Schuldbekenntnis I
oder
Ein Sieg der Chaostheorie
Angestiftet von den Alten
Vater, Mutter, Schwestern, Brüder
letztere mit noch nicht ausgeträumten
Wehrwolfträumen
haben wir im zarten Alter
zwischen drei und dreizehn Jahren
beim Onkel in der DDR
als Ferienkinder
tagtäglich
unsre Händchenvoll
Kartoffelkäfer
in die Felder
der Genossen
aberteuerlistig um uns blickend
und die Amihosen voller Angst
vorm bösen Russen
durch die Kommunistenfurchen kriechend
zwischen den Kartoffelstauden
subversiv verteilt
Die LPG
für uns ein Sammelsurium
von Tauge-
und von Habenichtsen
und von -Gott sei bei uns-
Kommunisten
das war der Teufel
war der Feind
der Unmensch
und der Untermensch
Wir bettelten
mit Unschuldsengelsaugen
um eine Mitfahrt auf der Sähmaschine
Wir boten unsre Hilfe an
Und die Genossen hoben uns
die kleinen Gäste aus dem Westen
freundlich lachend und besorgt
nicht ohne Stolz
verordnetes Mißtrauen mißachtend
auf ihr altersschwaches Ungetüm
der Marke Fortschritt
Wir streuten Unkrautsamen
in das Saatgut
Wir klauten Mais
nicht weil wir Hunger hatten
sondern für die Freiheit
und die Macht am Rhein
Und ließen uns
die MTS-Mechaniker
in ihrer Werkstatt
die Traktoren inspizieren
warn unsre zarten Händchen
noch zu schwach
zum Schraubenlockern
Wir waren inspiriert
durch die Plakate
die in den Kindergärten, Schulen hingen
die zeigten
wie der Klassenfeind von Westen
per Flugzeug
diesen Staat der Arbeiter und Bauern
und seine junge Saat
durch abgeworfne Schädlinge
in die sieben Plagen jagt.
Wir haben es gewagt
Wir haben in den Kindergärten
in den Schulen
mit unseren Klamotten rumgeprahlt
vor Kindern
deren Eltern
den letzten Krieg
nicht allein
verloren haben wollten
Und Wir?
die Schulspeisung war abgeschafft
die Carepakete leergefressen
im Westen nix zu beißen
für zu viele Kinder
statt Fahne
jetzt die Nase hoch
wir haben uns
in unsre leeren Amihosen
Oststullen füttern lassen
und mit vollen Kinderpausebäckchen
gegen diesen Staat gehetzt
Und jetzt
ist er am Ende
Ein bißchen kam die Wende
durch zigtausend solcher Kinder-
und auch durch meine Hände
HaBE geschrieben ca. 1990
Schuldbekenntnis II
Wo waren Sie denn
am 2. August
als Kuwait überfallen wurde
von diesen Menschenschlächtern
da haben Sie nicht demonstriert
da haben Sie nicht laut geschrien:
»Kein Blut für Öl!«
da haben Sie doch-
da haben Sie ganz einfach
weggesehen
sich nicht empört
Wo waren Sie denn
am 2. August?
Entschuldigung
am 2. August
hab ich
es tut mir wirklich leid
grad meiner ersten großen Liebe
nachgetrauert
am 2. August
da waren noch Ferien
und ich war in der 8. Klasse
als Groß Britannien Kuwait
vom Irak abtrennte
als General Khassem
das schwarze Gold
in Kuwait nationalisierte
als er erschossen wurde,
weil er der British-Petroleum-Company
die Öl-Bohr-Konzession entzog
und Downing-Street Kuwait besetzte
und Shaba, ihren Mann einsetzte
als Scheich von Kuwait
und von Englands Gnaden
da weinte ich aus Liebeskummer
und nicht aus Trauer
um Tausende von Toten
Entschuldigung
ich war da völlig unpolitisch
nur, wenn ich mich besinne
fällt mir ein,
um einem Mädchen
im Konfirmantenunterricht
zu imponieren
kam ich mit braunem Schlips
und Kaki-Hemd und Stiefeln
zur Bibelstunde
und ich verehrte einen großen
Franzosen
General Massu
der tausende Algerierinnen
hat schlachten lassen
im Auftrag des Ministers
Francois Mitterand
und Charles de Gaules
Entschuldigung
am 2. August
1961
als Kuwait
von den Briten überfallen wurde
da habe ich
für Konrad Adenauers CDU
grad Handzettel verteilt
Entschuldigung,
es soll nicht wieder vorkommen.
Endlich frei
Endlich
kann ich
Dich besuchen
Ich war Dir achtundzwanzig Jahre treu
in denen mich die einen tausendmal nach drüben fluchten
und die andern mich nicht rüber ließen
Du hast seit achtundzwanzig Jahren
keinen Brief von mir erhalten
am Telefon hat Dich kein Wort erreicht
wir haben lediglich
das Wetter melden können
und daß die Großmutter gestorben ist
und die Geburt der Kinder
übern Todesstreifen
Endlich
kann ich
mit Dir reden
jetzt hängt die Stasi
nicht mehr in der Leitung
nur der Verfassungsschutz
hört mit
wenn ich
Deinen Bruder frage
auf welchem Friedhof
Du begraben bist
Sie hatten Dich grad ausgekrebst
im Smog von Bitterfeld
bevor die Mauer fiel
bist Du ins Grab gefallen.
Was sind wir doch für ein Volk
Deutsch-deutsche Angleichung
Bis zum November neunzig
war ich arbeitslos
Heute bin ich
noch arbeitsloser
Ordnung herrscht
in der Ausländerbehörde
Schlachtordnung
Ruhe herrscht
im Ordnungsamt
durch den Flur
hallen stumme Schreie
Die Toiletten
werden täglich
vorschriftsmäßig
desinfiziert
Nur der eingetrocknete
Angstschweiß
auf dem Boden
vor den Schreibtischen
auf den Stühlen
und Bänken
lässt sich nicht verwischen