutsche Geschichte im Weiteren anders verlaufen, so wäre dieser Tag wohl als Gedenktag der Arbeiterbewegung im Vogelsberg in die Annalen eingegangen. So aber – eingedenk der Tatsache, daß es der Linken in der Weimarer Zeit nicht gelang, ihre 1918/19 begonnene Revolution zu Ende zu bringen und eingedenk der Tatsache, daß ein Jahrzehnt später die Reaktion die Macht erlangen konnte – sahen sich die Aufrührer dieses Tages einige Monate später auf der Anklagebank des Hanauer Landgerichtes. Denn die Geschichte wird stets von den Siegern geschrieben.

Gewiß war das alles nicht nach Recht und Gesetz, was sich am 4. Juli 1922 in und um Wächtersbach abspielte. Dennoch zeugt es von großem Gerechtigkeitsgefühl der Massen, welches bei den Anpassungsleistungen, die der Justizapparat vom einzelnen Juristen fordert, nur allzuleicht unter die Räder gerät. Wenn das alles, was geschah, verwerflich gewesen sein soll, wenn darin lediglich die gesetzwidrige Gewalt gegen Personen und Sachen erblickt wird, dann sollte man auch tunlichst davon Abstand nehmen, den Sturm auf die Bastille zu feiern, den Aufständischen des deutschen Bauernkrieges beizupflichten oder Wilhelm Teil zu verehren. „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“, hatte ein gewisser Karl Marx schon mehr als fünfzig Jahre vor diesen Ereignissen notiert. So wird es wohl sein. Billiger ist die Revolution nicht zu haben.

Die Wächtersbacher Revolutionäre haben für ihre Taten schwer zu büßen. Nicht nur, daß so genannte Rädelsführer sofort festgenommen werden und in einem bombastischen Prozeß zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt werden; viele von ihnen sind auch zehneinhalb Jahre später unter den ersten, die von den Nazis 1933 inhaftiert werden. Denn die Wächtersbacher Rechte erinnerte sich noch gut an ihre Schmach im Jahr 1922 und nahm nun Rache.

Die Schrecken der Wächtersbacher Juli-Ereignisse von 1922 scheinen den Bürgerlichen ordentlich in die Glieder gefahren zu sein, denn Bürgermeister Hankeln und der Magistrat beeilen sich nach den Ereignissen, in einer öffentlichen Erklärung noch einmal zu beteuern, daß niemand den Einsatz der Schutzpolizei für Wächtersbach beantragt habe. Und Landrat Delius erläßt ein sofortiges Demonstrationsverbot. Auch Kleinbahndirektor Cordes reagiert: Er stellt bereits am 6. Juli 1922 Strafantrag, einige Wochen später schließen sich Apotheker Horn, Sattlermeister Kolb, Revierförster Sroka, Magazinchef Schleicher, Oberstraßenmeister Wolf und Bürgermeister Hankeln an.

Einer der ersten, die verhaftet und in Untersuchungshaft genommen werden, ist der 35-jährige Heinrich Leis. Von ihm ist ein Brief aus dem Gerichtsgefängnis Hanau erhalten geblieben, den er an seine Frau Elisabetha schrieb – ein Brief, der wahrscheinlich von der Gefängnisleitung abgefangen wurde und deshalb die Empfängerin nie erreichte. Not und Empörung, aber auch Solidarität spiegeln sich in den Zeilen wider: Heinrich Leis bittet seine Frau umgehend, die Kollegen im Bergwerk von seiner Verhaftung zu unterrichten. „Peter [Moser] und [Jean] Bios sollen sofort Geld sammeln von den Bergarbeitern und sollen es dir geben, damit ihr nicht verhungert. “

Auch soll das Gewerkschaftskartell über die Verhaftungen informiert werden, auch dort soll man Geld sammeln für die Inhaftierten: „Ich bin überzeugt, daß alle Arbeiter gern geben für mich“, schreibt Leis. Und er macht sich Sorgen über die viele landwirtschaftliche Arbeit zu Haus, die nun liegenbleibt; denn die Kartoffeln und die Dickwurz müssen gehackt werden, zwei Wiesen müssen gemäht werden, das Korn muß abgemacht und nach Haus gefahren und das Holz muß aus dem Wald geholt werden, „denn solche Ungerechtigkeit kann man sich nicht bieten lassen, daß man einen Familienvater von vier Kindern und meiner kranken Frau wegnimmt und gibt die arme Frau und Kinder dem Hungertod über – das kann nicht gehen.“

Es geht. Und kurze Zeit später ist seine Frau Elisabetha Leis tot. Heinrich Leis wird lange in Untersuchungshaft behalten, viele seiner Mitkämpfer ebenfalls. Ende Oktober 1922 eröffnet man ein gigantisches Verfahren vor dem Hanauer Landgericht: 64 Angeklagte, rund 80 Zeugen, zwei Wochen Verhandlungsdauer. Eine Liste der Angeklagten ist auf Seite 25 [des Buches] abgedruckt.

Die Anklage lautet auf Aufruhr, Gefangenenbefreiung, Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, schwerer Hausfriedensbruch, Beamtennötigung, Nötigungsversuch und Erpressung. Die Angeklagten haben gemeinsam einen Verteidiger: den Frankfurter Rechtsanwalt Dr. Löwenthal aus der Kanzlei des bedeutenden sozialdemokratischen Rechtsgelehrten Prof. Hugo Sinzheimer. Die Leser des Gelnhäuser Tageblatts können den Prozeß in ihrer Zeitung verfolgen. Die Berichterstattung ist sehr ausführlich und bezüglich der Nennung der Namen von Angeklagten und Zeugen – entgegen aller Gewohnheit – nicht zimperlich. Denn es handelt sich bei den Angeklagten durchweg um Leute aus dem gegnerischen politischen Lager: Der Bergarbeiter Heinrich Leis ist sicher ein bekannter Mann gewesen, denn er war in der Novemberrevolution 1918 der Erste Vorsitzende des Soldatenrates von Wächtersbach. Ein anderer Angeklagter, August Wittmann, war stellvertretender Vorsitzender des Wächtersbacher Arbeiterrates. Ferdinand Dietz, Johann Harnischfeger, Johannes Müller und Heinrich Beyer gehörten zum Vorstand des Gewerkschaftskartells. Wilhelm Ungermann war Vorsitzender des Holzarbeiter-Verbandes. Karl Rühl war sozialdemokratischer Jugendleiter.

Der Staatsanwalt fordert insgesamt 40 Jahre Gefängnis und 100.000 Mark Geldstrafe. Am Ende des Prozesses werden 26 Angeklagte verurteilt – zu im ganzen elf Jahren und zwei Monaten Gefängnis und 24.000 Mark Geldstrafe.

Ein Kuriosum am Rande des Prozesses in Hanau sind die Aussagen des Erbprinzen Ferdinand Maximilian zu Ysenburg und Büdingen: Er ist am 7. November 1922 auf Antrag der Angeklagten als Zeuge geladen und soll zu dem fraglichen Telegramm „Hurrah! Der Frühling ist da!“, welches in den Tagen des Rathenau-Mordes für Unruhe sorgte, aussagen. Er nimmt auf seinen Eid, daß er erstens am Tag des Rathenau-Mordes bereits wieder in Wächtersbach war und zweitens ein Telegramm besagten Inhalts weder abgesandt noch erhalten hat. Der Staatsanwalt mutmaßt sogar, daß es sich um eine Fälschung handeln könnte, also um ein in die Welt gesetztes Gerücht, das die Stimmung für revolutionäre Umtriebe anheizen sollte.

Drei Tage nach dem fürstlichen Eid vor dem Hanauer Landgericht weilt der Erbprinz in Berlin und schreibt dem Herrn Staatsanwalt einen Brief. Darin heißt es: „Heute traf ich hier den Grafen Gerhard Arnim, der gegen den 22. – 24. September dieses Jahres bei mir in Wächtersbach zu Besuch war. Gesprächsweise erzählte ich ihm oben Erwähntes [seine Aussage im Prozeß].

Darauf sagte er mir, daß seine Frau in Wächtersbach am 23. oder 24. September das Telegramm des Inhalts ‚Hurrah der Frühling ist wieder da‘ erhalten hätte.- Grund war folgender: Im August wurde dem Grafen in Groß- Sperrenwalde (Uckermark) ein Schimmel gestohlen. Am 23. oder 24. September gelang es, dem Dieb das Pferd wieder abzunehmen. Das Pferd hieß ‚Frühling‘. Das war die Mitteilung. Ich habe von dem Telegramm damals keine Kenntnis gehabt, fühle mich aber verpflichtet, zur Aufklärung der Sache, dies der Staatsanwaltschaft sofort zur Kenntnis zu bringen. Erbprinz Ysenburg“.

Was soll man von dieser phantastischen Geschichte halten? Ein gestohlener Schimmel namens Frühling und ein Telegramm im September, also zweieinhalb Monate nach den Wächtersbacher Unruhen. Hatte der fürstliche Sproß kalte Füße bekommen wegen seiner eidlichen Aussage?

Diese windige und gleichzeitig dreiste Pferdegeschichte, die der Erbprinz der Staatsanwaltschaft auftischt, spielt im weiteren Verlauf des Prozesses keine Rolle mehr, denn der erbprinzliche Brief aus Berlin wurde am Freitag, dem 10. November 1922, geschrieben. Am Montag, dem 13. November 1922, aber wurde bereits das Urteil verkündet. Wie stets in solchen Verfahren geht es nicht um die politischen Hintergründe, die erst zu den strafrechtlich relevanten Handlungen führten, sondern lediglich um die Taten; nach den Motiven wird wenig gefragt.

Anzumerken bleibt, daß nicht lange nach den Wächtersbacher Juli- Ereignissen die Nationalsozialisten in München einen Putschversuch unternehmen, den später so genannten Hitler-Putsch. Hier ging es um sehr viel mehr als in Wächtersbach, nämlich um den Bestand der Republik, also um Hochverrat. Hitlers Anhänger in München verschleppten Mitglieder der bayrischen Landesregierung, besetzten das Kriegsministerium, nahmen Geiseln und ließen mehr als ein Dutzend Tote vor der Feldherrnhalle zurück. Und wie reagierte die Justiz? Sie sprach die Beteiligten frei oder verurteilte sie meist zu zur Bewährung ausgesetzten Festungshaft-Strafen, also Strafen, die – im Gegensatz zu Gefängnisstrafen – nicht entehrend sein sollten! Hitler verbrachte nicht einmal ein Jahr in Haft; Weihnachten 1924 werden er und seine Spießgesellen begnadigt – ein Indiz dafür, daß die republikanischen Errungenschaften dem Volk wenig nützen, wenn die alte Kaste der Richter und Staatsanwälte in einem neuen Staat nicht ausgewechselt wird. Denn aus welchen Familien kamen diese Herren? Aus den besitzenden Klassen. Und sie dachten und fühlten wie diese.

Im Hanauer Landgerichtsprozeß ändert auch die eingelegte Revision nichts an dem Urteil: Das Reichsgericht bestätigt im wesentlichen die Strafen der Verurteilten im Sommer 1923. Die späteren Gnadengesuche der Anwälte und der KPD-Fraktion des Preußischen Landtages haben zum Teil Erfolg. Dennoch muß es ein gewaltiger Schock für die meist jungen und unbescholtenen Arbeiter gewesen sein, sich unversehens im Gefängnis wiederzufinden. Der Staat hatte einmal mehr klargestellt, daß er ihre Version einer künftigen Gesellschaft, in der die Arbeiter das Sagen haben, nicht teilte.

Wie häufig in der Geschichte, so folgte auch hier der Tragödie die Farce. Kaum sind die ersten Verhaftungen nach den Wächtersbacher Juli- Ereignissen vorgenommen worden, bestraft Landrat Delius, der während der Demonstration im ‚Ysenburger Hof’ saß und sich nicht vor die Tür traute, seine drei entwaffneten Landjäger mit einem Verweis. Die Disziplinarstrafe begründet er mit dem ‚befehlswidrigen‘ und für einen Beamten ‚unwürdigen Verhalten‘. Die drei verteidigen sich: Bürgermeister Hankeln habe ihnen Befehl erteilt, ihre Waffen abzulegen, nachdem die Arbeiter gedroht hätten, sie gewaltsam zu entwaffnen. Bürgermeister Hankeln, vom Landrat zur Rede gestellt, hält sich bedeckt: Er habe den Landjägern selbst die Entscheidung überlassen. So will es letztlich keiner gewesen sein. Die Hosen gestrichen voll hatten sie wohl alle fünf.

Und Bürgermeister Hankeln schickt nun gleich die Retourkutsche: Er ist erstmal dienstunfähig aufgrund der vielen Schrecken und Aufregungen, die er hatte durchstehen müssen. Er erkrankt an einer ‚Schreckneurose‘ und macht postwendend seine Rechnung auf für Heilbehandlung, Reisekosten, Bäder und Medikamente, selbstverständlich auch für seine Frau Gemahlin, die ja ebenfalls erschreckt worden ist. Darüber hinaus stellt er in Aussicht, daß er wegen seiner Beschwerden vorzeitig in Ruhestand gehen müsse. Auch der hierdurch zu erwartende Gehalts- und Pensionsausfall wird gleich mal angemeldet. Und wirklich: Hankeln bleibt nicht bis zum Ende seiner Amtszeit im Wächtersbacher Rathaus. Zwei Jahre vor Ablauf seiner Dienstzeit nimmt er seinen Hut.

Aus:

dem Buch der Historikerin Dr. Christine Wittrock: Kaisertreu und Führergläubig

 

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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