In den westlichen Medien ist viel von den gut einhundert israelischen Geiseln die Rede, die vom militärischen Arm der Hamas, des Palästinensischen Islamischen Dschihad und anderen bewaffneten Widerstandsgruppen in Gaza festgehalten werden. Kaum Erwähnung finden hingegen die zigtausend Palästinenser, die seit dem 7. Oktober 2023 vom Netanjahu-Regime verhaftet, verschleppt und aufs Übelste misshandelt wurden und werden.
Allein im Westjordanland – wo kein offener Krieg herrscht – wurden von der israelischen Armee bei ihren vor allem nächtlichen Razzien seit dem 7. Oktober mehr als 10.000 (zehntausend) Menschen gefangen genommen und in Knäste und Folterzentren verschleppt.
Das Ziel: jeden Widerstand gegen das Besatzungsregime mit Landraub, rechtsextremer Siedlergewalt, Massenüberwachung, der alltäglichen Willkür an Hunderten „Checkpoints“ etc. im Keim zu ersticken. Darüberhinaus sollen viele von ihnen auch als Verhandlungsmasse im Tauziehen um einen „Deal“ zur Befreiung der im Gazastreifen festgehaltenen Israelis dienen.
Die 1989 gegründete israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat ihre Recherchen zu den Verhältnissen in den israelischen Kerkern vor kurzem in einem 118 Seiten langen, erschütternden Bericht zusammengefasst. Die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ brachte heute (am 23. August 2024) dazu ein Interview mit B’Tselem-Sprecher Shai Parnes, den wir für Euch übersetzt haben. Er folgt hier weiter unten
Eine Weiterverbreitung des Interviews ist hochgradig erwünscht!
Infos zu B’Tselem findet Ihr hier:
B’Tselem – The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories (btselem.org)
Über den B’Tselem-Bericht „Willkommen in der Hölle“ berichtete die „junge Welt“ in einem kurzen Artikel vom 9.8.2024:
Nahostkonflikt: Systematische Misshandlungen, Tageszeitung junge Welt, 09.08.2024
Die jüngsten, krassen Knasterfahrungen des linken Aktivisten und Gemeinderatsmitglieds von Rammalah, Omar Assaf, fasste die „junge Welt“ am 3.8.2024 zusammen:
Nahostkonflikt: Israels »Rache«, Tageszeitung junge Welt, 03.08.2024
Mit solidarischen Grüßen,
GEWERKSCHAFTSFORUM HANNOVER
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„il manifesto“ 23. August 2024
B’Tselem: „Massenverhaftungen sind Teil des Apartheid-Regimes.“
PALÄSTINA / ISRAEL. Interview mit dem Sprecher der israelischen NGO nach der Veröffentlichung des Berichts, in dem die Existenz eines Netzwerks von Misshandlungen palästinensischer Gefangener angeprangert wird: „Wenn es in Israel ein echtes Justizsystem gäbe, müsste der Oberste Gerichtshof sofort in die Folterlager gehen, überprüfen, was dort geschieht, und sie umgehend schließen.“
Chiara Cruciati
Zwei Wochen sind seit der Veröffentlichung des Berichts „Welcome to Hell“ („Willkommen in der Hölle“) der israelischen Nicht-Regierungs-Organisation B’Tselem vergangen. Auf 118 Seiten prangert die Menschenrechtsorganisation die Einrichtung eines Netzes von Folterlagern für Tausende palästinensischer Gefangener an, von denen das berüchtigte Zentrum Sde Teiman nur die Spitze des Eisbergs ist.
Tägliche Misshandlungen und Gewalt, Demütigungen, Hunger und Verschwindenlassen, mehr als 60 in der Haft Verstorbene, all das ist Teil eines strukturierten Systems, das an Breitengrade und Epochen erinnert, die in der globalen Vorstellungskraft verwurzelt sind: Chile, Argentinien, Ägypten. Den spärlichen internationalen Erklärungen zur Verurteilung sind bisher weder innerhalb noch außerhalb Israels Maßnahmen gefolgt. Wir sprachen darüber mit Shai Parnes, dem Sprecher von B’Tselem.
In Eurem Bericht sprecht Ihr von einem Netz von faktischen Folterlagern und der Misshandlung von Palästinensern weil sie Palästinenser sind.
Wir sind zu diesem Schluss gekommen, nachdem wir 55 Gefangene interviewten – Frauen und Männer aus der gesamten Region, dem Westjordanland, dem Gazastreifen, Ost-Jerusalem sowie Palästinenser, die israelische Staatsbürger sind, die in 16 verschiedenen Gefängnissen inhaftiert waren, von denen 13 von den Gefängnisbehörden und drei von der Armee betrieben werden. Der Jüngste ist 16 Jahre alt, der Älteste 65. Die Zeugenaussagen stimmen überein: Obwohl jeder Fall einzigartig ist, weisen sie viele Gemeinsamkeiten auf. Sie alle litten unter täglicher Gewalt, Hunger, denselben hygienischen Bedingungen und Vernachlässigung. Sie erlebten die gleichen Erniedrigungen und demütigenden Prozeduren, die gleiche fehlende oder mangelhafte medizinische Behandlung. Sie lebten in extrem überfüllten Zellen, die mal sechs, mal 14 Personen umfassten. Aus diesen Informationen haben wir den Schluss gezogen, dass es sich um eine systematische und routinemäßige Politik handelt, die von der israelischen Regierung und dem Minister, der das Gefängnissystem leitet, Itamar Ben Gvir, inspiriert wurde.
Wenn man die Schritte rekonstruiert, die zu diesem Netzwerk geführt haben: Schon vor dem 7. Oktober hatte Ben Gvir gesagt, er wolle die Bedingungen im Gefängnis verschärfen. Welche Rolle spielt und spielte dann die extreme Rechte dabei?
Ben Gvir und die extreme Rechte spielen dabei eine enorme Rolle. Er hatte bereits über Gefängnisse gesprochen und als er zum Minister ernannt wurde, hat er gehandelt. Für die palästinensischen Gefangenen hat sich die Situation zum Schlechten verändert. Nach dem brutalen Angriff vom 7. Oktober ((2023)) nutzten Ben Gvir und diese sadistische und rassistische Regierung die Stimmung in Israel, die Angst, die Unruhe und die Furcht vor dem Verlust der Sicherheit aus. Die Regierung benutzte sie auf zynischste Weise, um ihre Ideologie umzusetzen.
Misshandlung, Folter und Demütigung in den Gefängnissen sind Teil eines umfassenderen Netzes von Unterdrückung und Besatzung. In Ihrem Bericht sprechen Sie von einem Versuch, das palästinensische Sozialgefüge zu zerstören. Steckt hinter diesen Misshandlungen eine bestimmte Politik?
Was wir in den letzten zehn Monaten erlebt haben, sind die extremsten, brutalsten und radikalsten Aktionen seit Jahrzehnten. Die Vertreibung der Palästinenser und der Raub ihres Landes waren schon immer das Herzstück der Politik des israelischen Apartheidregimes. Dies geschieht im Gazastreifen und im Westjordanland, und zwar am heftigsten seit dem 7. Oktober. Die Masseninhaftierung von Palästinensern hat eine lange Geschichte und ist Teil dieser Politik. Sie ist Israels Ziel – nicht nur das Ziel dieser Regierung! Die Inhaftierung von 800.000 Palästinensern in weniger als 60 Jahren muss als ein konkreter Plan angesehen werden. Wenn man einen Menschen inhaftiert, hat das nicht nur Auswirkungen auf ihn selbst: Die Inhaftierung wirkt sich auf die Familie und ihre Dynamik aus, auf die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, und sie wirkt sich auf die Gesellschaft aus, wenn die Zahl der Inhaftierten so enorm ist. Das Projekt besteht darin, die palästinensische Gesellschaft zu zerstören.
Trotz der Schwere Eurer Anschuldigungen waren die Reaktionen halbherzig. Es gab internationale Erklärungen, aber mehr nicht. Wurde in Israel in der Presse darüber berichtet? Wurden die Gerichte um eine Klärung gebeten?
Die israelische Presse hat im Großen und Ganzen darüber berichtet, ebenso wie die Presse in Europa, den Vereinigten Staaten, Lateinamerika, Asien und Australien. Aus rechtlicher Sicht ist der Untersuchungsmechanismus in Israel bis hin zum Obersten Gerichtshof ein Mechanismus der Verheimlichung. Denken wir an das Gefangenenlager Sde Teiman: Es war die Forderung einiger israelischer Nicht-Regierungs-Organisationen nach seiner Schließung, die den Obersten Gerichtshof dazu bewegen wollen. Wenn es ein echtes, ehrliches Rechtssystem gäbe, müsste der Oberste Gerichtshof, sobald er eine Beschwerde über ein Folterzentrum erhält, sofort dorthin gehen. Und sobald er feststellt, dass es sich um ein Folterlager handelt, müsste er es umgehend schließen. Aber stattdessen hat der Oberste Gerichtshof den Fall eingefroren und wochenlang vertagt, so dass das israelische Apartheidregime und die derzeitige Regierung machen können, was sie wollen.
(Übersetzung: Gewerkschaftsforum Hannover)