„Der weißrussische Maidan“ & warum der Westen mit Bedacht aus Weißrussen Belarusen macht

Harald Friese : das hier ist das Interessanteste, was ich im Netz zur Lage in Weißrussland gefunden habe: der weißrussische Maidan

hier habe ich endlich gefunden, wonach ich tagelang gesucht habe: eine gründliche wissenschaftliche Analyse Weißrusslands von einem – westlichen – Osteuropa-Spezialisten (die Mainstreamer mögen es eher, wenn man Belarus sagt, denn das klingt nicht so wie Russland – Weißrussland: die Sache wird mit dem früher im Westen nie gebräuchlichen Begriff Belarus absichtsvoll weiter auseinandergerückt).

Der weißrussische Maidan

Prof. Dr. Peter Bachmaier

Zeit-Fragen, Zürich

18. Oktober 2020


Das Bild, das die westlichen Medien in den letzten Monaten von Weißrussland (Belarus) zeichnen, hat nichts mit der Realität zu tun. Es gibt auch kaum Journalisten, die jemals das Land besucht haben und eine objektive Vorstellung davon haben. (Verzeihung: ich war schon da… schon 1991, u. habe in Brest-Litowsk u. in Minsk mit Leuten gesprochen. Nun gut, ich kann kein Russisch, aber Deutsch war damals noch ein wenig Lingua Franca bei den Älteren, anders als heute, wo die jungen Kerle u. Kerlinnen eher Englisch parlieren. Minsk hat sehr unter der Nazi-Herrschaft gelitten. Wie überall in Weißrussland, über das die deutsche Kriegsmaschine hinweggerollt ist – einmal hin in Richtung Moskau, einmal wieder zurück in Richtung Berlin – ist alles doppelt zerstört worden: auf dem Hinweg nach Osten zerstörte man nur die Ghettos, tötete die Juden, raubte man die Lebensmittelvorräte aus; auf dem Rückzug verbrannte u. zerstörte man alles: historische Stadtkerne, Kirchen, Kunstwerke, Fabrikanlagen u. Dörfer, auch Eisenbahntrassen, die mit dem sog. Schienenwolf aufgerissen wurden).

Das Modell des sozialen Volksstaates

In Wirklichkeit ist Weißrussland ein sozial orientierter, unabhängiger und souveräner Volksstaat mit kostenloser Gesundheitsversorgung und Bildung, stabilen Arbeitsplätzen und günstigen Wohnmöglichkeiten. Das Land ist eine «Zitadelle traditioneller Kultur», wie eine offizielle Parole lautete: Die Kultur ist geprägt von klassischer Literatur und Kunst, traditioneller Ästhetik, realistischem Stil in der Literatur und der Priorität der Familie. Es gibt eine Renaissance des Christentums sowohl der orthodoxen als auch der katholischen Konfession.
   Die Weißrussen kommen aus der Rus, dem ostslawischen Volk, das vor mehr als 1000 Jahren aus drei Fürstentümern bestand: Kiew, Polozk und Nowgorod, und im Jahr 988 christianisiert wurde. Später wurde es weitgehend von Polen und Litauen beherrscht, und als nur mehr ein Gebiet im Nordosten übriggeblieben war, nannte man es «Belaja Rus», das heisst die reine, nicht dem «Latinismus» (beide Hervorhebungen von mir; gemeint ist: nicht römisch-katholisch; Anmerkung von hf) unterworfene Rus.
   Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR), gegründet 1920, litt unter Stalins Repressionen, aber die Tatsache bleibt, dass es ohne die BSSR keine heutige Republik Belarus geben würde. Am Ende war sie die am weitesten entwickelte Sowjetrepublik mit dem höchsten Standard in der Industrie und im Bildungswesen (und das trotz der oben erwähnten deutschen Greuel; Anm. von hf).
   Am 24. August 1991 erklärte die BSSR ihre Unabhängigkeit und verfolgte bis 1994 einen prowestlichen Kurs, der, ähnlich wie in Russland und der Ukraine, auf den Weg des Neoliberalismus führte. Im Jahre 1994 gewann jedoch Alexander Lukaschenko mit 81 % der Stimmen die Präsidentschaftswahlen – Lukaschenko, der nicht aus der Nomenklatura (das ist der russische Begriff für Funktionärsschicht; Anm. von hf) kam und nicht ihre Interessen vertrat. Er behielt die staatliche Industrie und viele soziale Einrichtungen des sowjetischen Systems bei, aber entmachtete die im Entstehen begriffene neue Oligarchie (die im Gegensatz dazu in Russland für 10 volle Jahre die Macht an sich gerissen hatte: umso mehr muss man Putins Bemühungen um den Wiederaufbau der Staatlichkeit anerkennen; Anm. von hf).
   Weißrussland ist seither eine Präsidialrepublik, in der der Präsident die Regierung einsetzt und die Grundlinien der Innen- und Außenpolitik bestimmt. Der Präsident wird alle fünf Jahre und die Nationalversammlung alle vier Jahre nach einem Mehrheitswahlrecht gewählt. Das sowjetische System wurde politisch, wirtschaftlich und kulturell weiterentwickelt. Weißrussland kann seit damals auf Wachstum, Stabilität und soziale Sicherheit verweisen. Es war die erste Ex-Sowjetrepublik, die im Jahr 2005 das Bruttoinlandsprodukt der Ära vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder erreichte: 120 % des Niveaus von 1990, verglichen mit 85 % in Russland und 60 % in der Ukraine.
   Präsident Lukaschenko wählte diesen Weg, um die Extreme der Schocktherapie und Kolonisierung durch das westliche Kapital zu vermeiden. Es gelang ihm, eine wirtschaftliche Katastrophe, Korruption, massiven Kapitalexport und den Ruin des Landes zu vermeiden. Dank dieses Kurses ist Weißrussland die erfolgreichste der ehemaligen Sowjetrepubliken geworden: Das reale BIP verdoppelte sich 1990–2014 (in Russland wuchs es um 15 % und in der Ukraine um 30 %, so die Weltbank).
   Die weit verbreitete Ansicht, dass die weißrussische Wirtschaft ein Relikt des sowjetischen Sozialismus ist, entspricht nicht der Realität. Darin wirken Marktmechanismen, die durch die Offenheit der weißrussischen Wirtschaft einen ziemlich harten Wettbewerb schaffen, auch für staatliche Unternehmen, die auf den Export von High-Tech-Produkten ausgerichtet sind.
   Der Hochtechnologiepark in Minsk, gegründet 2005, das weißrussische «Silicon Valley», ist eine Wachstumsbranche, die derzeit aus etwa 400 IT-Firmen (darunter ein Drittel ausländische) mit mehr als 30 000 Angestellten besteht.
   Ein Meilenstein in der Zusammenarbeit zwischen Weißrussland und China ist die Entwicklung des Industrieparks Weliki Kamen (Großer Stein). Der Park ist 92 Quadratkilometer groß und hat einen besonderen rechtlichen Status, der der Geschäftstätigkeit förderlich ist, mit großen Anreizen für ausländische Investoren. Der Park liegt 25 km von Minsk entfernt und in unmittelbarer Nähe des internationalen Flughafens, der Eisenbahnlinien und der Autobahn Berlin–Moskau. Laut Statistiken des chinesischen Handelsministeriums befinden sich 63 Unternehmen im Park, deren Investitionen 1 Milliarde US-Dollar übersteigen.

Die geistige Wiedergeburt

Die Nationalkultur wird als «Grundstein der Unabhängigkeit» gesehen. Dem Bildungswesen wird von der Regierung eine hohe Priorität beigemessen, was in einem Vergleich zu anderen GUS-Ländern im überdurchschnittlichen Anteil am Staatsbudget (etwa 7 %) zum Ausdruck kommt. Die Zielsetzungen der 1998 beschlossenen Bildungsreform nannten die «Wiederherstellung der nationalen und kulturellen Grundlagen der Erziehung» an erster Stelle. Das Fach «Staatsideologie», eine Art Staatsbürgerkunde, die in den oberen Klassen unterrichtet wird, dient der Erziehung zur Liebe zur Heimat, zum Staat und zur Familie. Der Wertewandel, der mit dem Zerfall der Sowjetunion einherging und mit einem verstärkten westlichen Einfluss verbunden war, wird von der Regierung bekämpft.
   Die patriotische Erziehung ist auch die Aufgabe des Belarussischen Republikanischen Verbandes der Jugend (BRSM), der in den letzten Jahren eine Reihe von Aktionen in dieser Richtung durchgeführt hat, so «Wir dienen Weißrussland» zur Verbindung der Jugend mit der Armee, die Aktion «Gedenken» zur Erinnerung an die Verteidigung der Heimat in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und schließlich die Aktion «Weihnachtsbaum», die jährlich am orthodoxen Weihnachtsfest Anfang Jänner unter Mitwirkung der orthodoxen Geistlichkeit durchgeführt wird. Die jährlichen Kyrill-und-Method-Vorlesungen an der Staatlichen Universität Minsk und der Feiertag des slawischen Schrifttums am 24. Mai dienen der Wiedergeburt der christlichen Werte in der weißrussischen Gesellschaft.
   Mit dem Preis «Für die geistige Wiedergeburt», durch ein Dekret des Präsidenten gestiftet, werden jährlich am 7. Jänner, am Tag von Christi Geburt nach dem orthodoxen Kalender, Kulturschaffende, Schriftsteller, Lehrer und Geistliche für hervorragende Leistungen im Bereich der Literatur und Kunst, im humanitären Bereich und für die Festigung geistiger Werte ausgezeichnet.

Corona-Krise: Keine Panik in Weißrussland

Die Corona-Epidemie kam im März 2020 auch nach Weißrussland, aber es gab einen umfassenden Plan zur Bekämpfung der Epidemie. Es gab aus der sowjetischen Zeit noch Krankenhäuser für Infektionskrankheiten, Vorsorgemaßnahmen für eine Epidemie mit medizinischer Ausrüstung, Instituten für Virologie und Epidemiologie und geschultes Personal.
   Nach Angaben der Uno war Weißrussland für die Krise gut vorbereitet, weil es über 41 Ärzte, 114 Krankenschwestern und 110 Krankenhausbetten pro 10 000 Einwohner verfügt. In den fortgeschrittenen europäischen Ländern ist der Durchschnitt dagegen: 30 Ärzte, 81 Krankenschwestern und 55 Krankenhausbetten.
   Lukaschenko hob jedoch den eigenständigen Weg von Weißrussland hervor, indem er sich weigerte, eine Quarantäne über das ganze Land zu verhängen. Weißrussland ist ein Land, das nicht stillgelegt wurde. Die Betriebe und Geschäfte, die Gastwirtschaften, Schulen, Universitäten und Kirchen wurden nicht geschlossen, sondern blieben geöffnet und arbeiteten weiter.
   Im Juni 2020 bot der IWF Weißrussland einen Kredit von 940 Millionen Dollar an, aber der Staatschef bezeichnete die zusätzlichen, nicht-finanziellen Bedingungen als inakzeptabel. «Weißrussland sollte im Kampf gegen das Corona-Virus das tun, was Italien getan hat. Der IWF forderte weiterhin eine Quarantäne, eine Isolierung und eine Ausgangssperre. Was ist das für ein Quatsch? Wir springen auf niemandes Kommando», sagte Lukaschenko.1

Die Fehler der Behörden

Es ist offensichtlich, dass sich das Protestpotential auf den Straßen seit mehreren Jahren ansammelte. Die Akkumulation wurde durch die Fehler der Behörden im sozioökonomischen Bereich erleichtert: das schlecht durchdachte Dekret über Parasitismus von 2017 (betreffend etwa 500 000 Personen, die keiner Arbeit nachgehen), Misserfolge bei der Einführung eines neuen Verfahrens zur Berechnung der Gehälter, der Berechnung des Dienstalters, eine Zunahme der sozialen Differenzierung, Misserfolge in der Jugendpolitik und das Fehlen einer klaren, verständlichen Erklärung für die gewählte Position des Staates während der Pandemie.2
   Es gab auch Fehleinschätzungen im ideologischen Bereich. Die Konsolidierung der Gesellschaft, die als Notwendigkeit der Versöhnung mit denen verstanden wurde, die prowestliche und nationalistische Ansichten vertreten (etwa 15 bis 20 % der Bevölkerung), hat nicht funktioniert. Während der Unruhen herrschten auf den Straßen Symbole und Slogans.
   Es gab offensichtliche Fehler im Informationsbereich. Bis zu einem gewissen Moment dominierte die radikale Oppositionsagenda in den neuen Medien (YouTube, Messenger, Soziale Netzwerke) fast vollständig. Es blieb nicht genügend Zeit für den Einsatz regierungsnaher neuer Medien, es war notwendig, diesen Bereich als einen von den traditionellen Medien getrennten Arbeitsbereich herauszustellen und normale Mittel dafür bereitzustellen. Es gab keine scharfe Reaktion auf die Aktivitäten der von Polen gesponserten provokativen Telegram-Kanäle und die Forderung nach Gewalt durch diplomatische und andere Kanäle (man sollte nie vergessen, dass die Adelsrepublik Polen in der frühen Neuzeit eine osteuropäische Großmacht war, die von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte – no morze do morze -, also von Meer zu Meer, was heute eine neue polnische Initiative „Intermarium“ wiederzubeleben versucht, die sogar noch die Adria einbezieht; Anm. von hf).
   Die Fehler im Bildungsbereich waren die Übernahme von Elementen des westlichen Bildungssystems wie zum Beispiel des Bologna-Systems und der Privatschulen, die ein Ergebnis der Östlichen Partnerschaft der EU waren (meines Erachtens: verheerend; Anm. von hf).

Der Einfluss der neuen Medien

Die EU-Kommission unterstützt Radio- und Fernsehsendungen der BBC und der Deutschen Welle, die an fünf Tagen in der Woche eigens für Weißrussland Nachrichten und Rockmusik bringen. Sie unterstützt auch die von der Soros-Stiftung «Offene Gesellschaft» gegründete «Belarussische Humanistische Universität», die 2006 von Minsk nach Wilna (Vilnius in Litauen) verlegt werden musste.
   In den ersten Phasen des Wahlkampfs war die Tatsache offensichtlich, dass die Opposition ein mehrstufiges, professionelles politisches Technologieprojekt entwickelt hatte, in dessen Rahmen vor allem die neuen Medien eine entscheidende Rolle spielten.
   In den ersten Monaten des Jahres 2020 hat sich die Anzahl der oppositionellen Medien-Aktivisten vor allem durch den Anstieg der Telegram-Accounts drastisch erhöht. Die Abonnentenzahl allein bei den fünf größten oppositionellen Telegram-Accounts ist von 317 000 am 1. Januar auf 672 000 Abonnenten am 20. Juni 2020 gestiegen.
Der Kanal nexta (weißrussisch nechta, russ. nekto «jemand»), gegründet vor zwei Jahren in Warschau von Stepan Putilo und Roman Protasewitsch (inzwischen in Minsk inhaftiert wegen staatsfeindlicher Propaganda u. Beteiligung an Handlungen des faschistischen Asow-Bataillions in der Ostukraine; Anm. von hf), der auch für Radio Free Europe und BBC arbeitet, hat nach eigener Aussage bereits zwei Millionen Abonnenten. Der Kanal versorgt vor allem die Demonstranten in Minsk mit den notwendigen Informationen über Treffpunkte, Termine, Transparente und politische Parolen.
   Die Protestkundgebungen der Opposition führten zu einer Spaltung der Gesellschaft mit Aggressionen, die bisher unbekannt waren. Die Staatsmacht propagierte immer die Einheit des Volkes im ethnischen und religiösen Sinn auf der Grundlage der weißrussischen nationalen Kultur. Die Protestbewegung verwendet die Symbolik der im März 1918 unter deutschem Protektorat ausgerufenen Weißruthenischen Volksrepublik mit der weiß-rot-weißen Flagge, die auch in den Jahren 1991–1995 verwendet wurde, und die erhobene Faust als Symbol des Aufstands, das auch in verschiedenen Umstürzen der letzten Jahrzehnte – in Serbien, Georgien, der Ukraine und Ägypten, verwendet wurde.3
   Der Motor der weißrussischen Proteste war eine neue Mittelklasse – junge IT-Experten und Kulturschaffende, die größtenteils ein Ergebnis der Bemühungen des Staates in den letzten Jahren sind. Es gibt bereits mehr als 100 000 von ihnen, die bei westlichen Firmen gut verdienen, aber keinerlei politisches Bewusstsein haben.

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Eingestellt von einartysken (ein Freund von mir, der aber vor ca. 2 Monaten mit fast 84 Jahren in Schweden verstorben ist; Anm. von hf) um 19:22

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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