Faschisten in Goldgräberstimmung: Staatlich gelenkter Zwangsverkauf: Die »Arisierung« der Seifenfabrik Meier Wolf in Schlüchtern

Ende der 1980er bis zu Beginn der 1990er standen die Gebäude noch am Rand der historischen Altstadt Schlüchterns unweit des ehemaligen Kaufhauses Langer, keine 500 Meter von der nach 1938 zur Uniformfabrik und nach 45 über Nacht in eine zivile Kleiderfabrik umgewandelte Synagoge entfernt (eine Reihe von HaBE-Fotografien der Wolf/Heinlein-Gebäude soll hier noch folgen). In Schlüchtern gab es in den 1980/90ern auch eine Bürgerinitiative gegen den Abriss dieses nicht nur Industrie-Denkmals. Es sollte als aktive Gedenkstätte und Kulturzentrum erhalten bleiben. Die Stadt Schlüchtern ließ die Gebäude des zur Seifenfabrik und Reinigungsfirma Heinlein arisierten Unternehmens der Gebrüder Wolf abreißen. Heute steht dort das wunderbar ins Altstadt-Abiente passende Hotel „Stadt Schlüchtern“ und ein Altenheim, ohne jeglichen Hinweis auf die Geschichte der Wolfs.

Die Historikerin Dr. Christine Wittrock hat dazu für die Tageszeitung „Junge Welt“ den folgenden Artikel geschrieben:

Aus Junge Welt: Ausgabe vom 04.03.2025, Seite 12 / Thema

Deutschland im Faschismus

Faschisten in Goldgräberstimmung

Staatlich gelenkter Zwangsverkauf: Die »Arisierung« der Seifenfabrik Meier Wolf in Schlüchtern Von Christine Wittrock

Die geschilderten Begebenheiten sind genauer beschrieben und mit umfangreichen Quellenverweisen versehen in: Christine Wittrock: Saubere Geschäfte, weiße Westen und Persilscheine. Die Geschichte der Seifenfabriken in Schlüchtern und Steinau seit 1825, Hanau 2002

Die »Schlüchterner Seifenfabrik M. Wolf« war ein im Bergwinkelland alteingesessenes Unternehmen. Es gehörte dem jüdischen Fabrikanten Meier Wolf, der es 1935 an seine Söhne Fritz und Hugo übergab.¹ Das Werk hatte etwa einhundert Arbeiter und Angestellte, dazu einhundert Reisende, und gehörte damit zu den größten Unternehmen der Region. Die Firma florierte, erste Einbrüche gab es allerdings Anfang der 1930er Jahre, als faschistische Boykottaufrufe den jüdischen Fabrikanten zu schaffen machten. Die Familie dachte zunächst nicht ans Auswandern. Die Söhne waren für Deutschland in den Ersten Weltkrieg gezogen. Der jüngere Sohn Fritz wurde mehrfach verwundet und trug eine lebenslange Verletzung davon: Sein rechter Arm blieb steif. Er war mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden.

Wie viele andere hoffte die Familie Wolf anfangs darauf, dass Hitlers Regierung nicht von Dauer sein würde. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Ganz besonders die jüdischen Kinder bekamen den offenen Antisemitismus zu spüren. In die Schlüchterner Stadtschule an der Lotichius­straße, die die Kinder der Wolfs besuchten, gingen 1933 noch 27 jüdische Schülerinnen und Schüler. Hier wurden sie mehr und mehr isoliert, sie mussten in der hintersten Reihe sitzen, und die Lehrer ignorierten ihre Fragen; von den anderen Kindern wurden sie attackiert. All das veranlasste die Eltern, Anne und Ernst von der Schlüchterner Schule zu nehmen und auf das Philanthropin, eine jüdische Schule in Frankfurt am Main, zu schicken. Da sich die Lebenssituation für die jüdische Bevölkerung immer mehr verschlechterte, da man als Jude schon um seine persönliche Sicherheit fürchten musste, fasste die Familie Wolf nun doch eine Auswanderung ins Auge.

Bereits 1933 waren 37.000 jüdische Deutsche aus dem Deutschen Reich ausgewandert. Da aber im Verlauf der 30er Jahre die Auswanderungsquote wieder sank, stellten die deutschen Behörden Überlegungen an, um der »Auswanderungsmüdigkeit« zu begegnen. Der von alters her mehr oder weniger vorhandene Antisemitismus wurde von staatlicher Seite planvoll genutzt, hatte er doch ohnehin in der faschistischen Ideologie den Rang einer Staatsdoktrin.

»Eine weitgehende judenfeindliche Volksstimmung muss erzeugt werden, um die Basis für den anhaltenden Angriff und das wirksame Zurückdrängen zu bilden (…). Das wirksamste Mittel, um den Juden die Sicherheit zu nehmen, ist der Volkszorn, der sich in Ausschreitungen ergeht. Trotzdem diese Methode illegal ist, hat sie langanhaltend gewirkt; (…) psychologisch ist dies um so verständlicher, als der Jude durch Pogrome der letzten Jahrhunderte viel gelernt hat und nichts so fürchtet als eine feindliche Stimmung, die sich jederzeit spontan gegen ihn wenden kann.« So referierte der Sicherheitsdienst Himmlers über die Lage des Judentums 1937.

Unter Druck gesetzt

Anfang 1938 beauftragten Hugo und Fritz Wolf die Dresdner Bank in Fulda, einen Käufer für ihre Fabrik zu suchen. Der Verkauf eines jüdischen Unternehmens wurde zu dieser Zeit vom faschistischen Staat scharf kontrolliert. Spezielle Genehmigungsbehörden, Gauwirtschaftsstellen, hatten die Kaufverträge zu überprüfen und sorgten dafür, dass der Käufer der NSDAP genehm war. Vor allem aber sollte überprüft werden, ob der zu zahlende Kaufpreis für ein jüdisches Geschäft niedrig genug angesetzt war. Auf diese Weise wurde der große Raubzug gegen jüdischen Besitz, der bereits 1933 begonnen hatte, mit staatlichen Maßnahmen gelenkt, gefördert und von Jahr zu Jahr verschärft.

Für die »Schlüchterner Seifenfabrik M. Wolf« gab es mehrere Interessenten. Die Verkaufsverhandlungen zogen sich hin. Für die Wolfs war es ein Balanceakt, einerseits einen noch akzeptablen Preis zu erzielen und andererseits die Emigrationsmöglichkeiten richtig einzuschätzen. Besonders schwierig gestalteten sich die Verhandlungen mit einem Interessenten namens Hartmann, der das Unternehmen unbedingt kaufen wollte und dabei mit politischen Drohungen auf die Verkäufer Druck ausübte.

Hartmann war Geschäftsmann aus der gleichen Branche und verfügte offenbar über gute Beziehungen zur Gauwirtschaftsstelle. Er beauftragte einen Wirtschaftsprüfer, um den Verkaufswert der Firma feststellen zu lassen – auf Kosten der Wolfs. Als diese sich darauf nicht einlassen wollten, erschien unangemeldet der Anwalt Hartmanns in Begleitung eines Buchprüfers namens Mohr, der behauptete, der Gauwirtschaftsberater habe ihn mit der Prüfung des Betriebes beauftragt. Es sei Eile geboten, und außerdem könne die Gauwirtschaftsstelle auch einen Erwerber vorschreiben. Vorher hatten sich die beiden mit Kreisleiter Puth, dem NSDAP-Betriebszellenobmann Leipold und Hartmann in einem Schlüchterner Gasthaus getroffen, um die Lage zu besprechen.

Da sich die Wolfs weiterhin einer Betriebsprüfung widersetzten, erhöhten nun Hartmann und sein Anwalt den Druck: Der Kaufpreis des Betriebes wurde von der Gauwirtschaftsstelle vorgeschrieben: »Der Preis ist schließlich, was der Gauwirtschaftsberater vorschreibt; mehr kann Ihnen niemand geben«, meinte Hartmann. Die Wolfs mussten sich schließlich dem Druck beugen. Am 6. Mai 1938 erschien Buchprüfer Mohr und machte eine Betriebsprüfung. Noch während dieser bei der Arbeit war, rückten wiederum Hartmann und sein Anwalt Scholz an und wollten einen Vorvertrag abschließen. Es sei dafür höchste Zeit. Es seien Kräfte am Werk, die ihnen die Sache sonst aus der Hand nähmen. Außerdem müsste der Betrieb innerhalb von 48 Stunden veräußert sein, sonst würde ein Kommissar eingesetzt werden.

»Die Dinge haben eine innere Dynamik. Die Entwicklung geht heute sehr schnell. Wir müssen unbedingt suchen zum Abschluss zu kommen, sonst wird uns die Sache aus der Hand geschlagen, und Sie haben nichts davon … Sie wissen nicht, wie leicht heute die Volksmenge erregt ist …« Diese Worte von Hartmanns Anwalt Scholz klingen für den heutigen Leser wie eine düstere Prophezeiung: Denn ein halbes Jahr später ereignete sich tatsächlich das, womit hier gedroht wurde: ein gut organisiertes reichsweites Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung im November 1938. Zu diesem Zeitpunkt waren einige Mitglieder der Familie Wolf noch in Deutschland und erlebten die unheilvollsten Wochen ihres Lebens.

Aber zurück zum Mai 1938: Am 11. Mai schlossen Hugo und Fritz Wolf den Kaufvertrag für ihr Unternehmen ab: mit einem Verwandten des Herrn Hartmann, Eugen Heinlein aus Berlin-Spandau, der dort schon eine kleine Fabrik betrieben hatte. Über die Verkaufsverhandlungen mit Heinlein wissen wir nichts, nur so viel: Heinlein erwarb das Unternehmen für einen Preis von circa 421.000 Reichsmark. Der Anwalt der Familie Wolf schätzte den Verkaufswert zu diesem Zeitpunkt auf circa 1,1 Millionen Reichsmark. Die Verkaufsverhandlungen mit Hartmann bewegten sich zwischen 280.000 und 325.000 Reichsmark. Die Wolf-Brüder hatten anfangs gehofft, einen Firmenwert von 800.000 Reichsmark zu bekommen, ließen diese Forderung aber bereits im April 1938 fallen, nachdem sie einen Bescheid des Gauwirtschaftsberaters über die Richtlinien für die Genehmigung der Kaufverträge erhalten hatten.

In die Emigration gedrängt

In dieser Zeit nahm die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung im wirtschaftlichen Bereich immer mehr zu. Im April 1938 wurde eine Verordnung erlassen, die Juden verpflichtete, ihr gesamtes Vermögen, sofern es 5.000 Reichsmark überstieg, anzumelden. Der Staat schickte sich nunmehr an, den Prozess dieser großangelegten Vermögensumverteilung, »Arisierung« oder »Entjudung« genannt, verstärkt zu überwachen und zu lenken. Später konnte die jüdische Bevölkerung nicht mehr über ihre Bankguthaben verfügen, da diese gesperrt wurden. Noch später dann, ab Ende 1941, wurde das Vermögen »ausgewanderter« Juden, also zumeist deportierter und ermordeter Juden, vom Staat eingezogen.

Nun blieb den Wolfs nur noch die Emigration. Hugo Wolf ging mit Frau und Tochter im September 1938 nach Palästina und versuchte sich als Landwirt. Fritz Wolf und seine Frau Paula bemühten sich um ein Visum für die USA. Ihre Kinder Ernst und Anne hatten sie schon zuvor in Internate nach England gegeben. Ein Visum für die USA zu bekommen war nicht einfach. Zwar konnten Verwandte in den USA für den Lebensunterhalt der Emigranten garantieren, aber als Fritz Wolf die Papiere dem US-Konsulat in Stuttgart vorlegte, eröffnete man ihm, dass es ein Quotensystem und damit eine beträchtliche Wartezeit gebe. Das Ehepaar bekam eine Nummer entsprechend dem Eingang des Antrages. Man sagte ihnen, dass sie nicht vor Frühjahr 1939 reisen könnten.

Nun galt es zu warten. Das Pogrom des 9. November 1938 erlebten Fritz und Paula Wolf in Frankfurt. Glücklichen Umständen hatten sie es zu verdanken, dass sie vor Misshandlungen und KZ-Haft bewahrt blieben: »Glücklicherweise waren wir an jenem Tag bei unserer Freundin Gisela Rothschild in Frankfurt. Gisela, eine junge Witwe, war die einzige jüdische Mieterin in einem Mietshaus, und sie war überzeugt, dass kein Nazi dort einen Juden suchen würde. Als wir hörten, was los war, bestand Gisela darauf, dass wir bei ihr blieben. Am anderen Tag kam auch Hugo Windmüller, weil er in der Nähe war, zu uns. Wir beide haben die Wohnung fünf Wochen nicht verlassen.«

Fritz Wolf und sein Schwager Hugo Windmüller führten nun ein Leben im Untergrund. Die beiden Frauen Paula und Gisela trauten sich auf die Straße – den Stern mussten Juden zu diesem Zeitpunkt noch nicht tragen –, kauften das Nötigste ein und verbrachten Vormittage vor dem englischen Konsulat, um ein Visum für England zu beantragen. Die Wolfs wollten nun Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Aber auch England empfing die Emigranten nicht mit offenen Armen. Die englischen Behörden verlangten einen Nachweis, dass der beabsichtigte Aufenthalt in England nur vorübergehend sei. Eine Schwester Fritz Wolfs war mit ihrem Mann bereits 1933 nach Großbritannien gegangen. Diese besorgten ihnen die notwendigen Dokumente, um bis zu ihrer Übersiedlung in die USA in London Unterschlupf zu finden.

Der Kaufpreis von circa 421.000 Reichsmark war bei der Übernahme der Fabrik durch Heinlein nicht vollständig gezahlt worden. Man hatte vereinbart, dass ein Restbetrag von 20 Prozent des Kaufpreises in zwölf Raten erst im Jahr 1939 gezahlt werden sollte. Dazu aber war es jetzt zu spät. Die Ereignisse überschlugen sich, und die Wolf-Brüder ließen im Dezember 1938 durch ihren Anwalt mit Heinlein vereinbaren, den Restbetrag sofort zu zahlen, was den Preis nochmals um circa 20.000 Reichsmark sinken ließ. Die politischen Ereignisse des Jahres 1938 versetzten die »Ariseure« reichsweit in eine immer bessere Verhandlungsposition.

Fritz und Paula Wolf hatten keine Chance mehr, ihr Geld aus Deutschland herauszubekommen. Ihre Konten wurden durch Sicherungsanordnungen der Finanz- und Devisenbehörden gesperrt. Darüber hinaus drangsalierte der deutsche Staat seine jüdischen Flüchtlinge mit zahlreichen Abgaben wie einer »Reichsfluchtsteuer«, einer »Judenabgabe« und einer »Golddiskont-Abgabe«. 1942 wurde das Restguthaben Fritz Wolfs – über 24.000 Reichsmark – zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen.

In alle Winde zerstreut

Der Raubzug des Staates vollzog sich mit deutscher Gründlichkeit. Am 12. November 1938 – unmittelbar nach dem Novemberpogrom – wurde von Göring die »Verordnung über die Sühneleistung der Juden« erlassen. Die jüdische Bevölkerung wurde zur Zahlung einer Kontribution von einer Milliarde Reichsmark verpflichtet. Die Abgabe betrug 20 Prozent des Vermögens. Einen Monat später erfolgte die »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben«. Zuvor waren Reisepässe von Juden für ungültig erklärt worden, und Heydrich hatte im November 1938 eine »Polizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit« erlassen, womit der jüdischen Bevölkerung räumliche und zeitliche Beschränkungen auferlegt wurden. Mit der im Dezember 1938 erlassenen »Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens« konnten Juden gezwungen werden, ihr Eigentum zu veräußern.

Fritz Wolf und seine Frau Paula konnten Deutschland Mitte Dezember 1938 verlassen – mit jeweils 20 US-Dollar in der Tasche. In London bei Paul und Else Fließ rückte man eng zusammen: Zu viert lebte man bis April 1939 in einer Zweizimmerwohnung. Die Wolfs waren nun auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen. Zu arbeiten war ihnen von der englischen Regierung nicht erlaubt. Endlich, Anfang April 1939, lag das Visum für die Vereinigten Staaten vor. Mit dem Schiff ging es nun nach New York.

Nun war die Familie des Schlüchterner Seifenfabrikanten Meier Wolf in alle Winde zerstreut: Er selbst folgte im Januar 1939 – mit 76 Jahren – seinem Sohn Hugo nach Palästina. Sohn Fritz arbeitete als Seifensieder in den USA, die jüngste Tochter Else war in England. Seine älteste Tochter Meta war mit ihrer Familie nach Paris gegangen. Ihr Mann starb 1940 während der Emigration, ihr Sohn Kurt wurde von den Nazis deportiert und starb im Holocaust, sie selbst floh mit ihrer Tochter Gretel nach Südfrankreich, von wo aus sie nach dem Krieg nach Amerika ging. Meier Wolfs zweite Tochter Margarethe, die im fränkischen Mellrichstadt wohnte, schaffte es nicht mehr, aus Deutschland herauszukommen. Zwar wurde ihr älterer Sohn Siegfried mit einem Kindertransport nach England geschickt und so gerettet. Sie selbst aber wurde mit ihrem Mann 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Auch ihr jüngster Sohn Alfred wurde Opfer des Holocaust.

Von der Familie Wolf gab es 1939 niemanden mehr in Schlüchtern. Es ist anzunehmen, dass alle froh waren, die sogenannte Reichskristallnacht nicht in ihrer Heimatstadt erleben zu müssen. In Schlüchtern wäre ihr Dasein vermutlich mehr bedroht gewesen als in Frankfurt am Main. Die anonyme Großstadt bot mehr Schutz und mehr Möglichkeiten des Untertauchens als das kleine Landstädtchen, wo jeder jeden kannte und wo man genau wusste, in welchen Häusern Juden wohnten. So aber mussten sie nicht miterleben, dass in dieser Nacht des 9. November 1938 die Synagoge in der Grabenstraße zerstört wurde, dass jüdische Häuser überfallen, Geschäfte geplündert und jüdische Menschen verhöhnt und geschlagen wurden.

Ausbleibende Gerechtigkeit

Wie sah es nun in Deutschland aus, nachdem immer mehr jüdische Deutsche das Land verließen? In Schlüchtern gab es 1939 noch 39 Juden, wo einstmals – Anfang der 30er Jahre – über 400 Juden gelebt hatten. Die jüdische Gemeinde Schlüchtern sah sich gezwungen, ihre beiden Friedhöfe und ihre ausgebrannte Synagoge an der Grabenstraße der Stadt zu verkaufen. In den nun »entjudeten« Wohn- und Geschäftshäusern richtete man sich wohnlich ein; die jüdischen Bewohner waren »ausgewandert«, und man fragte nicht lange, warum. Außerdem ging es wirtschaftlich aufwärts. Die Erwerbslosenzahl sank. Die Kriegsvorbereitungen sorgten für einen stetigen Bedarf an Arbeitskräften. Was wollte man mehr? Sogar einen »sozialistischen« Anstrich gab sich das Regime. Dabei ging es nicht um eine Veränderung der Gesellschaftsordnung, nicht um die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln und nicht um die Aufhebung von Klassengegensätzen und sozialen Konflikten, sondern um die Verdrängung dieser Vorstellung aus dem Bewusstsein der Bevölkerung. »Sozialismus« sollte künftig bedeuten: soziale Fürsorge im Rahmen der neuen »Volksgemeinschaft« und eine äußerliche Angleichung der Klassen.

Auch die Seifenfabrik an der Breitenbacher Straße florierte. Sie hieß nun »Schlüchterner Seifenfabrik E. Heinlein«. Doch die Freude über den erneuten Aufstieg des Deutschen Reiches währte nicht lange. Am 1. September 1939 begann, worauf die Politik der Hitlerfaschisten von Anbeginn gerichtet war: der Krieg.

Der neben der Seifenfabrik gelegene alte jüdische Friedhof an der Breitenbacher Straße wurde 1941 vom neuen Eigentümer Heinlein zur Erweiterung seines Firmengeländes gekauft. Die Stadt Schlüchtern konnte den Friedhof mit Gewinn an die Seifenfabrik veräußern. Die Gräber waren zum Teil durch »unbekannte Täter« verwüstet worden; das übrige besorgte die Firma Heinlein in den Jahren 1943 und 1944, als sie den Friedhof abräumte und die Grabsteine zum Bau eines neuen Wäschereigebäudes auf dem Fabrikgelände verwendete. Etwa 25 Grabsteine, die nicht benötigt wurden, kaufte Steinmetz Degenhard zur Weiterverwendung auf. Auf Veranlassung der US-amerikanischen Militärregierung musste er nach 1945 die noch erhaltenen Steine wieder auf die Gräber stellen. Auch der alte jüdische Friedhof musste auf Geheiß der Militärregierung 1946 wieder hergestellt werden; allerdings betraf das nur einen kleinen Teil des Friedhofs, weniger als ein Viertel der früheren Gesamtfläche. Der Rest blieb Heinleins Firmengelände.

Dass die vermauerten Grabsteine, zum Teil noch mit hebräischen Inschriften, im Fabrikgebäude sichtbar waren, führte in den Nachkriegsjahren zur Verurteilung von Eugen Heinlein und seinem Prokuristen August Wester: Der Ermittler der amerikanischen Besatzungsmacht berichtete: »Die Firma hat versucht, durch Ausmeißeln die Inschriften der Grabmale zu beseitigen, zum Teil in letzter Zeit. Jedoch sind die Steine noch ganz einwandfrei als Grabdenkmäler zu identifizieren«. Die Gerichte in erster und zweiter Instanz verurteilten Heinlein und Wester 1946/47 zu Geldstrafen. Da die US-Amerikaner in den Anfängen der Besatzungszeit mit eisernem Besen auskehren wollten, sollte Eugen Heinlein auch aus seiner »arisierten« Fabrik entfernt werden. Aber er war weder NSDAP-Mitglied gewesen, noch war er sonst nazifaschistisch in Erscheinung getreten. Heinlein hatte lediglich als guter Kapitalist die Gunst der Stunde für den Kauf jüdischen Besitzes genutzt. Also blieb er weiterhin Chef seiner Fabrik.

Im Januar 1946 ordnete die amerikanische Militärregierung an, dass bei der Handelskammer Hanau ein Ausschuss zur Untersuchung von »arisierten« Unternehmen zu bilden sei. Alle Betriebe, die man nach der Machtübergabe an Hitler 1933 von Juden erworben hatte, mussten nun angemeldet und einem Prüfungsverfahren unterzogen werden. Aber wer saß in den Prüfungsausschüssen, und auf welche Informationen konnten sich die Prüfer stützen? Bezeichnenderweise kam die Handelskammer Hanau im Fall Heinlein im Sommer 1946 zu dem Schluss: »Die Arisierung eines Unternehmens hat stattgefunden. Eine Unterzahlung wurde nicht festgestellt. Es wird empfohlen, von Vermögenssperre und Verhängung einer Treuhänderschaft Abstand zu nehmen.«

Dabei stützte man sich auf das Argument, dass die Gebäude und Maschineneinrichtungen beim Kauf veraltet gewesen seien. »Nach den Unterlagen und der Meinung des Vorstehers der Handelskammer in Hanau geht der Kauf des Fabrikgrundstückes Heinlein von Wolf in Ordnung, solange kein Anspruch von jüdischer Seite kommt. Wie die Handelskammer und der «Arisierungsausschuss» in Hanau angeben, soll es sich um einen Verkauf in beiderseitigem Einverständnis handeln.«

Eine merkwürdige Interpretation von »beiderseitigem Einverständnis« wurde hier sichtbar; denn die Wolfs verkauften ja nicht aus freien Stücken ihre Fabrik. Sie wären gern in ihrer Heimat geblieben, wenn es die politischen Verhältnisse erlaubt hätten. Die Arbeitsteilung der im Hitlerfaschismus agierenden Gruppen funktionierte nach dem Muster: Zuerst machte der Pöbel die Lebenssituation der Juden durch Pogrome unerträglich, dann kamen die Schnäppchenjäger und Leichenfledderer und bereicherten sich an den billig zu erwerbenden Besitztümern. Und zum Schluss beschlagnahmte der Staat als oberster Gangster die verbliebenen Guthaben der Juden. Was heißt unter solchen politischen Verhältnissen »beiderseitiges Einverständnis«?

Verschleppung

Vermutlich freute sich Eugen Heinlein über das Gutachten der Handelskammer Hanau. Aber er freute sich zu früh. Hugo und Fritz Wolf waren noch am Leben. Und sie waren nicht bereit, das ihnen angetane Unrecht auf sich beruhen zu lassen.

Im August 1946 berichtete das Amt für Vermögenskontrolle, dass die Wolf-Brüder Rückerstattungsansprüche angemeldet hatten. Umgehend wurden nun die Geschäftskonten Heinleins gesperrt und ein Treuhänder eingesetzt. Heinlein legte gegen den Rückerstattungsantrag der Wolfs Widerspruch ein und hoffte, auf dem Vergleichsweg zu einer Einigung zu kommen. Die Zeit arbeitete für ihn. Die Verhandlungen mit den Wolf-Brüdern gestalteten sich schwierig.

Die Wolfs hielten sich zunächst bedeckt. »Wir sind nach sorgfältiger Überlegung zu dem Entschluss gekommen, die hundertprozentige Rückgabe des Betriebs und der Privathäuser zu verlangen. Nur auf diese Weise scheint es uns möglich, zu einem Ergebnis zu kommen, das unseren Interessen gerecht wird«, schrieben sie 1950 an ihren Anwalt. Und: Es sollte etwas zügiger vorangehen: »Uns ist an einer energischen, schnellen Abwicklung gelegen.« Aber daraus wurde nichts. Die Dinge zogen sich über Jahrzehnte hin und brachten Unannehmlichkeiten, Ärger und Anwaltskosten mit sich.

Auf Druck des Amtes für Vermögenskontrolle schloss Heinlein mit den Wolf-Brüdern einen Vergleich: Die Seifenfabrik wurde als Kommanditgesellschaft weitergeführt mit Fritz und Hugo Wolf als Kommanditisten mit jeweils 25 Prozent und Eugen Heinlein als Komplementär mit 50 Prozent. Heinlein verpflichtete sich zu regelmäßigen Restitutionszahlungen an die Wolfs. Aber damit waren die Auseinandersetzungen um die »arisierte« Fabrik keineswegs beendet. Heinlein kam seinen Verpflichtungen nicht oder nur zögerlich nach. Für die Wolf-Brüder war es schwierig, ihn zu kontrollieren, zumal er weitere Firmen gründete und finanzielle Transaktionen zu befürchten waren. 1954 wurde die Kommanditgesellschaft aufgelöst und ein neuer Vergleich geschlossen. Resigniert heißt es dazu in der Korrespondenz der Wolfs: »(…) der Kompromiss (war) der bessere Ausweg aus der Situation, in die wir von Heinlein mangels aktiver Gegenmaßnahmen unseres Anwalts hineinmanövriert (worden) waren«.

Die letzte Zahlung des »Ariseurs« Heinlein an die Familie Wolf erfolgte 1968. So lange zogen sich die Folgen der faschistischen Entjudungspolitik hin. Die »Schlüchterner Seifenfabrik E. Heinlein« bestand noch bis 1987. Das Gelände wurde 1989 von der Stadt Schlüchtern erworben. Einige Jahre später bebaute man es neu. Inzwischen befinden sich auf dem Gelände das Hotel »Stadt Schlüchtern« und ein Altenheim. An die bewegte Vergangenheit der Fabrik, die fast neunzig Jahre an der Breitenbacher Straße stand, erinnert heute nichts mehr.

Anmerkungen:

1 Im folgenden geht es um die »Dampfseifenfabrik Schlüchtern«. Die auch im Familienbesitz befindliche »Dreiturm-Seifenfabrik« wurde bereits 1934 enteignet. Vgl. junge Welt, 7.5.2022

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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