
ML 85 Weltkrise
Dass die Menschheit in einer Krise ist oder sogar auf den Untergang zusteuert, wird seit langem verkündet. Auch ich habe die Kategorie „Krise“ im Blog und spreche immer wieder von „Weltkrise“. Dass ein Begriff häufig verwendet wird, heißt aber nicht, dass er ausreichend definiert ist.
Wenn ich das Wort benutzte, habe ich anfangs vor allem die geistig-konzeptionelle Leere nach dem schmachvollen Untergang des sowjetischen Realsozialismus gemeint. Wir Realsozialisten „wussten“, wie sich die Menschheit entwickelt. Die Zukunft war uns gewiss, Hoffnung war uns sicher. Die gelenkte Tatkraft der Massen von Menschen hatte ja wirklich enorme Leistungen vollbracht. (Unbestreitbar war auch viel Schönes dabei.)
Nach langwieriger Stagnation war der Zusammenbruch zwar folgerichtig, trotzdem war er schicksalhaft erschütternd. Und er war (und ist) unbegreiflich in dem Sinne, dass ein Ausweg, wenigstens ein schmaler neuer Pfad, sich nicht abzeichnete. Es war nichts Geringeres als der „vorläufige Endsieg des Kapitalismus“; „vorläufig“ klein und „Endsieg“ groß geschrieben.
Seitdem sind dreieinhalb Jahrzehnte vergangen. Das private Eigentum an allen Mitteln der materiellen Produktion und allen Komponenten der gesellschaftlichen Reproduktion ist übermächtige Realität. Gegenüber dem so modernen Imperialismus vor hundert Jahren, der nach jahrelanger Vorbereitung zwei Weltkriege entfesseln konnte, ist die Macht des oligarchischen Kapitalismus der Gegenwart um den Faktor 1.000 bis 10.000 vervielfacht!
In den Coronajahren konnte die Steuerungsmacht dieses Systems die gesamte Menschheit willkürlich in einen zweijährigen Ausnahmezustand versetzen. Ein Akteur des Vordergrunds, wie Trump, verfügt heute über die Macht, das gesamte Vermögen der Menschheit nach Belieben um 10% ab- und einen Tag später wieder 10% aufzuwerten. (Die Macht, in zahllosen Kriegen täglich tausende Menschen zu töten, ist ohnehin zum zivilisatorischen Normalzustand geworden.)
Der gegenwärtige Zustand der Welt/der Menschheit ist Ergebnis dessen, dass das GESAMTE produktive Vermögen der Menschheit – sowohl in seinen ideellen als auch in seinen materialisierten Formen – privat angeeignet wird und sich in der Verfügungsgewalt von wenigen tausend Menschen befindet.
Das Privatinteresse dieser Mächtigen treibt ohne Pause und sich beschleunigend die Steigerung der menschlichen Produktivkräfte voran. Ihre modernste Wissenschaft verspricht, schon bald über alle denkbaren Grenzen hinauszuschreiten und eine Quasi-Allmacht dieser Wenigen zu etablieren.
Beiläufig: Man kann diesen Prozess als besinnungslose Naturgewalt deuten. Manche sagen: „Dieser Planet hat Krebs“. Ich halte es aber für sinnvoll, zu prüfen sine ira et studio, ob mit dem jüdischen Gottglauben ein ideologischer Entwurf vorliegt, der dem Herrschaftsinteresse der künftigen „Quasi-Allmächtigen“ brauchbar erscheinen könnte – und nicht nur ein theologisches Gedankenspiel, sondern auch eine gelebte und wiederbelebte Tradition von Millionen Aktivisten, unterfüttert von erheblicher ökonomischer und politischer Macht.
Täglich sind Meldungen über „wissenschaftliche Fortschritte“ zu finden, die in bisher undenkbarer Weise in das menschliche Leben eingreifen können. Zwei zufällig gewählte Beispiele aus den letzten Tagen:
– in Großbritannien entwickelt man ein Tool zur „Mordvorhersage“.
– Youtube stellt uns ein launiges Lehrvideo zur Verfügung, wie man sich gegen angreifende Roboterhunde wehrt.
Viele Kritiker weisen auf diese Tendenzen hin. Sie sind fasziniert von den wissenschaftlich-technologischen Möglichkeiten, sprechen vom großen „Neustart der Technokratie“ oder von der „Automatisierten Herrschaft“.
Diese Kritik leistet einen bedeutenden Beitrag, um aufzudecken, in wessen Interesse und mit welcher Strategie Wissenschaft und Technik entwickelt und als Profit- und Machtmittel eingesetzt wird. Das Privatsubjekt (ob als Person oder als Gruppe), dass heute, wie eh und je und auch in Zukunft über die Produktion entscheidet, wird benannt und angeprangert als die Normalität, die heute kaum in Frage gestellt wird. Eine solche Kritik steht objektiv (aber oftmals nicht explizit) im Zusammenhang mit dem Arbeiterbewegungs-Sozialismus des 20. Jahrhunderts, der verdienstvoll und klar das antikapitalistische Subjekt propagiert hat. Es geht heute darum, den historischen Arbeiterbewegungs-Sozialismus aufzugreifen aber über seine Grenze hinauszugehen!
Wenn das Kapital sich heute mit der angewandten Wissenschaft das gesamte geistig-produktive Vermögen der Menschheit aneignet, so folgt daraus, dass der Antipode und progressive Überwinder dieses Systems nicht mehr eine bestimmte Klasse sein kann – nicht mehr das Proletariat, das eine historische Mission zu erfüllen hat. In diesem Sinne interpretiert Irrlitz den Marx der „Grundrisse“: „Das Prinzip tendenzieller ideeller Allheit der Produktivkräfte hebe die beschränkte materiale Direktheit des Kontrakts zwischen vereinzelten (in Aktiengesellschaften sich verbindenden) Eigentümern der Produktionsmittel und Eigentümern lebendiger Arbeitskraft auf.“ (Gerd Irrlitz, S. 40).
Heute ist der antagonistische Widerpart der Kapitalisten-Oligarchen, der die sozialistische Gesellschaft der Zukunft gestalten kann, die aktiv-reproduktive GESELLSCHAFT IN IHRER TOTALITÄT. Damit wird die in keiner Hinsicht eingeschränkte SOUVERÄNITÄT DES VOLKES zum Hauptkettenglied, um zu einer humanen Lösung der Lebenskrise der Menschheit zu kommen.
Von einer massenhaften Verbreitung dieser Einsicht kann noch keine Rede sein. Noch weniger von konkreten, differenzierten Detailkenntnissen, sicheren Werturteilen und praktikablen Handlungsoptionen, um auf diesem Weg voranzukommen.
Vom Beginn der Aufklärungsarbeit der französischen Enzyklopädisten bis zur Großen Französischen Revolution vergingen fast 50 Jahre. Vom Kommunistischen Manifest bis zur Sozialistischen Oktoberrevolution vergingen 70 Jahre. Wieviel Zeit wird es brauchen von der Formulierung eines soliden Konzepts zur Lösung der Weltkrise bis – vielleicht nicht zu einer Großen Revolution – aber bis zu einem qualitativen, umwälzenden, praktischen Fortschritt?
Mehr „ML 85“ hier.
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Hier hatten Marx/Engels vollauf recht: Ansteigende Produktivität und Renditewirtschaft vertragen sich nicht auf die Dauer. Am Ende erzwingt die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise einen Übergang zu Plan- und Zwangswirtschaft. Wird diese von guten Menschen kommandiert, also von Linken, nennt man es Sozialismus; haben schlechte Menschen das Sagen, also Rechte, handelt es sich um Faschismus.
Mit der Marx/Engelschen politischen Ökonomie gesehen, jedenfalls mit der realen, ist real existierender Sozialismus in Wahrheit bloß Fortsetzung von Kapitalismus mit anderen Mitteln. Denn ist ganz wie im Kapitalismus, alles da im real existierenden Sozialismus: Staat, Mehrwert und dessen Aneignung durch einen privilegierten Personenkreis. Und gewählt werden darf auch.
Marx/Engels gemäß sollte der sozialistische Staat bzw. die Diktatur des Proletariats aber sehr bald nach der Revolution absterben, von selbst. (Wie auch sonst, der liebe Gott kümmert sich nicht um sowas!)
Phantastisch! Gib Menschen Macht und Privilegien und erwarte, daß sie „absterben“ bzw. auf Macht und Privilegien verzichten. Aber nicht verboten. Wer dies gern möchte, darf an das Gute glauben und alles, was ihm sonst noch so einfällt. (Sogar an von Gott errettete Erlöser. Ja, der Trump, der entging ganz knapp einem Attentat, war göttliche Vorsehung!)
Oder man redet sich die real existierende Verfügungsgewalt der sozialistischen Elite einfach weg mit dem Argument, weil es sich jetzt um „Volkseigentum“ handele, würde es keine privilegierte Elite mehr geben. Glaube hat immer schon geholfen, besonders besonders starker.
Jetzt bekommen wir gerade ja Faschismus, aber global und digital. Anstatt eines Politbüros gibt es Zentralbanker. Und die Planungsbürokratie soll nun eine Maschine machen, eine KI. Manche sagen Neue Weltordnung dazu, andere Stakeholder-Kapitalismus. Also alles wie immer, kann man so nennen oder so nennen, alles Geschmacks- und Glaubensfrage.
Ganz simpel spirituell gesagt: Fühlt Mensch sich als Maschine – als Richtigmachmaschine: hier ich, da die anderen, und ich muß sehen, daß ich alles richtig mache – dann wird er eben zu einer Maschine. Und hat er alles richtig gemacht, kommt er vielleicht in den Himmel. Glaube ist nicht alles, aber er hilft manchmal.