Was nicht vergessen gemacht werden darf: der zigtausendfache Tod im Sumpf des KZ Ozarichi (im heutigen Belarus)

Arkadiy Shkuran, ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Ozarichi, spricht in einem Artikel der belarussischen Militärzeitschrift von 20.000 Opfern (4). Gemäß seinen Angaben befreite die Rote Armee am 19. März 1944 34.110 Menschen, darunter 15.960 Kinder unter 13 Jahren, 517 Waisen, 13.702 Frauen und 4.448 alte Menschen. Seinen Angaben zufolge wiesen mehr als dreihundert der freigelassenen Gefangenen Schuss- und Splitterwunden auf, was die Behauptungen stützt, wonach die Wachmannschaften auf Insassen des „Lagers“ geschossen haben und Ausbruchsversuche nach dem Rückzug der Wehrmacht mit Granatwerferfeuer verhindert worden sind. 

Nur wer das ehemalige sogenannte „Lager“ Ozarichi in Belarus bewusst sucht, wird es auch finden. Hier der abgesperrte Eingang. (Photo Ralph Bosshard, siehe dazu Anmerkung Nr. 3))

Was nicht vergessen gemacht werden darf: der Tod im Sumpf

24. Januar 2025Von: Ralph Bosshardin Geschichte

Wenn am kommenden Montag, 27. Januar, des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz gedacht wird, dann dürfen andere Orte des Schreckens nicht vergessen – oder gar vergessen gemacht – werden. Es gibt noch viele solche Orte speziell auch auf der Landkarte von Belarus, die an den Schmerz und das Grauen der schrecklichen Tragödien und grausamen Verbrechen der Nazis während des Zweiten Weltkriegs bzw. des Großen Vaterländischen Krieges erinnern. Neben der Gedenkstätte Khatyn ist prominent die Ortschaft Ozarichi in der Region Gomel zu erwähnen.

In einem Sumpfgebiet bei Ozarichi nördlich der Stadt Mozyr betrieb die deutsche Wehrmacht vom 12. bis 19. März 1944 ein „Lager“ für arbeitsunfähige Zivilisten und ließ dort in eisiger Kälte, ohne Verpflegung, sanitäre Anlagen oder medizinische Hilfe innerhalb einer Woche Tausende Menschen erfrieren und verhungern. Das Lager war auf Initiative des damaligen Oberkommandierenden der 9. Armee der Wehrmacht, General Josef Harpe errichtet worden, der für dieses Verbrechen nie zur Verantwortung gezogen wurde (1).

Während die Homepage der deutschen Bundeswehr das Massaker von Oradour-sur-Glane in Frankreich thematisiert, sucht man dort vergebens nach einem Hinweis auf das Verbrechen von Ozarichi (2).

Lebenserwartung drei Tage

Bis zum 12. März 1944 wurden in Sumpfgebieten in der Umgebung von Ozarichi drei Areale mit Stacheldraht umzäunt, ohne jegliche Unterkünfte oder sanitäre Einrichtungen. Die Bezeichnung „Lager“ ist in diesem Sinne irreführend. 

Zwischen dem 12. und 14. März trieben deutsche Soldaten Zivilisten aus den belarussischen Regionen Gomel, Mogilew und Polesien sowie den benachbarten russischen Regionen Smolensk und Orel in Gruppen von jeweils 5’000 bis 6’000 Menschen in dieses „Lager“. Schon auf dem Anmarsch wurden mindestens 500 Menschen, darunter Kinder, von den Begleitmannschaften erschossen, weil sie nicht mehr weiterrgehen konnten. Die Lebenserwartung unter den katastrophalen Bedingungen im „Lager“ bei eisiger Kälte betrug durchschnittlich drei Tage. Darüber hinaus schossen deutsche Wachmannschaften teilweise auf Menschen, die in ihrer Verzweiflung versuchten, aus dem Sumpf Wasser zu trinken. Den eingesperrten Menschen wurde auch verboten, Feuer anzuzünden, damit die Rote Armee nicht die Standorte der „Lager“ aufklären konnte. 

Verbrechen und Wunder

Über die Zahl der Opfer kursieren verschiedene Angaben: Von den bis zu 46’000 verschleppten Menschen, starben innerhalb der 10 Tage der Existenz dieses Lagers deren 9’000 bis 20’000 an Kälte, Hunger und Krankheiten. 

Arkadiy Shkuran, ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Ozarichi, spricht in einem Artikel der belarussischen Militärzeitschrift von 20’000 Opfern (4). Gemäß seinen Angaben befreite die Rote Armee am 19. März 34’110 Menschen, darunter 15’960 Kinder unter 13 Jahren, 517 Waisen, 13’702 Frauen und 4’448 alte Menschen. Seinen Angaben zufolge wiesen mehr als dreihundert der freigelassenen Gefangenen Schuss- und Splitterwunden auf, was die Behauptungen stützt, wonach die Wachmannschaften auf Insassen des „Lagers“ geschossen haben und Ausbruchsversuche nach dem Rückzug der Wehrmacht mit Granatwerferfeuer verhindert worden sind. 

Besonders berührend ist die Geschichte eines mittlerweile verstorbenen Mannes, in dessen Geburtsurkunde das Lager Ozarichi als Geburtsort eingetragen war. Die Deutschen verschleppten seine schwangere Mutter aus dem Bezirk Zhlobin. In Ozarichi brachte sie einen Jungen zur Welt und starb. Die anwesenden Häftlinge legten sie und das Kind unter einen Busch und deckten sie zu, damit die Deutschen sie nicht bemerkten. Und es war, als hätte das Kind alles gespürt: Es schrie nicht ein einziges Mal. Am nächsten Tag dachte man, das Baby sei tot, aber es bewegte sich. Alles was die Häftlinge für das Kind tun konnten, war, ihm etwas Schnee auf die Lippen, zu legen, um ihm so etwas Wasser zu geben. Wie durch ein Wunder überlebte das Baby. Militärärzte der Roten Armee konnten den Säugling retten und nannten ihn Valentin, zu Ehren seiner Mutter. 

Übereifrige Täter

Mit der Verschleppung der Lokalbevölkerung waren die Wehrmachtstruppen der 9. Armee beauftragt worden, namentlich die 35., die 36., die 110., die 129., die 134. und die 296. Infanterie-Division, sowie die 5. und die 20. Panzerdivision, wobei letztere sich als übereifrig zeigte und mehr Menschen verschleppte, als ihr befohlen worden war (5).

Das Kriegstagebuch der 9. Armee vom 8. März 1944 liefert die Begründung für dieses Verbrechen:

„Es ist geplant, aus der frontnahen Zone der Armee alle nicht arbeitsfähigen Einheimischen in den aufzugebenden Raum zu bringen und bei der Frontzurücknahme dort zurückzulassen, insbesondere die zahlreichen Fleckfieberkranken, die bisher in besonderen Dörfern untergebracht worden sind, um eine gesundheitliche Gefährdung der Truppe nach Möglichkeit auszuschalten. Der Entschluss, sich von dieser, auch ernährungsmäßig erheblichen Bürde nunmehr auf diese Weise zu befreien, ist vom AOK nach genauer Erwägung und Prüfung aller sich daraus ergebender Folgerungen gefasst worden.“ (6)

Ob die Deutschen tatsächlich mit Typhus infizierte Kinder, alte Männer und Frauen, als menschliche Schutzschilde gegen die vorrückenden sowjetischen Soldaten nutzen wollten, wurde nie juristisch wasserdicht nachgewiesen und muss Spekulation bleiben. Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.

Teilweise billig davongekommen

Dieter Pohl, Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte, hat die Errichtung des Lagers als „eines der schwersten Verbrechen der Wehrmacht gegen Zivilisten überhaupt“ charakterisiert (7).

Der Kommandeur der führend beteiligten 35. Infanterie-Division (ID), Generalmajor Johann-Georg Richert, wurde Ende Januar 1946 im Minsker Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet (8). Generalleutnant Karl Decker, Kommandeur der 5. Panzer-Division (PD) und Generalleutnant Ernst Philipp, der Kommandeur der 134. ID, begingen gegen Kriegsende Selbstmord, nachdem ihre Truppen aufgerieben oder zur Kapitulation gezwungen worden waren (9). Generalleutnant Arthur Kullmer, der Kommandeur der 296. ID, verstarb 1953 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft (10).

Generalmajor Alexander Conrady (36. ID), Generalleutnant Wilhelm Ochsner, Generalleutnant Hans Traut (78. ID), Generalmajor Johann Tarbuk, und Generalleutnant Eberhard von Kurowski (110. ID) wurden nach dem Krieg wegen ihrer Beteiligung an Kriegsverbrechen zur Höchststrafe von 25 Jahren Arbeitslager verurteilt, von welchem sie 1955 heimkehrten (11).

Generalmajor Heribert von Larisch hingegen, der Kommandeur der 129. ID und Generalleutnant Mortimer von Kessel von der 20. PD ließen sich nach dem Krieg in Westdeutschland nieder und wurden für ihre Beteiligung am Verbrechen von Ozarichi nie zur Verantwortung gezogen (12).

Wohin du auch gehst, wohin du auch reist, aber halte hier an

Lange erinnerte nur ein einsamer hölzerner Wachturm und ein Stacheldraht-Zaun an die furchtbaren Ereignisse des Frühjahrs 1944 in Ozarichi. Im Jahr 2023 begannen dann die Arbeiten an einer eigentlichen Gedenkstätte, die erstmals am 9. Dezember 2023, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Völkermordes, ihre ersten Besucher empfangen konnte (13). Inzwischen wurde ein Pavillon mit einem Informationsmuseum und der Turm der Erinnerung errichtet, in welchem die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge eingraviert sind. Am Rande des sumpfigen Geländes befindet sich heute eine Mauer der Trauer mit Kreuzen. An den sogenannten „Steinen der Erleuchtung“ befinden sich Tafeln mit vergrößerten Archivfotos von Häftlingen. Und auch an die Militärsanitäter der Roten Armee wird jetzt erstmals erinnert, welche die Ausbreitung der Typhusepidemie verhinderten.

Der Wachturm des „Lagers“ Ozarichi. Photo Ralph Bosshard, siehe dazu Anmerkung 14.

Nach dem Krieg waren insbesondere die Amerikaner daran interessiert, die Kriegserfahrungen ihrer ehemaligen deutschen Gegner zu nutzen. Die historische Abteilung des Generalstabs der US-Armee umfasste zeitweise eine deutsche Sektion, die vom ehemaligen Generalstabschef Franz Halder geführt wurde. Unter Halders Leitung wurde diese Abteilung zu einem zentralen Bestandteil der Verbreitung des Mythos der „sauberen“ Wehrmacht in den USA – und in Deutschland (15).

Anlässlich des Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wird sich das heutige Israel wieder in die Opferrolle werfen und Deutschland wird im Rahmen seiner angeblich moralisch überlegenen Außenpolitik bedingungslos zustimmen. Schade, dass man sich in Berlin nicht auch an Ozarichi erinnert.  

Siehe zum gleichen Thema auch diese Publikation!

Anmerkungen

  1. Die wichtigsten Darstellungen dazu stammen von Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht: deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944 München 2008, namentlich S. 328., sowie von Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Dissertation TU Berlin 1998, Studienausgabe hrsg. Hamburg 2000. Rezension von Isabel Heinemann, online unter https://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/200.pdf und von Hans Heinrich Nolte: Osarici 1944, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens; Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003. Die Personalakte Harpes im Bundesrachiv online unter http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/01163/index-29.html.de. Der entsprechende Eintrag im Lexikon der Wehrmacht unter https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/H/HarpeJ-R.htm
  2. Siehe „Das Massaker von Oradour 1944“, auf der Homepage der deutschen Bundeswehr, 09.06.2022, online unter https://zms.bundeswehr.de/de/mediathek/zmsbw-podcast-38-oradour-5442988
  3. Aufgenommen vom Verfasser im Rahmen einer Suchaktion nach Erinnerungen an das Schicksal von Vorfahren aus seiner Familie.
  4. Siehe Аркадий Шкуран: Озаричи, Март 1944‑го…, bei Белорусская Военная Газета (Belorusskaja Voennaja Gazeta), 15.03.2013, online unter http://vsr.mil.by/2013/03/15/ozarichi-mart-1944%E2%80%91go%E2%80%A6/, in russischer Sprache. 
  5. Siehe Hans Heinrich Nolte: Osarici 1944, in Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 186–194.
  6. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg i.B., RH 20-9/176, zitiert nach Hans Heinrich Nolte: Osarici 1944, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, S. 186–194
  7. Siehe Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht: deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944 München 2008, S. 328.
  8. Siehe Lexikon der Wehrmacht unter https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/R/RichertJG.htm
  9. Ebd. unter https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/D/DeckerK.htm und https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/P/PhilippErnst.htm
  10. Ebd. unter https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/K/KullmerA.htm.  
  11. Ebd. unter https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/C/ConradyA.htmhttps://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/O/OchsnerWilhelm.htmhttps://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/T/TrautH.htmhttps://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/T/TarbukSensenhorstJohann.htm und https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/K/KurowskivonEberhard.htm
  12. Ebd. unter https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/L/LarischHeribertvon.htm und https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Personenregister/K/KesselMv.htm.
  13. Siehe „Сберечь мир и защитить память“. Лауреаты спецпремии Президента о реконструкции мемориала в Озаричах,bei Belta, 08.01.2025, online unter https://belta.by/society/view/sberech-mir-i-zaschitit-pamjat-laureaty-spetspremii-prezidenta-o-rekonstruktsii-memoriala-v-ozarichah-687455-2025/, in russischer Sprache. 
  14. Aufgenommen vom Verfasser im Rahmen einer Suchaktion nach Erinnerungen an das Schicksal von Vorfahren aus seiner Familie.
  15. Siehe hierzu Ronald Smelser, Edward J. Davies: The Myth of the Eastern Front: The Nazi-Soviet War in American Popular Culture. New York, S. 65, online unter https://dokumen.pub/the-myth-of-the-eastern-front-the-nazi-soviet-war-in-american-popular-culture-0521833655-9780521833653.html.

Weitere Artikel von:Ralph BosshardEmpfehlen via E-MailGratis-Newsletter abonnieren

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert