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14 Mai 2022
Versammlungsfreiheit gilt auch für Palästinenser
Zorn ist kein Grund, Protest zu verbieten
Ralf Michaels ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Professor für globales Recht an der Queen Mary University London und Professor für Recht an der Universität Hamburg.
Vor einigen Tagen starb die bekannte Al-Jazeera-Journalistin Schirin Abu Akle in Jenin im Westjordanland an einem Kopfschuss; Augenzeugen beschuldigen das israelische Militär, die Journalistin gezielt erschossen zu haben. Ihr Begräbnis wurde zum Spektakel: Videos im Internet zeigen, wie israelische Polizisten das Begräbnis stürmen und auf die Träger des Sargs einschlagen; dieser geht zwischenzeitlich zu Boden. Das ereignete sich nur wenige Tage vor dem Nakba-Tag, dem Tag der Erinnerung an die Flucht und Vertreibung der Palästinenser im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel und den kriegerischen Angriffen der Anrainerstaaten auf den neugegründeten Staat.
Wie jedes Jahr werden weltweit Demonstrationen stattfinden, die an die Nakba erinnern, und dieses Jahr wird auch der Tod Abu Akles Thema sein. Nicht allerdings in Berlin, zumindest nicht legal. Denn die Polizei hat gleich fünf angemeldete Demonstrationen untersagt; Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht haben die Verbote aufrechterhalten. Die Berliner Polizei erkennt durchaus an, dass Palästinenser verärgert sind; sie meint, in der jetzigen angespannten Lage in Nahost sei „fortlaufend mit Vorfällen zu rechnen, die den Zorn hier lebender Palästinenser hervorrufen können.“ Erstaunlicherweise sieht sie aber genau in diesem Anlass für Demonstrationen zugleich einen Anlass für deren Verbot. Die Verbindung mit dem historischen „Nakba-Tag“, so die Polizei, dürfte im Zusammengang mit den aktuellen Ereignissen im Westjordanland, im Ostteil Jerusalems und dem Gaza-Streifen zu einer massiven Verstärkung der Emotionalisierung führen. Aber das ist ja genau der Anlass für die Demonstration. Wer nichts auszusetzen hat, demonstriert ja auch nicht.
Was ist also zu befürchten? Nach Ansicht der Polizei „belegen die Erfahrungen, dass zurzeit bei dieser Klientel eine deutlich aggressive Grundhaltung vorherrscht und man gewalttätigem Handeln nicht abgeneigt ist. Bei notwendigen polizeilichen Maßnahmen ist mithin mit Unmutsbekundungen und in der Folge tätlichen Angriffen zum Nachteil der eingesetzten Polizeikräfte, auch in Form von Pyro, Flaschen- und Steinwürfen zu rechnen.“ Der Jurist liest das und reibt sich ein wenig die Augen. Unmutsbekundungen muss die Polizei auch sonst ertragen. Flaschenwürfe auf Polizisten sind selbstverständlich zu verurteilen, wann immer sie vorkommen, aber sie kommen häufig vor, ohne dass ihretwegen Demonstrationen verboten worden wären. Die Berliner Demonstrationen zum 1. Mai sind seit Jahrzehnten regelmäßig mit Gewalt verbunden – auch diese ist zu verurteilen, aber zum Demonstrationsverbot haben sie meines Wissens noch nie geführt.
Das hat einen guten Grund. Wie das Bundesverfassungsgericht regelmäßig betont: Verbot und die Auflösung einer Versammlung kommen nur zur Abwehr von Gefahren elementarer Rechtsgüter in Betracht. Die Untersagung einer Versammlung kommt als ultima ratio nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen anders nicht verhindert werden können – durch Auflagen oder Selbstverpflichtung der Organisatoren, oder aber durch polizeiliche Maßnahmen. Es ist erstaunlich, dass man zu solchen milderen Mitteln in den Entscheidungen von Polizei und Gerichten fast nichts findet. Der Veranstalter, so betont die Polizei mehrfach, habe die Demonstranten selbst nicht im Griff gehabt. Selbst wenn das stimmte – ist das nicht auch Aufgabe der Polizei?
Ein Verdacht drängt sich auf: Sollte der Verbotsgrund darin liegen, dass „diese Klientel“ – ein eigenartiger Begriff – dem Staat besonders unangenehm ist? Die Polizei erwartet „Personen aus der arabischen Diaspora, insbesondere mit palästinensischem Hintergrund“ und „weitere muslimisch geprägte Personenkreise, vorzugsweise voraussichtlich aus der libanesischen, türkischen sowie syrischen Diaspora.“ Stehen also jetzt Muslime unter Generalverdacht? Und was ist mit den zu erwartenden jüdisch-israelischen Teilnehmern? Eine von einer jüdischen Organisation angemeldete Solidaritätsveranstaltung für Abu Akle wurde als angebliche Ersatzveranstaltung untersagt.
Oder liegt es am deutschen Bedürfnis, Kritik an Israel im Vornherein zu verhindern, damit nicht wieder, wie im letzten Jahr, Vorwürfe laut werden, in Deutschland werde Antisemitismus erlaubt? Ein großer Teil der Begründung widmet sich der Erkenntnis, bei früheren Demonstrationen sei eine „hochgradig israelfeindliche bis in den Antisemitismus reichende Stimmung festgestellt worden;“ zum Teil sei sogar das Existenzrecht Israels abgesprochen worden. Bad, if true. Nun sind aber Feindschaft gegen Israel und sogar Antisemitismus, so schwer erträglich sie auch angesichts der deutschen Geschichte sein mögen, von der Meinungsfreiheit gedeckt, soweit sie nicht strafbar sind, und insoweit auch keine Grundlage für ein Versammlungsverbot. Der bayrische Verwaltungsgerichtshof sagt es ganz klar: „Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst auch extremistische, rassistische oder antisemitische Äußerungen; für gesetzliche Beschränkungen gelten insoweit dieselben Voraussetzungen wie bei allen sonstigen Meinungsbekundungen.“
Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erst kürzlich sogar die Unterstützung der BDS-Bewegung unter den Schutz der Meinungsfreiheit gestellt. Insofern besonders bedenklich erscheint, dass das Verwaltungsgericht sich auf die umstrittene BDS-Resolution des Bundestages aus dem Jahr 2019 bezieht, die vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestages selbst inhaltlich in Teilen für verfassungswidrig gehalten wird und die mittlerweile selbst ihre Befürworter als bloße Meinungserklärung ohne rechtliche Bindung bezeichnen.
Dies ist nicht das erste Verbot einer propalästinensischen Demonstration; es folgt auf ein gleichartiges Verbot vor zwei Wochen. Eine verhängnisvolle Entwicklung deutet sich an. Offenbar will die Berliner Polizei, mit Duldung der Gerichte, propalästinensische Demonstrationen so lange verbieten, bis Palästinenser nicht mehr „erheblich angespannt und emotionalisiert“ agieren. Aber damit wird das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit pervertiert. Denn die Demonstrationsfreiheit dient ja ganz wesentlich gerade dazu, dass Menschen demonstrieren dürfen, weil sie angespannt und emotionalisiert sind. In letzter Konsequenz bedeutet die Entscheidung: So lange Israel Palästinensern Anlass gibt, erregt zu sein, wird ihnen das Recht auf Demonstration versagt. Demonstrieren dürfen sie erst wieder, wenn sie sich beruhigt haben. Aber tragen Versammlungsverbote zur Beruhigung bei?
Die Demonstrationsfreiheit ist kein Privileg, das der Souverän nach Gutdünken verteilen kann. Sie gilt nicht nur für bestimmte Meinungen, sondern gerade auch für diejenigen, die nicht der deutschen Staatsräson entsprechen; denn die bindet im liberalen Staat die Bevölkerung nicht. Man muss sich die Demonstrationsfreiheit nicht durch Wohlverhalten verdienen, und sie gilt auch – insbesondere – für „emotionalisierte“ Demonstranten. Ihre Bedeutung hat sie vor allem für marginalisierte Gruppen, die ihre Interessen nur schwer im politischen Prozess durchsetzen können. Es ist schwer erträglich, Antisemitismus auf Demonstrationen zu erleben. Aber Gesellschaft und Rechtsstaat können das eher aushalten als die Beschneidung zentraler Freiheitsrechte.
Aber auch unterhalb der Schwelle der Verfassungswidrigkeit sollte die Frage erlaubt sein, was mit dieser Strategie erreicht werden soll. Palästinensern dauerhaft elementare Freiheitsrechte zu nehmen, dürfte kaum zur Befriedung führen. Dem Schutz Israels nutzt es wohl kaum (nicht umsonst verbietet Israel solche Demonstrationen nicht). Ob es wirklich langfristig dem Schutz von Juden in Deutschland dient, die Grundrechte von Palästinensern zu beschränken, scheint auch zweifelhaft, eher ist wohl eine Eskalation zu befürchten. Selbst der Zentralrat der Juden in Deutschland, der die Verbote gutheißt, gibt zu bedenken, durch ein Verbot seien die beteiligten Akteure, Israel-Hetze und Antisemitismus nicht verschwunden.
Man wird den Verdacht nicht los: geschützt werden neben der Polizei vor allem der deutsche Staat und die deutsche Mehrheitsgesellschaft, und zwar davor, sich mit Palästinensern und ihren Protesten auseinandersetzen zu müssen. Eine Demonstration im letzten Jahr hatte, so die Polizei, „durch aggressive „Allahu Akbar“-Sprechchöre einen deutlich militanten Eindruck auf Außenstehende“. Dieses Jahr werden Außenstehende also vielleicht davor geschützt, dass jemand neben ihnen auf arabisch „Gott ist groß“ ruft. Ein Erfolg für den Rechtsstaat?
Es ist eine wichtige Lehre aus dem Nationalsozialismus, dass Antisemitismus entschlossen bekämpft werden muss. Es ist aber auch eine wichtige Lehre, dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit zentral sind für einen demokratischen und liberalen Staat, und dass man ihre systematische Beschränkung mit Argwohn sehen sollte. Im liberalen Staat muss der Kampf gegen den Antisemitismus in erster Linie ein gesellschaftlicher sein; der repressive Staat kann allenfalls ergänzend hinzukommen.
Hoffentlich sieht man das bald auch wieder in Berlin.
SUGGESTED CITATION Michaels, Ralf: Versammlungsfreiheit gilt auch für Palästinenser: Zorn ist kein Grund, Protest zu verbieten, VerfBlog, 2022/5/14, https://verfassungsblog.de/versammlungsfreiheit-gilt-auch-fur-palastinenser/, DOI: 10.17176/20220514-182114-0.
Neuer Krefelder Appell – Den Kriegstreibern in den Arm fallen (https://peaceappeal21.de)
Neue Rheinische Zeitung (www.nrhz.de)
DAS KROKODIL (www.das-krokodil.com)
Arbeiterfotografie – Forum für Engagierte Fotografie (www.arbeiterfotografie.com)
Kampagne „NATO raus – raus aus der NATO“ (www.NATOraus.de)