Positionen und Aktionen zu Palästina/Israel jenseits deutscher Befindlichkeiten /Bedingungslos für Israel? – eine Buchvorstellung aus dem SCHATTENBLICK

Der Überfall der israelischen Armee auf den dicht besiedelten, abgeschnürten Gaza-Streifen im Winter 2008/09 hat weltweit schockiert. Die jahrelange völkerrechtswidrige Abriegelung des Gazastreifens hält auch nach dem Waffenstillstand an. Bundesregierung, EU und USA unterstützten das israelische Vorgehen – politisch, diplomatisch, durch Wirtschafts- und Rüstungshilfe. Doch angesichts erdrückender Beweise, Bilder und Berichte über Täter und Opfer ist ein Großteil der internationalen Öffentlichkeit nicht mehr bereit, die gewohnheitsmäßige und durch nichts zu rechtfertigende Nichtachtung internationalen Rechts durch Israel hinzunehmen. Die Bewegungen für die Rechte der Palästinenser – insbesondere die Kampagne für einen Boykott, Desinvestition und Sanktionen – erleben weltweit einen neuen Aufschwung.Auch in der deutschen Linken und der Friedensbewegung sind sich viele der unerträglichen Situation im Nahen Osten, der schweren Menschen- und Völkerrechtsverletzungen durch Israel in den besetzten Gebieten, aber auch der zunehmenden Rechtsentwicklung der israelischen Gesellschaft bewusst. Dennoch sind politische Rat- und Hilflosigkeit weit verbreitet – wie es sich einmal mehr im „Fall Dierkes“ zeigte, dem Versuch eines politischen Rufmords im Dienste der begriffslosen „Solidarität mit Israel“.

Als Hermann Dierkes wegen seines Hinweises auf die Abschlussversammlung der sozialen Bewegungen beim Weltsozialforum 2009 in Belém (Brasilien) und auf deren Beschlüsse zum Nahostkonflikt hinwies und ihm deshalb von den Zeitungen des WAZ-Konzerns und vielen weiteren Mainstreammedien Antisemitismus vorgeworfen wurde, distanzierten sich auch VertreterInnen seiner Partei und andere von ihm. In diesen absurden Reaktionen zeigte sich, dass Informationen über die Situation in und die Debatten über Palästina/Israel, über die internationale BDS-Kampagne und allgemein die Bewegungen für die Rechte der Palästinenser fehlen. Auch darüber, was Antisemitismus mit Kritik an der israelischen Politik zu tun haben mag und was nicht, wie Juden darüber denken, dass Israel sich als der Staat aller Juden bezeichnet und von ihnen bedingungslose Loyalität fordert, über palästinensische Widerstandsstrategien und vieles andere mehr scheint Verwirrung, Informations- und Argumentationsnotstand zu herrschen. Die Debatten, die in diesem Zusammenhang international geführt werden, sind in Deutschland noch kaum angekommen. Diese Diskrepanz zeigte sich auch, als sich andererseits mehrere hundert jüdische FriedensaktivistInnen aus der ganzen Welt umgehend mit Hermann Dierkes solidarisierten und den gegen ihn erhobenen Antisemitismus-Vorwurf zurückwiesen.

Daraufhin entstand: „Bedingungslos für Israel – nur bedingt für Menschen- und Völkerrecht? – Beiträge zu Palästina/Israel jenseits deutscher Befindlichkeiten“, herausgegeben im Neuen ISP-Verlag von Sophia Deeg und Hermann Dierkes. Einerseits wird die Kampagne gegen Dierkes dokumentiert, andererseits werden Argumente, Hintergründe, Stellungnahmen und Gespräche vorgelegt, die Fenster zu den internationalen Entwicklungen und Debatten um den israelisch-palästinensischen Konflikt öffnen.

PalästinenserInnen kommen zu Wort, die ihre Rechte verteidigen und ihren Widerstand in Dorfkomitees basisdemokratisch organisieren. Der israelische Historiker Ilan Pappe schildert in einem Gespräch sein Engagement für eine Darstellung der Geschichte, in der die Palästinenser ihren legitimen Platz einnehmen. Beides sind „Maßnahmen für die Wahrheit“, die Verbreitung einer anderen Sichtweise als die vorherrschende israelische, die in Deutschland selbst Linke unkritisch übernehmen. Der Fall des Journalisten und Buchautoren Ludwig Watzal wird dargestellt, der als unbequemer Kritiker der israelischen Politik gemobbt wurde und verstummt ist. Ebenfalls in dem Kapitel „Maßnahmen für die Wahrheit, Maßnahmen gegen die Wahrheit“ ist die Stellungnahme der „Jewish Voice for Peace“ (USA) zur Verteidigung des israelischen Politikwissenschaftlers Neve Gordon abgedruckt. Er spricht sich als Israeli für den Boykott seines Landes aus, weil er diese zivilgesellschaftliche Form, Druck auszuüben, für die einzige Möglichkeit hält, sein Land vom selbstzerstörerischen Militarismus und zur Respektierung internationalen Rechts zu bewegen. In diesem Sinne äußert sich auch der israelische Aktivist Michael Warschawski, der andererseits führende israelische Intellektuelle als „Schreibtischtäter“ bezeichnet, die ideologische Deckung für israelische Kriegsverbrechen liefern. Dokumentiert ist auch der Aufruf von Berliner Jugendlichen, die während der Angriffe auf Gaza eine internationalistische Demonstration auf die Beine stellten – ihre „Maßnahme für die Wahrheit“.

Einige Beiträge setzen sich kritisch mit gewissen Standardbegriffen und -formulierungen auseinander, die häufig die Rolle von Argumentationssperren spielen und so auch gegen Hermann Dierkes eingesetzt wurden. Der britische Philosoph Brian Klug geht der Frage nach, was es bedeutet, das Existenzrecht Israels zu fordern. Der Physiker Hajo Meyer, der den Holocaust überlebte, setzt sich unter anderem mit der Unterscheidung von Antizionismus und Antisemitismus und mit der Inkonsequenz der EU-Politik gegenüber Israel auseinander. Assaf Adiv, israelischer Journalist/Aktivist, skizziert mit seinem Beitrag über das neo-liberale, post-zionistische Israel eine zerrissene, entsolidarisierte Gesellschaft und wirft damit implizit die Frage auf, mit welchem Israel man sich eigentlich solidarisiert, wenn diese Solidarität beschworen wird. Der israelische Anthropologe und Aktivist Jeff Halper fragt sich, mit welchen Begriffen das sich rasch wandelnde israelische Regime über die PalästinenserInnnen zutreffend beschrieben werden kann und kommt zu dem Schluss, dass der Begriff „Besatzung“ bereits überholt ist und es sich vielmehr um eine Art „Entsorgung“ der PalästinenserInnen und die Entpolitisierung ihres politischen Anliegens geht – ein Modell, dass auch anderswo Anwendung findet, um Konflikte im Sinne der Herrschenden zu befrieden.

Die Frage, welche Konsequenzen aus „der“ Geschichte zu ziehen sind, spielt in den Debatten um Israel/Palästina eine zentrale Rolle. Ihr widmet sich der Beitrag des in Frankreich lehrenden italienischen Politologen Enzo Traverso, der den neuen Antisemitismus in Europa untersucht und die Missverständnisse, die sich aus unterschiedlichen kollektiven Erinnerungen ergeben. Der Journalist Otfried Nassauer zeichnet die besonderen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel auf der Ebene der Rüstungskooperation nach, die als legitime Schlussfolgerung aus der deutschen Geschichte gerechtfertigt werden.

Hermann Dierkes hatte seine inkriminierte Äußerung auf Grund seiner Wahrnehmung der Ereignisse in Gaza getan. Daher werden in einem Kapitel Berichte und Analysen zusammengetragen, die versuchen, trotz der weitgehenden Abschottung des Gaza-Streifens vor, während und nach der Operation „Gegossenes Blei“, das, was dort geschah, offenzulegen, zu begreifen und auch vor dem Hintergrund des internationalen Rechts zu beleuchten. Dies geschieht in einem Beitrag der Völkerrechtler Norman Paech und Kerstin Seifer, sowie auch in einem Essay der israelischen Architekturtheoretikers Eyal Weizman über den „Rechtskrieg“, der in Gaza geführt wurde.

Schließlich geht ein Kapitel auf das ein, was Hermann Dierkes den Vorwurf des Antisemitismus einbrachte: der Hinweis auf den Beschluss der traditionellen Abschlussversammlung der Sozialbewegungen auf dem diesjährigen Weltsozialforum in Belem, sich dem Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft von 2005 anzuschließen: Israel soll zur Einhaltung des internationalen Rechts gebracht werden, indem sich Bürgerinnen und Bürger weltweit weigern, die israelische Besatzung zu unterstützen. Die Kampagne „von unten“ betrifft israelische und multinationale Unternehmen und Institutionen, die von der Besatzung profitierten, aber auch Künstler, Sportler und andere Persönlichkeiten, die für Israel auftreten. BDS ist am Modell der südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampagne orientiert und, wie diese nicht gegen Weiße gerichtet war, sondern gegen das Apartheidsystem, so richtet sich BDS nicht gegen jüdische Israelis, sondern gegen das israelische Apartheidsystem bzw. die Besatzung, die Entrechtung und Vertreibung der Palästinenser. BDS ist eine internationale zivilgesellschaftliche Bewegung, die entstand, nachdem sich eine übermächtige Seite – mit bedingungsloser internationaler Regierungs-Solidarität – Jahrzehnte lang weigert, die Rechte der von ihr unterdrückten Bevölkerung anzuerkennen. Der Kampagne haben sich inzwischen Gewerkschaften in Großbritannien, Griechenland, Italien und Norwegen angeschlossen, israelische Akademiker wie Ilan Pappe und Neve Gordon, Künstler wie die Regisseure Ken Loach oder Udi Aloni, die Philosophin Judith Butler und die Autorin und Aktivistin Naomi Klein. In Italien, den USA, Frankreich und anderswo organisieren Bezugsgruppen regelmäßig BDS-Aktionen. Darum und um die internationalen Bewegungen für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser geht es in den abschließenden Beiträgen „jenseits deutscher Befindlichkeiten“.
Bedingungslos für Israel?
Positionen und Aktionen zu Palästina/Israel jenseits deutscher Befindlichkeiten
Hrsg. Sophia Deeg und Hermann Dierkes im Neuen ISP Verlag
Das Buch erscheint im Januar 2010.

*

Quelle:
Neuer ISP-Verlag GmbH Köln/Karlsruhe
Belfortstraße 7, 76133 Karlsruhe
Telefon: 0721/311 83, Fax: 0721/312 50
E-Mail: neuer.isp.verlag@t-online.de
Internet: www.neuerispverlag.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2010

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert