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Aus: Ausgabe vom 17.03.2001 / Inland
Der Arzt als Denunziant?
Die medizinische Versorgung »heimlicher Migranten« bedarf der politischen Lösung
Sie leben in Deutschland ohne Aufenthaltsrecht: nach Schätzungen von Flüchtlingsinitiativen zwischen 500 000 und einer Million »heimliche Migranten« oder »Papierlose«. Genaue Zahlen gibt es nicht. Die Bezeichnung »Illegale« lehnen Menschenrechtsorganisationen ab, denn sie kriminalisiert pauschal die heterogene Gruppe dieser Menschen. »Illegal« nach õ 92 des Ausländergesetzes leben unter anderem abgelehnte Asylbewerber, die untergetaucht sind; Familienangehörige »legal« in Deutschland Lebender, die ohne Genehmigung nachziehen; ein Partner einer »islamischen Ehe«, die nach deutschem Recht nicht gültig ist; mit Touristenvisa Eingereiste, die hier geblieben sind. Hinzugekommen sind Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie arbeiten schwarz auf dem Bau oder in der Gastronomie, als Putzhilfe oder Gärtner in privaten Haushalten. Grundsätzlich wären die heimlichen Migranten auch bei Schwarzarbeit krankenversicherungspflichtig. Jedoch ist nicht anzunehmen, daß sich die Nutznießer billiger Arbeitskraft selbst denunzieren.
Ein Migrant ohne gültigen Aufenthaltsstatus kann theoretisch die gleiche medizinische Versorgung in Anspruch nehmen wie ein Asylbewerber. Aus õ 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) ergibt sich ein reduzierter Leistungsanspruch bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen. Die Kritik dazu von seiten der Ärzteschaft: Die Abgrenzung sei bei vielen Krankheitsbildern und – verläufen nicht möglich; der õ 4 widerspreche dem Präventionsgedanken und sei ethisch bedenklich.
Im Vergleich zu den Asylbewerbern besteht bei den »heimlichen Migranten« ein weiteres Problem: Aus Angst, abgeschoben zu werden, suchen sie ärztliche Hilfe nur in gravierenden Fällen auf. Mit der Folge, daß sie nicht nur ihre eigene Gesundheit gefährden, sondern möglicherweise auch die anderer: Ansteckende Infektionserkrankungen, offene TBC oder HIV werden nicht erkannt.
Flüchtlingsinitiativen, Wohlfahrtsverbände, kirchliche Einrichtungen und Versorgungsnetze politisch engagierter Ärzte bieten eine medizinische Grundversorgung für diese Menschen – unentgeltlich und ohne Abschiebungsrisiko. Beispiel: Das »Büro für medizinische Flüchtlingshilfe« in Berlin – dort leben rund 100 000 Menschen ohne Aufenthaltsrecht – vermittelt jährlich fast 1 200 Menschen an etwa 100 Praxen. Die 25 Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich. Die bei Behandlungen entstehenden Sachkosten werden über Spenden finanziert. In rund zehn weiteren Städten gibt es ähnliche »Büros«.
Die Ärztekammer Niedersachsen beschloß im November 1997, die Initiative »Kein Mensch ist illegal« zu unterstützen und eine Grundversorgungsstruktur aufzubauen. Nach dem Motto »Menschenwürde ist unteilbar – Gesundheit für alle« behandeln zehn Ärzte anonym und unentgeltlich. Die Ärztekammer Bremen unterstützt das von der Flüchtlingsinitiative Bremen gegründete »MediNetz«. 50 Hilfesuchende wurden seit der Gründung im April 2000 vermittelt.
Der Bedarf an Ärzten ist bei allen Initiativen groß. Dr. med. Jan Adolphsen, Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, Berlin, hält die Ausweitung der ehrenamtlichen Strukturen jedoch für den falschen Ansatz: »Man darf den Staat nicht aus der Pflicht nehmen.«
Die Rechtslage: Die wenigsten »heimlichen Migranten« sind in der Lage, die Arztrechnungen privat zu begleichen. Zur Kostenübernahme müssen sich die Ärzte daher an die Sozialämter wenden. Die Bediensteten dort stellen im Regelfall fest, daß der Erkrankte, dessen Arztkosten die Sozialhilfe übernehmen soll, nicht gemeldet ist. Sie müssen dies der Ausländerbehörde melden (õ 76 Abs. 1 und 2 AuslG) – die Abschiebung wird in die Wege geleitet.
Ärzte unterliegen dieser Verpflichtung nicht. Torsten Lucas, Menschenrechtsbeauftragter der Ärztekammer Berlin, rät: »Wer den hippokratischen Eid ernst nimmt, meldet den Patienten nicht.« Er kritisiert die gesetzlichen Vorgaben, die »den Arzt in ein Dilemma zwischen Berufsethik und Kostenübernahme bringen«. Die Juristin Monika Hommes, Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit, Bundesgesundheitsministerium (BMG), Bonn, weist darauf hin, daß Ärzte »nicht gegen die gesetzlichen Bestimmungen verstoßen«, wenn sie den Behandelten nicht der Ausländerbehörde melden.
Eine Einweisung ins Krankenhaus birgt ein größeres Risiko, abgeschoben zu werden, als die Behandlung beim niedergelassenen Arzt. Die häufigsten Gründe sind Arbeits- und Verkehrsunfälle und Entbindungen. »Illegale versuchen eine Krankenhauseinweisung um jeden Preis zu vermeiden. Häufig fliehen sie vor der Genesung«, berichtet Pater Jörg Alt, Mitglied im Jesuiten-Flüchtlingsdienst, München, und Autor der Feldstudie zur Lebenssituation »Illegaler« in Leipzig. »Das Problem wird einfach ausgeblendet«, kritisiert er die Untätigkeit von staatlicher Seite.
Kirchliche Krankenhäuser behandeln die Hilfesuchenden manchmal umsonst. Andere Krankenhausverwaltungen fordern eine Kostenübernahmeerklärung vor der Aufnahme. Fälle von Verhaftungen aus dem Krankenbett sind bekannt. Abgesehen von der Kostenfrage besteht auch hier Unsicherheit, sich strafbar zu machen, wenn der Betreffende nicht der Ausländerbehörde gemeldet wird.
In einem im Auftrag des Erzbistums Berlin erarbeiteten Gutachten1) zur rechtlichen Situation von Menschen ohne Aufenthaltsrecht stellt der Jurist Ralf Fodor fest: »Verwaltungen von öffentlichen Krankenhäusern unterliegen keiner der Übermittlungspflichten gemäß õ 76 AuslG.« Schwester Cornelia Bührle, Migrationsbeauftragte des Erzbistums Berlin, will »mehr Rechtssicherheit schaffen, damit Ärzte und Krankenhäuser sich nicht verpflichtet sehen, Auskunft zu geben«. Die engagierte Nonne und Juristin fordert einen ungefährdeten Zugang zum Gesundheitssystem für die heimlichen Migranten, der staatlich finanziert werden sollte. Auch ein Schutz vor dem Versicherungsbetrug mit Chipkarten könne damit erreicht werden.
Als Vorbild könnte Italien dienen. Dort werden, ohne ausländerpolitische Grundsatzentscheidungen aufzugeben, gesundheitspolitische Maßnahmen getroffen: Über eine anonyme Registrierkarte, auf der nur eine Nummer eingetragen wird, wird der Zugang zur Versorgung gesichert. Die Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit im BMG unterstützt dies. Sie fordert die Bundesregierung auf zu prüfen, wie die medizinische Versorgung auch anonym gewährleistet werden kann. Zudem sollte nach geeigneten Lösungen für die Finanzierung gesucht werden; ein Fonds könne in Betracht kommen.
Die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht erfordert eine politische Lösung. Das Problem darf nicht länger ignoriert werden. Das Engagement von Ärzten, politischen Gruppen und gemeinnützigen Organisationen ist vorbildlich – aber letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Petra Bühring
(Aus der Fachzeitschrift Deutsches Ärzteblatt, Heft 9 vom 2. März 2001)
Kontaktadressen medizinischer Beratungs- undVermittlungsstellen:
* Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Gneisenaustraße 2 a, 10961 Berlin, Telefon: 0 30/6 94 67 46
* MediNetz Bremen, Friesenstraße 21, 28203 Bremen, Telefon: 04 21/7 90 19 59
* Café für offene Grenzen c/o Dritte Welt Haus, Falkstraße 74, 60487 Frankfurt/Main, Telefon: 0 69/79 20 17 72
* MediNetz Freiburg, c/o Linke Liste, Spechtpassage, Wilhelmstraße 15, 79098 Freiburg, Telefon: 07 61/2 92 60 28
* Medizinische Vermittlungs- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und MigrantInnen, c/o WIR Zentrum, Hospitalstraße 109, 22767 Hamburg, Telefon: 0 40/38 57 39
* AG Medizinische Versorgung, c/o AGISRA, Steinbergerstraße 40, 50733 Köln, Telefon: 02 21/12 40 19
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