„Die Ukraine, das ewige Grenzland“ – Schweizer Militärhistoriker u. Oberst a.D. Hans Rudolf Fuhrer analysiert Ukrainekonflikt

Dass ich die Einschätzungen Hans Rudolf Fuhrers in Teilen nicht teile, will ich hier nicht weiter erläutern. Das ist auch unter Historikern nichts Ungewöhnliches.

Was ich jedoch vorab anmerken muss, ist die Tatsache, dass Fuhrer wie Wladimir Putin (in seiner Rede zur Russisch-Ukrainischen Geschichte) und viele Andere auch den Krim-Krieg von 1853/56 mit keiner Silbe erwähnt. Aber dieser Krieg zwischen einerseits Groß-Britannien, Frankreich usw. und Russland andrerseits um das Schwarzmeer-Erbe des zerfallenden osmanischen Reiches ist von fundamentaler Bedeutung – auch für die russisch-türkische Geschichte und das Verhältnis zwischen Islam und russisch-orthodoxer Kirche in der Geschichte des Schwarzmeer-Raumes. Siehe dazu:

Wie TAGESSCHAU & Co uns den Krim-Krieg erklären – barth-engelbart.de

Mein Vater hatt‘ einen Kameraden, der liegt in Stalingrad. Und Hitler dachte die Ukraine wär für 1000 Jahre seine. Dafür starb Vaters Kamerad. – barth-engelbart.de

Der Krieg um die Krim hat tiefe historische Wurzeln: früher waren die Russen die Hunnen – barth-engelbart.de

Zu meinem Vorspann (in dem ich nicht behaupte, dass der jetzige Krieg und der von 1853 den gleichen Charakter hätten) kam jetzt ein kompetenter Kommentar:

Dazu möchte ich anmerken, dass m.E. Fuhrer zu Recht nicht den Krim-Krieg von 1853 in seine Ausführungen mit einbezogen hat, weil er in diesem Kontext nicht behandelt werden muss.

Russland war in der Mitte des 19. Jahrhundert, regiert von dem sehr konservativen Kaiser Nikolaus I., durchaus ein erzreaktionäres, konterrevolutionäres u. auch frühimperialistisches Land (wie Du weißt, hat Lenin den Begriff „Imperialismus“ für die Zeit des Endes des klassischen Kolonialismus geprägt; es ist nämlich die Zeit, in der die wesentlichen Landmassen der Welt unter europäischen Mächten aufgeteilt sind: es kann also logischerweise nur noch Angeeignetes unter den Räubern neu verteilt werden, – und das macht die Sache brisant – vor allem durch einen Krieg neuen Typs, den „imperialistischen“ Krieg. Dieser Krieg setzte dann ja auch ein: russisch-japanischer Krieg von 1904/05, dann vor allem Erster Weltkrieg 1914/18).

Zurück zum Krimkrieg: Reaktionär war Russland also damals durchaus. Es hatte den autokratischen österreichischen Habsburgern 1849 gerade geholfen, die bürgerliche ungarische Revolution unter Kossuth niederzuschlagen. Und nun schickte es sich an, nach nicht-russischen Gebieten auf dem Balkan u. nach Konstantinopel zu greifen. Die Engländer u. die Franzosen sahen das Gleichgewicht der Mächte gefährdet u. griffen Russland in der Ostsee, vor allem aber im Schwarzen Meer an. Natürlich waren sie nicht die „Guten“, die selbstlos die rückständige osmanische Türkei unterstützen. Es ging um Einflusszonen im östlichen Mittelmeer. Wenn Russland die Dardanellen kontrolliert hätte, wäre es auch ein großer Player im Mittelmeer geworden, eine Horrorvorstellung für die Westmächte.

Dass der Krimkrieg für Russland natürlich eine große Bedeutung hat, weil er mit der Eroberung der unfertigen Festung Sewastopol u. der Niederlage endete, will ich nicht bestreiten. Im nationalen russischen Gedenken besitzt Sewastopol einen sehr, sehr hohen Stellenwert. Und es muss wie ein Geschenk der Geschichte an Russland gewesen sein, als die dummen Ukros durch den Maidan 2014 Russland die Handhabe gaben, die Krim wieder einzugliedern. Denn 2017 wären die Pacht-Verträge zwischen der Ukraine u. Russland ausgelaufen, und man darf mit Sicherheit annehmen, dass die neue Ukro-Regierung sie nie hätte verlängern wollen. Im Gegenteil: die vom Westen besoffen gemachten Ukros hätten die Krim ganz schnell der NATO übergeben. Das wäre für Russland eine Katastrophe gewesen.

Fazit: der Krimkrieg hatte einen anderen Charakter als der jetzige Krieg, deshalb kann er hier außen vor bleiben,

herzliche Grüße von

harrisürth

Artikel aus Deutsche Wirtschaftsnachrichten 26/27.03.2022 – Schweizer Militärhistoriker u. Oberst a.D. Hans Rudolf Fuhrer analysiert Ukrainekonflikt

Teil 1: Die Ukraine, das ewige Grenzland

26.03.2022

Was sind die historischen, kulturellen und ideologischen Hintergründe des Ukraine-Konflikts? Der renommierte Schweizer Militärhistoriker und Russland-Kenner Hans Rudolf Fuhrer gibt Antworten auf diese Fragen.

Hans Rudolf Fuhrer

Der Name «Ukraine» bedeutet «Grenzland». Schon seit Jahrhunderten liegt die Region im Spannungsfeld verschiedener Mächte. Warum aber hat sie eine so herausragende geostrategische Bedeutung? Und was sind ihre kulturellen und historischen Besonderheiten? Der Schweizer Militärhistoriker Hans Rudolf Fuhrer, der in den frühen 90er Jahren mehrfach in der ehemaligen Sowjetunion war und deren Zusammenbruch hautnah miterlebte, gibt Antworten auf diese Fragen. Er zeichnet das anschauliche, faszinierende Porträt eines Landes, das seit einiger Zeit im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit steht.

Viele Völker in vier Regionen

Das heutige ukrainische Territorium liegt zwischen den Karpaten im Westen, den Pripjet-Sümpfen im Norden, der zentralrussischen Platte im Osten und dem Schwarzen beziehungsweise Asowschen Meer im Süden. Die wichtigsten Flüsse des Landes sind der Pruth, der Dnjestr, die Bug, der Dnjepr sowie der Donez. Sie strukturieren das Land, das eine Ost-West-Ausdehnung von 1.100 und eine Nord-Süd-Ausdehnung von 800 Kilometern hat. Die fruchtbare Schwarzerde der Ukraine macht sie zu einer Kornkammer.

Die Ukraine besteht aus vier Großregionen:

  • Die Schwerindustrie-Gebiete des Ostens mit den Zentren Donec’k, Luhans’k, Charkiv, Dnipropetrovcs’k.
  • Der Süden, das heißt der Raum nördlich des Schwarzen Meeres mit der Hafenstadt Odessa und der inzwischen von Russland annektierten Halbinsel Krim.
  • Die zentrale und nördliche Ukraine auf beiden Seiten des Dnjepr mit der Landeshauptstadt Kiew.
  • Die eher ländlich geprägte Westukraine (Galizien, Westwolhynien, Bukowina und Transkarpatien).

Während im Osten und im Süden mehrheitlich russisch gesprochen wird, herrscht im Zentrum und im Westen das Ukrainische vor. Dabei ist die Bevölkerung der Ukraine bunt gemischt, es leben dort: Ukrainer, Russen, Belarussen, Rumänen, Ungarn und Slowaken, dazu Minderheiten, die es nur in der Ukraine gibt, wie die Russinen in den Karpaten sowie die Krimtataren. Die grossen Klammern, die die Bevölkerung zusammenhalten, sind die orthodoxe Religion und die historische Einheit in der Kiewer Rus bis ins 13. Jahrhundert. Es fehlt aber eine staatliche Identität.

Spielball der großen Mächte

Es bleibt festzuhalten, dass die Ukraine seit der Eroberung durch die Mongolen im 13. Jahrhundert bis zu ihrer Gründung als unabhängiger Staat im Jahr 1991 praktisch immer von stets wechselnden Mächten beherrscht wurde. Dabei hatten die Teilgebiete sehr unterschiedliche Zugehörigkeiten. So gehörte die Region Galizien in der Westukraine vier Jahrhunderte zu Polen-Litauen, 150 Jahre zu Österreich, dann wieder Jahrzehnte zu Polen und wurde erst 1939 und dann – nach zwischenzeitlicher deutscher Besatzung – nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 ein zweites Mal Teil der UdSSR. Die Regionen am rechten Dnjepr-Ufer gehörten ebenfalls vier Jahrhunderte zum Grossfürstentum Litauen, dann zu Polen-Litauen, dann infolge der Teilungen Polens zu Russland und seit 1920 zur Sowjetunion. Die linksufrige Ukraine gehörte drei Jahrhunderte zu Polen-Litauen und seit 1654 zu Russland. Die Steppengebiete der Süd- und Ostukraine hingegen waren nie Bestandteil des Königreichs Polen-Litauen; sie gehörten ununterbrochen zu Russland oder zur Sowjetunion. Der Zankapfel Krim war erst osmanisch/tatarisch, seit 1774 russisch und erst seit 1954 Bestandteil der Ukraine. Nikita Chruschtschow hatte sie eigenmächtig der brüderlichen Sowjetrepublik geschenkt zu Ehren der 300-jährigen Zugehörigkeit zu Russland.

Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass in ihrer Geschichte die Ostukraine nie eine Aufklärung/Reformation erlebt hat und die Westukraine nur eine, die durch den römischen Katholizismus gefilterte war. Damit fehlt ein entscheidender Faktor, der die Staaten Westeuropas in unterschiedlichem Maße geprägt hat. Man sollte dies im Hinterkopf behalten, wenn man das Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbild in dieser Region verstehen möchte.

Kulturell betrachtet gibt es zwischen der Ukraine, Russland und Belarus viele Gemeinsamkeiten. Auch Russland selbst sieht seine Ursprünge in der sogenannten Kiewer Rus, einem mittelalterlichen slawischen Großreich. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage Wladimir Putins vom 12. Juli 2021 zu verstehen: «Die tausendjährige alte Rus ist der riesige Raum, in dem sich heute drei Staaten befinden, Russland, Ukraine und Belarus: Russen, Ukrainer und Weissrussen sind ein Volk.» Tatsache ist: Die Ukraine hat für die Russen eine besondere Bedeutung, sie ist mehr als irgendein Staat auf der Landkarte. Tatsächlich sind Russland und die Ukraine kulturell eng miteinander verflochten, was kriegerische Auseinandersetzungen zwischen ihnen höchst kompliziert erscheinen lässt.

Besonders die russische Revolution der Jahre 1917/18 hatte auf die Ukraine einen großen Einfluss. Am 7. November 1917 proklamierte die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, sich als «Ukrainische Volksrepublik» als Teil der russischen Föderation. Das aber wollten die Bolschewiki nicht akzeptieren. Lenin setzte eine ukrainische Sowjetregierung ein. Er wollte einen zentralisierten Staat und die alleinige Macht. Doch in den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk verfolgten nationalistische ukrainische Kreise weiterhin einen Unabhängigkeitskurs und hatten zu diesem Zweck eine Abordnung gesandt. Sie suchten zuerst Hilfe bei den Alliierten und nach deren zurückhaltenden Antworten bei den Mittelmächten. Hier fanden sie offene Türen, da die Mittelmächte nach einem Druckmittel gegen die noch junge Revolution suchten. In der Folge proklamierte die Rada im Januar 1918 die volle Unabhängigkeit der Ukraine. Die Mittelmächte schlossen am 9. Februar einen Separatfrieden, den sogenannten «Brotfrieden», der, wie der Begriff sagt, ukrainisches Getreide vorsah gegen Anerkennung des ukrainischen Staates als unabhängig. Nach Ablauf des Waffenstillstands am 17. Februar starteten die Mittelmächte zu der entscheidenden Grossoffensive «Faustschlag». Die Rote Armee leistete keinen Widerstand mehr. Die sowjetischen Führer fürchteten um die Revolution und waren unter Protest bereit, die deutschen Forderungen zu erfüllen. Am 3. März 1918 musste die Russische Sowjetrepublik im Frieden von Brest-Litowsk die Unabhängigkeit der Ukraine anerkennen. Eine neu eingesetzte, den Deutschen genehme Regierung unter Pavlo Skoropadskyj, einem russifizierten Nachkommen eines alten Kosakengeschlechtes, General und Grossgrundbesitzer, versuchte unter Protektion der Mittelmächte wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Die neue Regierung wollte zum Beispiel den Gutsbesitzern ihr Land zurückgeben, was aber von den ukrainischen Bauern vehement abgelehnt wurde. Zehntausende von Bauern erhoben sich und lieferten deutschen Truppen erbitterte Gefechte. Nach dem Abzug der deutschen Truppen am 14. Dezember 1918 wurde die Ukraine zu einem Hauptschauplatz des innerrussischen Bürgerkrieges. 1920 hatten die Bolschewiki die vollständige Kontrolle über die Ukraine wieder gewonnen.

Ein uralter Traum der ukrainischen Nationalbewegung war in Erfüllung gegangen: die Vereinigung der West- mit der Dnjepr-Ukraine, aber: wieder unter Fremdherrschaft.

In den Pariser Friedensverträgen (1919) und im Frieden von Riga (1921) wurde der letzte Rest dieses Traums zerstört, denn die Grenzen im Westen wurden neu gezogen: Bestätigt wurden die Zugehörigkeit der nördlichen Bukowina (ehemals österreichisch) und Bessarabiens zu Rumänien, der Karpaten-Ukraine (seit dem Mittelalter Teil des Königreiches Ungarn) zur Tschechoslowakei sowie Galiziens (welches seit der ersten Teilung Polens österreichisch gewesen war) auf – vorerst – 25 Jahre zu Polen.

Radikaler Nationalismus

Die deutsche Besetzungszeit 1941–1944 während des Zweiten Weltkriegs führte dann dazu, dass der in der Westukraine immer vorhandene radikale Nationalismus starken Rückenwind erhielt. Zwei organisierte militärische Einheiten der OUN (Organisation ukrainischer Nationalisten) mit den Decknamen «Nachtigall» und «Roland» marschierten sogar mit der Wehrmacht in die Ukraine ein. Mitglieder der Bandera-Fraktion, benannt nach dem Anführer Stepan Bandera (1909 – 1959), proklamierten schon am 30. Juni 1941 in Lemberg einen souveränen ukrainischen Staat. Ein unbändiger Russenhass, gepaart mit einem rassistischen Judenhass waren zwei Elemente, welche diese nationalistischen Kämpfer mit den Invasoren verbanden. Der Russenhass hatte seine Wurzeln nicht zuletzt in der schrecklichen, von Stalin inszenierten Hungersnot (Holodomor) der 1930er Jahre, und der Judenhass durch den Umstand, dass zahlreiche Juden im Allgemeinen hohe Posten innehatten und zur Elite des Landes zählten.

Die radikalen ukrainischen Nationalisten haben Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen und waren wegen ihrer grenzenlosen Brutalität gefürchtet. Allerdings reagierten die deutschen Behörden anders als erwartet: Bandera und seine Mitkämpfer wurden nach kooperativen Anfängen verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschickt. Das rassistische Denken der Nationalsozialisten, die in allen Slawen Untermenschen sahen, mag hier die Oberhand über strategische Überlegungen behalten haben. Ich zitiere einen Ausspruch des Reichskommissars Erich Koch: «Es gibt keine freie Ukraine. Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten, und nicht, dass wir das Volk hier beglücken. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt […] Für die Haltung der Deutschen im Reichskommissariat ist der Standpunkt massgebend, dass wir es mit einem Volk zu tun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist. […] Das Bildungsniveau der Ukrainer muss niedrig gehalten werden […] Es muss ferner alles getan werden, um die Geburtenrate dieses Raumes zu zerschlagen. Der Führer hat besondere Massnahmen hierfür vorgesehen.» Wir werden auf rechtsextremes Gedankengut und rechtsextreme Strömungen in der Ukraine, die in den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg ihren Ursprung haben, an späterer Stelle zurückkommen.

Nachdem Michail Gorbatschow im März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt worden war, läutete er eine Politik der Transparenz (Glasnost) und des Umbaus (Perestroika, ukrainisch Perebudova) ein. Und während im Westen die Ukraine weiterhin unbestritten als Teil der Sowjetunion und die Ukrainer als Russen wahrgenommen wurden, gewannen Unabhängigkeitsbewegungen verschiedener Nationalitäten innerhalb der Sowjetunion an Kraft, zunächst vor allem im Baltikum und in Transkaukasien. Gorbatschow gestand im Juli 1990: «Wir standen unvorbereitet da, als die akutesten Probleme, die sich unter der Kruste scheinbarer Eintracht angesammelt hatten, durchbrachen und hervorströmten.» Er versuchte an der Einheit der Sowjetunion festzuhalten, doch seine Politik hinkte hinter der dramatischen Entwicklung in der Peripherie hinterher, so dass er schliesslich scheiterte und im Dezember 1990 seinen Rücktritt bekannt gab.

Einen wichtigen Anstoss zu laut geäußerter Kritik – die in der Sowjetunion ja ansonsten kaum existierte – gab in der Ukraine im April 1986 die Katastrophe von Tschernobyl. Insbesondere die Verharmlosung des Unfalls und die Verschleppung von Gegenmassnahmen durch die sowjetischen Behörden in Kiew und Moskau mobilisierten erstmals breitere Kreise. Die Erweckung eines ökologischen Bewusstseins wurde zu einem wichtigen Element der politischen Opposition. 1990 erfolgte dann die Gründung einer «Partei der Grünen», welche auch die von der Industrie verursachten Umweltschäden in der Ost-Ukraine anprangerte.

Während die zentralen und regionalen Kader in den übrigen Teilrepubliken der Sowjetunion bis zu drei Vierteln erneuert wurden, behielten in der Ukraine die Mehrheit der alten Nomenklatura ihre Ämter. Insbesondere der konservative Parteichef Scerbyc’kyj blieb in Kiew und im Politbüro, wo er seit 1972 sass, an der Macht. Der Rücktritt erfolgte erst aus Alters- und Gesundheitsgründen im September 1989. Er wurde von Gorbatschow noch in Ehren verabschiedet. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass sich die oppositionellen Kräfte in der Ukraine nur mit Mühe entfalten konnten.

Soziales Unruhepotential entlud sich dann bei Massenstreiks der Bergleute im Sommer 1989 in den Kohlebergwerken des Donezk-Beckens. Die Überraschung war groß, weil sich dort auch die stark russifizierten und von der Partei kontrollierten Bergleute effizient organisiert hatten. Glasnost und Perestroika hatten also unterschwellig auch in der Ukraine das Aufleben oppositioneller Kräfte gestärkt.

In Galizien kam es unterdessen zu Manifestationen der ukrainischen Nationalbewegung. Sie kämpfte in der ersten Phase für die Wiederzulassung der mit Rom unierten Griechisch-Katholischen Kirche. Der dagegen gerichtete Widerstand der Russisch-Orthodoxen Kirche war nicht erfolgreich. Ein Besuch Gorbatschows Ende 1989 im Vatikan hatte zur Folge, dass die Griechisch-Katholische Kirche in Galizien wieder zugelassen wurde. Deren Oberhaupt Kardinal Ljubacivs’kyj kehrte aus dem Exil in Rom nach Lemberg zurück. Der Kampf für die Unierte Kirche gab der nationalen Bewegung in der Westukraine wichtige Impulse und war wesentlich dafür verantwortlich, dass sie in Galizien eine erheblich breitere Massenbasis fand als in der übrigen Ukraine. In der engen Verbindung von Konfession und Nation und in der Vorreiterrolle der Westukraine zeigten sich am Ende des 20. Jahrhunderts erstaunliche Parallelen zur Nationalbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Es kam zum Zusammenschluss verschiedener oppositioneller Gruppen in einer «Volksbewegung der Ukraine für die Perestroika» (ukrainisch «Ruch»). Die «Ruch» verfolgte zunächst nur mässige, meist kulturpolitische Zielsetzungen. So stellte sie den sowjetischen Bundesstaat nicht infrage, sondern organisierte beispielsweise im Januar 1990 zum Gedenken an die Vereinigung der Westukrainischen mit der Ukrainischen Volksrepublik des Jahres 1919 eine Menschenkette von über 400.000 Personen zwischen Kiew und Lemberg. Sie brachte jedoch die blaugelbe Nationalfahne der Volksrepublik Ukraine und andere nationale Symbole vermehrt in die Öffentlichkeit. Ihr Programm orientierte sie an den Zielen von Demokratie und Menschenrechten westlicher Art. Im März 1990 gewann sie in den Wahlen zum Obersten Sowjet der Ukraine in der von ihr geführten «oppositionellen Allianz» 117 von 450 Mandate. Das war kein durchschlagender Erfolg. Ihre Wählerschaft kam aus der Westukraine und aus Kiew. Die Mehrheit der Abgeordneten im ukrainischen Parlament stammte aber weiterhin aus der alten kommunistischen Nomenklatura.

Unabhängigkeit

Nach der Aufhebung des Monopols der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Jahr 1990 entstanden unter dem Schirm der «Ruch» politische Parteien. Ihr Spektrum reichte nun von Kommunisten über Grüne bis zu nationalistischen Gruppierungen, auch wenn sie noch relativ klein blieben und die Masse der Bevölkerung nicht erreichten. Trotzdem gewann die «Ruch» zunehmend an Bedeutung und wurde zu einer nationalen Unabhängigkeitsbewegung, welche die Politik in der Ukraine immer stärker beeinflusste. Ukrainisch wurde 1990 zur Staatssprache erklärt. Wesentlich war, dass auch Teile der alten Parteielite wesentliche Punkte des Ruch-Programmes übernahmen und nun ebenfalls Kurs auf eine Unabhängigkeit der Ukraine nahmen.

Am 16. Juli 1990 erklärte der Oberste Rat der Ukraine die Souveränität der «Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik». Eine ähnliche Entwicklung erfolgte zeitgleich unter anderem in den Baltischen Staaten, Transkaukasien, Moldau und auch in Slowenien und Kroatien. Das bedeutete zwar noch nicht die Unabhängigkeit der Ukraine. Die Erklärung betonte aber deren Neutralität und ihr Recht auf eigene Streitkräfte. Die Ukraine begann außenpolitisch aktiv zu werden, schloss in der Folge eine Reihe von bilateralen Abkommen mit anderen Unionsrepubliken und gelangte auch zu einem wichtigen Vertrag vom 19. November 1990, in welchem sich die Russische- und die Ukrainische Republik gegenseitig ihre Grenzen und ihre Souveränität anerkannten. Damit war erstmals von russischer Seite die politische Existenz der Ukraine offiziell anerkannt worden. Zu beachten ist, dass in diesen ersten Jahren eine nationalistische Russlandphobie, die grosse Bevölkerungskreise mitgetragen hätten, kein Thema war. Diese zeigte sich aber bald. Ein Studentenstreik erzwang den Rücktritt des kommunistischen Ministerpräsidenten. Ein weiterer Schritt war die Erklärung des Vorranges der Republik-Gesetze gegenüber denjenigen der Union. In einem Referendum vom März 1991 sprachen sich 70 Prozent der ukrainischen Stimmbürger für die Erhaltung der Sowjetunion aus, aber 80 Prozent bejahten gleichzeitig die nur der Ukraine gestellte Frage, dass die Ukraine Bestandteil einer Union souveräner Staaten auf den Prinzipien der Souveränitätserklärung sein solle. Damit war im Kern bereits die Ende 1991 entstehende «Gemeinschaft unabhängiger Staaten» (GUS) anvisiert.

Nach dem gescheiterten, gegen Gorbatschow gerichteten Moskauer-Putsch vom August 1991 erfolgte – wie in zahlreichen anderen Sowjetrepubliken – auch in der Ukraine die Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991. In der Abstimmung vom 1. Dezember 1991 wurde der Unabhängigkeitskurs des Parlamentes von 90 Prozent der Bevölkerung bestätigt, also nicht nur der Ukrainer ukrainischer Muttersprache, welche lediglich 73 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Im galizischen Gebiet waren es 98,7 Prozent Ja-Stimmen, im ostukrainischen Gebiet Charkiv 75,8 Prozent und auf der Krim bei geringer Wahlbeteiligung lediglich 54,2 Prozent.

Bei der Wahl des ersten freien Präsidenten der Ukraine standen sich der Parlamentspräsident Leonid Kravcuk und Vjaceslav Cornovil, der seit den 1960er Jahren in der Opposition aktiv gewesen und dafür viele Jahre in sowjetischen Straflagern und Gefängnissen verbracht hatte, gegenüber: Gewählt wurde mit 61 Prozent der Stimmen Leonid Kravcuk; Cornovil erhielt 23 Prozent, die meisten davon in der Westukraine.

Die Ukrainer erreichten die Unabhängigkeit also rasch und ohne größere Konflikte und Rückschläge. Im Gegensatz zu den Litauern, Esten oder Georgiern fiel ihnen der neue Staat kampflos in den Schoss. Für die Staatsbildung fehlte ihnen deshalb aber die integrative Wirkung des gemeinsamen Befreiungskampfes. Die alte kommunistische Nomenklatura zog sich einfach ein demokratisches Mäntelchen an.

Zudem war mit der Unabhängigkeit das wichtigste Ziel, auf das die Opposition hingearbeitet hatte, überraschend schnell verwirklicht, und die wichtigsten Probleme schienen automatisch gelöst zu sein. Diese Annahme erwies sich jedoch wie in anderen Fällen der Entstehung von Nationalstaaten als Trugschluss. Viele vom Hauptziel der Unabhängigkeit verdrängte Probleme traten jetzt mit besonderer Schärfe hervor.

Die jetzt unabhängige Ukraine stand nämlich vor der Aufgabe, die Transformation des kommunistischen Staates zu einer neuen Ordnung nach dem Vorbild des Westens zu vollziehen. An die Stelle der sieben Jahrzehnte herrschenden autoritären Partei-Diktatur sollten parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat treten. Die zentral gerichtete Planwirtschaft sollte durch marktwirtschaftliche Prinzipien abgelöst werden. Dabei standen die politische und ökonomische Transformation in enger Wechselwirkung. Das musste mit einer weitgehend in kommunistischen Denkstrukturen verhafteten, oft korrupten und eigennützigen alten Nomenklatura realisiert werden. Gerade in der rohstoffreichen Ukraine blühte die Korruption auf und ist bis heute übermächtig.

Der junge Staat stand weiter vor der Aufgabe, die Grenzen seines Territoriums zu sichern sowie die einzelnen Regionen mit ihrer jeweils anderen Geschichte und mit ihrer polyethnischen Bevölkerung zu einem Staatsvolk, zu einer politischen Nation, zu integrieren. Das hat bis heute nicht funktioniert. Die Regelung der Sprachenfrage und der Umgang mit Minderheiten ist hierfür ein eklatantes Beispiel. Das soll ein Vergleich mit der Schweiz zeigen: Es wäre der deutschschweizerischen Mehrheit nie eingefallen, den Welschen in der Romandie, den Rätoromanen oder den Tessinern ihre Sprache zu verbieten. Die Schweiz hat einen föderalistisch-kooperativen Ansatz. Denn Demokratie nach eidgenössischem Verständnis ist nicht die Herrschaft der 50,1 Prozent über die 49,9 Prozent, sondern die Kunst der Mehrheit, die Interessen der Minderheit angemessen zu berücksichtigen. Ganz anders in der Ukraine. Das demokratieverachtende Denken zeigt sich hier beispielsweise im Unterdrücken der vorwiegend russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim und im Donezbecken. Die ukrainische Regierung hat anfangs Juli 2021 ein Gesetz erlassen, dass Leute je nach Abstammung andere Rechte haben. Nur die richtigen Ukrainer sind im Besitz aller Rechte. Das erinnert an die Nürnberger Rassengesetze von 1935. Putins berühmter historischer Exkurs vom Juli war eine Antwort auf dieses Gesetz.

Die oben genannten ukrainischen faschistischen militanten Nationalisten spielen in diesem unseligen Prozess, der mit dem Maidan-Putsch im Jahr 2014 begonnen hat und seither bei der Durchsetzung ukrainischer Interessen gegen alles Russische eine bestimmende Rolle. Zwar weist die Mehrheit der Meinungsumfragen darauf hin, dass Rechtsextreme in der Ukraine politisch bedeutungslos sind. Andererseits gelten beispielsweise das «Regiment Asow» und seine Gesinnungsgenossen als tragendes Element der paramilitärischen Freiwilligenformationen. Sie sind in die Nationalgarde integriert, somit dem Innenministerium und nicht der Armee unterstellt. Sie kämpfen seit 2014 gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes und waren auch in der Maidan-Revolution im Verborgenen aktiv. Die Verwendung entsprechender Symbole (unter anderem eine blaue oder schwarze Wolfsangel auf gelbem Grund) weist auf ihre Ideologie hin.

Eines ihrer Zentren ist bei Mariupol, wo sie seit Beginn der Kämpfe 2014 gegen Russlandfreundliche Menschen gewaltsam vorgehen und Freiwilligenschulung betreiben.

Die Hassreden auf sozialen Medien sind eines ihrer Kampfmittel. Von einem Augenzeugen weiss ich, dass sie in Mariupol eine Polizeistation mit zu wenig patriotischen Beamten angezündet haben. Wer sich ins Freie retten wollte, wurde erschossen. Es ist nicht verwunderlich, dass die SS-Division «Das Reich» ihr Vorbild ist, von der solche Schandtaten bekannt sind und die auch die Wolfsangel auf ihrer Fahne hatten. Die Parallele zu den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg ist nicht von der Hand zu weisen, doch mit einer faschistischen und nicht mit einer kommunistischen Ideologie. Ihre relative politische Bedeutungslosigkeit ist an der Front irrelevant.

LESEN SIE MORGEN DEN ZWEITEN TEIL DES GROSSEN UKRAINE-PORTRAITS VON HANS RUDOLF FUHRER:

  • An welcher Linie man die Ukraine aufteilen könnte
  • An welche Vereinbarungen Kiew sich nicht hielt
  • Was man Putin anlasten muss – und was dem Westen

Hans Rudolf Fuhrer (Foto: privat)

Zum Autor: 

Hans Rudolf Fuhrer (Jg. 1941) war bis 2006 Dozent für Militärgeschichte an der Militärakademie der ETH Zürich sowie Privatdozent an der Universität Zürich. Er schrieb mehrere Bücher, veröffentlichte Artikel in der Neuen Züricher Zeitung und verfasste Beiträge für das Standardwerk «Historisches Lexikon der Schweiz». Fuhrer ist Oberst a. D. der Schweizer Armee.

Mehr zum Thema:  

Politik > Rechtsextremismus > Ukraine > Russland > Nato > Krieg > Europa >

Teil 2: An dieser Linie sollte die Ukraine aufgeteilt werden

27.03.2022 08:00

Im zweiten Teil seines großen Ukraine-Porträts analysiert der renommierte Schweizer Militärhistoriker und Russland-Kenner Hans Rudolf Fuhrer die Ereignisse nach 1990 und unterbreitet einen Vorschlag, wie der Krieg beendet werden könnte.

Hans Rudolf Fuhrer

An dieser Linie sollte die Ukraine aufgeteilt werden

Mitglieder nationalistischer Bewegungen demonstrieren am „Tag der Verteidigung des Vaterlandes“. (Foto: 14. Oktober 2017 / dpa)

Der Name «Ukraine» bedeutet «Grenzland». Schon seit Jahrhunderten liegt die Region im Spannungsfeld verschiedener Mächte. Warum aber hat sie eine so herausragende geostrategische Bedeutung? Und was sind ihre kulturellen und historischen Besonderheiten? Der Schweizer Militärhistoriker Hans Rudolf Fuhrer, der in den frühen 90er Jahren mehrfach in der ehemaligen Sowjetunion war und deren Zusammenbruch hautnah miterlebte, gibt Antworten auf diese Fragen. Er zeichnet das anschauliche, faszinierende Porträt eines Landes, das seit einiger Zeit im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit steht.

LESEN SIE IM FOLGENDEN DEN ZWEITEN TEIL DES GROSSEN UKRAINE-PORTÄRTS VON HANS RUDOLF FUHRER:

(Den ersten Teil finden Sie hier: deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/518401/Die-Ukraine-Das-ewige-Grenzland)

Es ist für mich unverständlich, dass die beiden westlichen Garantie-Mächte von Minsk II in ihren Ländern den Rechtsextremismus verfolgen und in der Ukraine ihm mindestens freien Lauf lassen.

Dies ist die Gemengelage, auf die sich andere Mächte, die in der Ukraine Einfluss nehmen möchten, einstellen müssen.

Ein Blick auf die geographische und auf die wirtschaftliche Weltkarte genügt, um die strategische Wichtigkeit des Landes zu erkennen. Exemplarisch sei aus dem Buch des US-Historikers und Präsidentenberaters Zbigniew Brezinski «Die einzige Weltmacht (1997)» zitiert. Die Ukraine sei ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, «weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine […] wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.»

Ich vermute, dass es starke Kräfte in den USA gab und immer noch gibt, welche den vermeintlichen Sieg im Kalten Krieg dazu ausnützen wollen, um ihre Interessenszone nach Mitteleuropa auszudehnen und Russland bewusst klein und machtlos zu halten, um seine Hegemonierolle in diesem Raum zu übernehmen. Die ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR ergriffen gerne die Gelegenheit, um sich nach ihren Erfahrungen mit dem Sowjetregime unter den NATO-Sicherheitsschirm zu stellen.

Die russische Regierung hat den ersten fünf NATO-Osterweiterungsschritten aus Schwäche nur mündliche Proteste entgegengesetzt (u.a. «Wortbruch» von 1990), aber 2008 in Sachen Georgien und Ukraine klar eine rote Linie gezogen. Washington war nicht willens, diese Forderung ernst zu nehmen.

Was die strategischen Absichten der Ukraine angeht, so lassen sich diese am ehesten an den Ereignissen ablesen: Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU, das weitgehend ein Freihandelsabkommen war, sollte beim Treffen in Vilnius am 28./29. November 2013 unterschrieben werden. Die Ukraine hatte die wichtigsten Bedingungen erfüllt, nur die Freilassung von Julija Tymošenko (der ehemaligen Ministerpräsidentin der Ukraine) wurde nicht bewilligt. Sie bat die EU uneigennützig, das Abkommen nicht auf Rücksicht auf ihre Situation platzen zu lassen. Russland war nicht grundsätzlich gegen das Abkommen, aber Wladimir Putin erwartete wirtschaftliche Gleichberechtigung. Deshalb betonte er die religiösen, historischen und wirtschaftlichen Bande. Im Juli 2013 hatten sich Putin, Janukovyč und Patriarch Kirill an den Feiern zum 1025. Jahrestag der Rus‘ getroffen.

Im September am Valdai-Forum betonte Putin erneut die Zugehörigkeit der Ukraine zur russischen Welt. «Wir wollen nie vergessen, dass der heutige russische Staat seine Wurzeln am Dnjepr hat. Wir haben, wie wir zu sagen pflegen, im Dnjepr unser gemeinsames Taufbecken. Wir haben gemeinsame Traditionen, eine gemeinsame Mentalität, eine gemeinsame Geschichte und Kultur. Wir haben sehr ähnliche Sprachen. In jeder Hinsicht, ich wiederhole es, sind wir ein Volk. Natürlich haben das ukrainische Volk, die ukrainische Kultur und die ukrainische Sprache wundervolle Eigenschaften, die die Identität der ukrainischen Nation ausmachen. Und wir respektieren sie nicht nur, sondern, was mich betrifft, ich liebe sie. Die Ukraine ist ein Teil unserer großen russischen oder russisch-ukrainischen Welt. Doch die Geschichte hat es mit sich gebracht, dass ihr Territorium heute ein unabhängiger Staat ist, und wir respektieren das.»

Das Gerangel, zu welcher Einflusszone die Ukraine gehören sollte, endete schließlich damit, dass Janukovyč auf die Unterschrift verzichtete, da die EU ein Entweder-Oder gefordert hatte. Der Maidan war das Ergebnis, und dann folgten – obwohl weder Politik noch Krieg ein Schachspiel sind – Zug um Zug, wobei Russland immer nachzog, sei es auf der Krim oder im Donbas/s. Auslöser waren die betont nationalistischen Forderungen des Maidans und die Pressionen gegen den unterschriftsunwilligen Präsidenten bis zur dessen erzwungener Flucht. Die neuen Wortführer zeigten wenig bis kein Verständnis für eine weitgehende Autonomie der Krim oder des Donbas/s. Es wird vergessen, dass sich die Krim vor der Ukraine unabhängig erklärt hatte (Januar beziehungsweise August 1991) und sich damals nicht als Teil der Ukraine verstand. Sie hatte eine eigene Verfassung und eigene Behörden. Beide wurden 1995, gestützt auf das Budapester Memorandum, von Kiew gewaltsam beseitigt. Das erklärt, warum man auf der Krim 2014 nach dem illegalen Putsch ein erneutes Referendum abhielt, das zu dem gleichen Ergebnis führte wie 30 Jahre zuvor. Darauf wurde in Moskau angefragt, ob man in die Russische Föderation eintreten könne. Es war nicht Russland, das die Krim erobert hat, sondern die Bevölkerung hat die Behörden ermächtigt, Russland um Aufnahme zu bitten. Am 23. Februar erklärte Präsident Putin am Morgen nach russischen Angaben, dass man Vorbereitungen zur «Rückholung der Krim nach Russland» treffen müsse, «um den Bewohnern die Möglichkeit zu geben, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden». Der Anschluss folgte einer verdeckten Intervention der Streitkräfte der Russischen Föderation («grüne Männchen ohne Abzeichen») und erfolgte am 18. März 2014.

Die USA und die EU verhängten daraufhin gezielte Sanktionen gegen Personen oder Organisationen, die für die Annexion Verantwortung trugen. Das russische Volk wollte man nicht pauschal treffen. Russland wurde zudem aus Foren wie der G-8 ausgeschlossen, die Zusammenarbeit wurde stark reduziert, Putin faktisch geächtet. Viele glaubten damals, diese Sanktionen seien außerordentlich scharf und würden Moskau zum Einlenken zwingen. Das war nicht der Fall – Russland hat sich mit ihnen weitgehend arrangiert. Die Annexion war im Volk beliebt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Maßmannahmen waren die Sanktionen von 2014 moderat.

Mit dem Bruch völkerrechtlicher Verträge wie dem Budapester Memorandum von 1994 über die Achtung der bestehenden Grenzen der Ukraine sowie weiterer Grundsätze der KSZE-Schlussakte von 1975 in Helsinki, der Charta von Paris 1990, der NATO-Russland-Grundakte von 1997 sowie des 2008 verlängerten Freundschaftsvertrags der Ukraine mit Russland, der wiederum die territoriale Integrität garantierte durch Wladimir Putin, die jedoch, wie oben kurz beschrieben, relativiert werden muss, begann eine bis heute achtjährige internationale Krise und Verunsicherung.

Bereits Im Frühsommer 2014, als sich der Aufstand auch im Donbas/s zu formieren begann, soll der US-Botschafter Geoffrey Pyatt dem Übergangspräsidenten Oleksandr Turtschynow versprochen haben, die USA würden der Ukraine helfen, den Aufstand niederzuwerfen („Counterinsurgency-Doktrin“) und ein Eingreifen Russlands verhindern. Darauf reagierte Russland, indem es die Opposition bewaffnete, und schließlich verlor die Ukraine Teile der Oblaste Donezsk und Lugansk.

Seit dem vergangenen Dezember verspricht der Westen, er könne Russland durch harte Sanktionsdrohungen von einer Invasion abhalten. Doch wieder konnte er nicht Wort halten. Die Abreise der westlichen Diplomaten aus Kiew am 14. Februar hätte Selenskyi eine Warnung sein sollen, es mit der Ablehnung der Minsker Abkommen nicht zu weit zu treiben.

Gemäß jüngsten, von den Russen erbeuteten Dokumenten soll die ukrainische Regierung gar geplant haben, im März eine Großoffensive zu starten. Dazu habe sie von den USA «grünes Licht» erhalten. Die Satellitenfotos der Westmächte müssen nicht nur den russischen Truppenaufmarsch gesehen haben, sondern auch den ukrainischen dokumentieren können. Fakt ist, dass die ukrainische Armee nach dem Dekret Selenskyj’s vom 24. März 2021, das besagt, dass er die abtrünnigen Gebiete zurückerobern wolle, im Süden zusammengezogen wurde, und dass am 16. Februar eine extreme Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen durch ukrainische Artillerie von der OSZE festgestellt worden ist, was zu einer Evakuierung großer Teile der Bevölkerung im Donbas/s führte.

Zum bisher letzten Zug entschloss sich dann Putin, indem er unter Missachtung des Völkerrechts auf breiter Front angreifen ließ und sich den Vorwurf eines neuen «Hitlers» auflud. Er wählte die große Lösung, da er mit der kleinen Lösung (nur militärische Hilfe in den bedrohten Gebieten) wahrscheinlich die gleichen Sanktionen des Westens zu erwarten gehabt hätte. Die Zielsetzung der «Spezialoperation» war glasklar formuliert: Entmilitarisierung und Entnazifizierung.

Die EU erwies sich in diesem Machtpoker weitgehend als willfähriges Instrument US-amerikanischer Interessen. Ihre Chefs reisten zwar nach Moskau und nach Minsk und führten lange Telefongespräche, vorerst ohne sichtbaren Ertrag. Auf Druck der USA wurde die deutsche Regierung gezwungen, North-Stream II aufs Eis zu legen, was Olav Scholz offensichtlich anfänglich nicht wollte. Dahinter vermute ich einen perfiden US-Plan: Man lässt die Ukraine Russland provozieren; wenn Putin darauf reagiert, wird Deutschland einknicken.

Seither ist das, was in der Ukraine geschieht, eine schreckliche menschliche Tragödie, die im Westen niemand für möglich gehalten hat. Auch hier wird die Öffnung der Quellen einmal zeigen, in welcher Weise Europa Mitschuld an diesem Konflikt trägt.

Denkbar ist nun die Teilung des Landes gemäß der Novorossiya-Konzeption. Der Begriff ist unter Katharina der Großen entstanden, als die zaristische Expansionspolitik das Schwarze Meer erreichte. Das eroberte Küstengebiet nördlich des Schwarzen Meers wurde als «Neurussland» bzw. Novorossiya bezeichnet. Es wäre etwa die Teilung auf einer Linie Charkow-Odessa. Charkow war in der Geschichte schon einmal Hauptstadt der Ukraine. Wladimir Putin verfolgte diese früher oft diskutierte Idee nach 2014 nicht mehr und wurde von großrussischen Nationalisten hierfür kritisiert. Diese Idee könnte jetzt wieder reaktiviert werden. Ob sie ein Thema wird, ist reine Spekulation. Es könnte sein, dass Katharina die Große als sehr gesuchter historischer Bezugspunkt dafür herhalten müsste.

Ebenso denkbar ist eine Defensivallianz aller kleinerer Nachbarn Russlands ohne geopolitische Einflüsse aus dem Nordatlantik-Raum. Das würde den territorialen Bestand der Länder sichern, und Grenzfragen wären in diesem Szenario etwas weniger wichtig.

Ich persönlich erhoffe mir nach einem möglichst bald ausgehandelten Waffenstillstand eine kooperative Sicherheitsordnung im eurasischen Raum, die Russland mindestens bis zum Ural miteinschließt, wie in den frühen 1990er Jahren angedacht. Man sollte sich nicht damit abfinden, dass nun wieder Kalter Krieg herrscht, dass alte Feindbilder unzerstörbar sind und dass eine konfrontative Sicherheitsordnung situationsgerecht sei. Der Umstand, dass Russland damit aus Europa ausgeschlossen und in den asiatisch-chinesischen Raum abgedrängt werden würde, sollte weitsichtig überdacht werden.

Durch die Ereignisse in der Ukraine ist in mir die Einsicht verstärkt worden, dass einerseits die Vorgeschichte eines Krieges durch die Militärgeschichte besonders sorgfältig aufzuarbeiten sei. Dann wird sie zu einem Teil der Friedensforschung und nicht zur Vorbereitung des nächsten Kriegs, denn sie erkennt, wann, wo und durch wen die Weichen falsch gestellt worden sind. Anderseits ist mein kritisches Hinschauen geschärft worden. Ich halte es mit dem alten römischen Rechtsgrundsatz: «Audiatur et altera pars – auch die andere Seite soll gehört werden». Selbst- und Fremdbild sind in der Regel nie deckungsgleich. Aber in der historischen Analyse sind sie gleichwertig. Man muss deswegen mit der Fremdmeinung nicht einverstanden sein. Es geht aber als Historiker nicht um ein Moralurteil, sondern um das Nachzeichnen der historischen Wahrheit und um das Herausarbeiten von transfertauglichen Erfahrungen und von Zusammenhängen. Das alleine ist eine ausreichend schwierige Arbeit.

Hans Rudolf Fuhrer. (Foto: privat)

Zum Autor: 

Hans Rudolf Fuhrer (Jg. 1941) war bis 2006 Dozent für Militärgeschichte an der Militärakademie der ETH Zürich sowie Privatdozent an der Universität Zürich. Er schrieb mehrere Bücher, veröffentlichte Artikel in der Neuen Züricher Zeitung und verfasste Beiträge für das Standardwerk «Historisches Lexikon der Schweiz». Fuhrer ist Oberst a. D. der Schweizer Armee.

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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