Wenn die Wahrnehmung der (israelischen, HaBE ich eingeschoben) Realität zum Tabu wird
Die Partei Die Linke hat sich im Diskurs um den Palästina-Konflikt von der Wirklichkeit verabschiedet
Arn Strohmeyer
(KROKODIL / Ausgabe 25 Juni 2018)
Mit Bezug auf Hannah Arendt macht der israelische Philosoph Omri Boehm eine erstaunliche Feststellung, die für die gegenwärtige Situation in westlichen Gesellschaften – speziell aber für Deutschland – von höchster Aktualität ist. Danach haben moderne Gesellschaften die merkwürdige Tendenz, „öffentlich bekannte“ Tatsachen als „Geheimnisse“ zu behandeln Dieselbe Öffentlichkeit, die diese Tatsachen kenne, bringe es fertig, dass diese „mit bestem Erfolg und häufig sogar spontan zu Tabus erklärt“ würden. Sie dennoch laut und deutlich auszusprechen könne dann so gefährlich sein wie die „Verkündigung gewisser Häresien in früheren Zeiten.“ Eine solche Tabuisierung der Fakten lähme die öffentliche Diskussion der israelischen Politik seit Jahren, merkt Boehm an.
Mit dieser Beschreibung ist der Zustand der offiziellen Debatte um Israels Politik in Deutschland optimal beschrieben. Die Wirklichkeit des israelischen Okkupationsregimes über die Palästinenser wird völlig ausgeblendet, als gebe es sie gar nicht. Solidarität mit Israel und die Sorge um seine Sicherheit sind „Staatsräson“, nicht einmal die Kriterien der UNO-Charta und des Völkerrechts dürfen beim Blick auf Israel zur Anwendung kommen. Jede Kritik, die sich auf diese humanitären Kriterien bezieht, wird sofort in hysterischer Weise mit dem verleumderischen Argument des „Antisemitismus“ belegt. Die Entschließungen der Bundestagsparteien zu „70 Jahren Israel“ legten dazu wieder einmal Zeugnis ab. Dass eine solche opportunistische Politik die israelische Regierung in ihrer Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern nur unterstützend bestärkt und sie in ihrem Tun fortfahren lässt (also völlig kontraproduktiv ist), soweit denkt man gar nicht.
Nun müsste man aber eigentlich gerade von der Partei Die Linke Widerspruch erwarten, denn der Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung, für Menschenrechte und Völkerrecht (also eine im besten Sinne universalistische Position) ist eigentlich das Wesens- und Kernelement jeder wirklichen linken Politik. Diese programmatische Verpflichtung hat die deutsche Linkspartei (abgesehen von einigen verdienstvollen Abgeordneten und oppositionellen Splittergruppen) aber ganz offensichtlich völlig aufgegeben. Der Beleg dafür ist nicht zuletzt der Antrag der Fraktion der Linkspartei zu „70 Jahren Israel“ im Bundestag. Er ist nicht nur beinahe völlig identisch mit dem Antrag von CSU und CDUSPDFDP, sondern ist sogar noch israelfreundlicher und gleichzeitig den Palästinensern gegenüber geradezu feindlich eingestellt.
Der in Ramallah lebende und arbeitende Hydrologe Clemens Messerschmid (ein exzellenter Kenner der Nahost-Materie) hat in einem empörten Brief an die Fraktionsvorsitzende der Linken Sahra Wagenknecht die Ungeheuerlichkeiten, die sich ihre Partei mit ihrem Antrag geleistet hat, detailliert aufgelistet. Er stellt fest: „Sie schaffen es, auf sieben Seiten, in 1750 Worten, und vor allem in den 16 Forderungen weder Westbank noch Gaza, weder Besatzung noch Annexionen, weder die ‚Nakba‘ noch die Gaza-Blockade, weder Militärrecht noch Ressourcenraub, weder Folter noch Administrativhaft, weder Angriffskriege noch das zugleich zur Bundestagsdebatte ablaufende Massaker in Gaza auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Am offensichtlichen Totalbankrott des sog. ‚Friedensprozesses‘ gibt Ihr Antrag einseitig den Palästinensern die Schuld.“
Empört bilanziert Messerschmid: „Was soll ich in Zukunft meinen palästinensischen Freunden und Partnern sagen? Dass sie verstehen müssen, dass ihre Freiheit, ihre minimalsten Forderungen, dass ihre Würde, ihr Menschenrecht, ihre Freiheitsambitionen sich leider unterordnen müssen unter die Bestrebungen deutschen Parlamentarier/innen, endlich im der Mitte anzukommen, im Riesen-GroKo-Konsens einer Kriegs-, Besatzungs- und Annexions-freundlichen ‚Staatsräson‘?“ Natürlich hat Sahra Wagenknecht den Brief von Clemens Messerschmid nicht beantwortet.
Ähnlich hat auch der israelische Historiker und Soziologe Moshe Zuckermann auf den Bundestagsantrag der Linken zu Israel reagiert. In einem Interview ging er zunähst auf die Behauptung der Linken ein, in Israel existiere eine „lebendige Demokratie“: „Israel ist ein Land, das seit 50 Jahren ein brutales Okkupationsregime unterhält, mit dem es das palästinensische Volk knechtet, und mit einem riesigen Siedlungswerk permanent völkerrechtswidrige Expansion betreibt. Das ist keine Demokratie. Das ist keine Zivilgesellschaft. Das ist ein Land, das jedes Recht verwirkt hat, sich noch auf die ‚Lehren von Auschwitz‘ zu berufen.“
Zur Bundestagsrede des Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch ebenfalls zu Israels „70. Geburtstag“, in der er erklärt hatte, es sei nicht die Aufgabe eines demokratischen linken Politikers, „Israel zu belehren“, sagte Zuckermann: „Wenn Bartsch tatsächlich meint, dass es nicht Aufgabe eines demokratischen linken Politikers sei, Israel zu belehren, dann sollte er – und mit ihm vielleicht gleich seine ganze Fraktion – am besten ganz verstummen. Was soll das heißen – ‚belehren‘? Israel betreibt ein barbarisches Besatzungsregime – seit wann muss man als linker Politiker Lehrmeister werden, um sich gegen diesen menschenverachtenden Zustand zu widersetzen? Selbst feige Rationalisierungen sollten zumindest ein Mindestmaß an Niveau wahren, wenn sie ernstgenommen werden wollen.“
Zuckermann zieht die Bilanz, dass Die Linke eben gar keine linke Partei mehr sei, weil sie die Grundsätze linker Politik schlicht verraten habe. Weil das aber so sei, habe sie sich dem Untergang verschrieben. Man kann Zuckermanns Argumentation gut an einem konkreten Beispiel belegen. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow schloss sich der Aktion „Deutschland trägt Kippa“ an und zeigte sich in Erfurt mit einer gehäkelten Kippa, aber offenbar ohne jede Kenntnis der Sache. Nun muss man wissen, dass die allermeisten Juden auf der Welt (auch die Juden in Israel) keine Kippa tragen, weil sie säkular orientiert sind. Eine schwarze Kippa tragen die orthodoxen Juden, die aber keine Zionisten, sogar Antizionisten sind, also gegen den Staat Israel eingestellt sind.
Und eine gehäkelte Kippa tragen die nationalreligiösen Siedler, die permanent völkerrechtswidrig palästinensisches Land besetzen und die palästinensische Bevölkerung drangsalieren, um sie zu vertreiben. Der renommierte israelische Philosoph Yeshayahu Leibowitz bezeichnete sie als „Nazi-Juden“. Identifiziert sich Ramelow wirklich mit dieser Bewegung, die den Mörder Dr. Baruch Goldstein, der in der Moschee von Hebron 29 Muslime erschoss, wie einen Heiligen verehrt? Das Peinliche an der Kippa-Aktion in Deutschland ist, dass hier Juden mittels ihrer Kopfbedeckung auf das Religiöse reduziert werden, was die meisten von ihnen gar nicht wollen.
Das ganze Elend der Linken in ihrer Stellung zum Israel-Palästina-Konflikt ist keineswegs neu. Im Jahr 2010 veröffentlichten die beiden Aktivisten Hermann Dierkes und Sophia Deeg ein Buch mit dem Titel „Bedingungslos für Israel? Positionen und Aktionen jenseits deutscher Befindlichkeiten“. Darin findet sich ein „Brief an die ‚wahre deutsche Linke‘“ von dem israelischen Anwalt Yossi Wolfson, der sich in Deutschland bei „linken“ Freunden über deren Position zum Palästina-Konflikt informiert hatte. Er war „fassungslos“ und „geschockt“, was er da mitbekam. In dem Brief heißt es: „Mir wurde klar, dass es in der deutschen Linken eine lautstarke Gruppe gibt, die die Solidarität mit meinem Kampf als antisemitisch bezeichnet und mich selbst als einen mit Selbsthass infizierten Juden. Wie in einer auf den Kopf gestellten Welt werden die israelischen Generäle-Politiker, die die Unterdrückung in den besetzten Gebieten ins Werk setzen, und der extrem liberalen bzw. rechten israelischen Regierung an die Macht geholfen haben, von diesen Leuten innerhalb der deutschen Linken zu Helden erklärt. Der israelische Soldat, der seine Aufgabe, die [palästinensische] Zivilbevölkerung zu unterdrücken, erfüllt, ist für deutsche Linke ein Vorbild.“
Fassungslos fragt sich der Israeli Yossi Wolfson, ob er sich in einen Albtraum verirrt habe: „Wie kann es sein, dass solche Stimmen aus der Linken kommen, die für mich immer ein Vorbild war, eine legendäre revolutionäre Kraft zu sein. (…) Wie kann es sein, dass diejenigen, die sich in der Nachfolge von Marx, Luxemburg und Adorno wähnen – einen Krieg unterstützen, die wahllose Tötung von Zivilisten, wirtschaftliche und politische Ausbeutung und Unterdrückung, Apartheid und Kolonialismus! Was man aus der Ferne sieht, sieht man aus der Nähe nicht. Denkt man in Deutschland wirklich, dass die Unterstützung der Politik der israelischen Regierung, eine für beide, Palästinenser wie Juden, verheerende Politik, der Königsweg ist, den Antisemitismus zu bekämpfen?“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
27. 05.2018