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Wegfeiern in Gelnhausen
Gelnhausen – die im Reich erste schon vor der Pogromnacht judenfreie Stadt, Babarossastadt mit Kaiserpfalz und Kaiser-Wilhelm-Treppe, für die 1905 in die Altstadt eine Schneise geschlagen wurde, damit der Kaiser bei seinem Besuch vom extra errichteten neoromanischen Bahnhof aus die Marienkirche besser erreichen konnte. Der größte Hexenverbrenner der Region hat die Kanzel gestiftet, sein Grabdenkmal hat die Christengemeinde vom Chorraum aus fest im Blick, Rüstungsbetriebe – Gummiindustrie – mit KZ-Anlagen-ähnlichen Produktionshallen und späterer Bestversorgung mit Zwangsarbeitern, Garnisonsstadt mit denkmalgeschützten Kasernen, Baujahr 1937, Militärflugplatz, in dessen Gebäuden heute eine Hartz-IV-Behörde haust – AQA nennt sie sich und beweist, dass Arbeit frei macht, Berge um die Stadt ausgehöhlt mit Bunkeranlagen, nach dem Krieg US-Garnison, Panzerplatz – SPEARHEAD gegen den Osten, postwendend angezündelte Asylbewerberkasernen – Lausbubenstreiche nach Epidemiedrohung durch den Landrat – Bürgerwehrversuche gegen Seucheneinschleppung aus dem Balkan.
„Als Kaiser Rotbart lobesam ins Heilge Land gezogen kam …. da sah man zur Rechten und zur Linken einen halben Türken herniedersinken. “ Na ja , alles OK! Gelnhausen hat sogar ne Moschee, wer sollte denn auch die Arbeit machen, nachdem die Zwangsarbeiter verstorben und der Rest wieder freigelassen war, nachdem die schlesischen und sudetendeutschen Flüchtlinge sich trotz allem in der Gewerkschaft organisiert hatten und Tariflöhne wollten, da musste man ja Italiener – die haben jetzt fast alle ein Geschäft oder eine Kneipe, richtige Unternehmer, oder die Griechen – zu denen gehen wir auch ganz gerne essen, und dann halt die Türken — aber seit die fast in der EU sind und immer mehr Dönerias und Lebensmittelläden haben, bleiben noch die Russen und die Polen und die Rumänen, beim StraßenBau (keine Autobahnbaustelle ohne Russen), beim Erdbeernpflücken, Spargelstechen — aber die bleiben ja nicht, so wie früher als Saison- und Fremd- und Zwangsarbeiter – ach was – ich war früher auch gezwungen zu arbeiten, und ein bisschen Zwang hat noch niemand geschadet. Baracken? Container? Daheim wohnen die doch viel schlechter! Klar, die, die deutsches Blut drin haben .. is doch klar, die können bleiben, oder halt Juden, wenn sie nicht direkt nach Israel…
Ach so, apropos Juden, da fällt mir ein, was ich eigentlich erzählen wollte:
Bei der diesjährigen ökumenischen „Friedensdekade“, veranstaltet von der evangelischen Kirche Gelnhausen, auch der katholischen, von amnesty und Dritte Weltladen, sollte der Judenverfolgung gedacht werden – mit einer Veranstaltung, bei der die Gelnhäuser Archäologin Christine Raedler über das Schiksal dreier jüdischer Familien berichten sollte: Es gab beim Thema Judenverfolgung keine Auflagen. Nur sagte und fragte niemand, wer die Judenverfolger namentlich waren, wer von der Arisierung direkt profitiert hat, wer die beschlagnahmten Bankguthaben und Barschaften erhielt und heute noch aus diesen Werten Zinsen schöpft, wer die Grundstücke sich aneignete – ohne Bezahlung oder zum eher symbolischen Preis.
Das Thema Zwangsarbeit, Vernichtung durch Arbeit in den Gelnhäuser Betrieben und Verwaltungen, in den Kirchengemeinden, bei den Großbauern durfte im Rahmen dieser Veranstaltung überhaupt nicht angesprochen werden. Möglicherweise hat sich hier ein erfahrener Gefolgschaftsführer im Kirchenvorstand durchgesetzt. Und die Kirchenleitung beugte ihr Haupt.
Auf die Aufforderung der Referentin an das Publikum in der ehemaligen Gelnhäuser Synagoge, zum Referat Fragen zu stellen, schwieg die versammelte Gemeinde. Verständlich? Mit im Saal saßen Vertreter der Hauptprofiteure der Zwangsarbeit, im Kirchenvorstand sitzt die Spitze des Rüstungs- und Automobilzulieferers Veritas, die schon einmal gegen die Veröffentlichung von Dokumenten vorgegangen war, die belegen, dass die Firma Veritas nicht nur Zwangsarbeiter bis aufs Blut ausbeutete, sondern auch die NS-Behörden aufforderte, an schwangeren Zwangsarbeiterinnen Zwangsabtreibungen vorzunehmen. Bei der kriegswichtigen Produktion durfte niemand ausfallen!
Dass der Arisierungsgewinnler und „Erbe“ des damals schon Opel-Autohauses Blumenbach mittlerweile seinen Krempel an ein großes Unternehmen abgestoßen hat, dass Betten-Schmitt 1998 sein 60. Firmenjubiläum noch in dem ehemals jüdischen Laden feiern konnte, dass die Villa des Rechtsanwalts Sondheimer von der KdF-Organisation zunächst in den Besitz der Landwirtschaftskammer und dann in Kreisbesitz überging, der Kreis also auf arisiertem Gelände und in arisierten Räumen sitzt…
…dass sich halb Gelnhausen an geplündertem Eigentum und bei „Versteigerungen“ an „jüdischen “ Schnäppchen bereicherte –
das alles wurde bei dieser Veranstaltung nicht erwähnt.
Dabei sitzen musste das Ehepaar Stern.
Das Paar durfte seine Verfolgung als Schicksal wiedererleben, für das es offenbar außer den bekannten Oberverbrechern aus Berlin hier am Ort keine Verantwortlichen gab. Ihr Grundstück direkt an der Kaiserpfalz kam – man weiß nicht wie – in den Besitz der Stadt und dient dem Bauhof als Lagerplatz.
Jetzt wird das Thema Zwangsarbeit einen Tag später ohne die offiziellen Gelnhäuser Kirchengemeinden und außerhalb der „Friedensdekade“ und ohne das evangelische Oberhaupt in einem kleineren Raum mit weniger Presse behandelt werden: Die örtliche Pax-Christi-Gruppe hat diese Exil-Veranstaltung ermöglicht. Aus dem Hause Krebaum-Poppe, der obersten Etage der Veritas, kam der Vorschlag, statt über die Zwangsarbeit und ihre Profiteure zu berichten, könne man sich doch darauf verständigen, dass die Firma VERITAS Geld spendet, um einen Künstler zu bezahlen, der für jeden in der Veritas verstorbenen Zwangsarbeiter einen Gedenkpflasterstein gestaltet… aber eben nur wenn…
Die Wege in die nächsten Kriege und Genozide sind mit Gedenksteinen und Gedenktagen gepflastert. Jährlich mahnen die Kriegstoten am Totensonntag. Und am Montag produziert die Veritas wieder für die Rüstung.
Von den skandalösen Vorgeschichten dieser „Friedensdekade“ in der Barbarossastadt Gelnhausen hat in der Presse niemand etwas geschrieben. Nun ja, der Bürgermeister erzählt heute noch zu vorgerückter Stunde in Gelnhausens Kneipen von der schönen Zeit, als er hier in der Wikingjugend führend tätig war.
Die evangelische Kirche braucht Geld für die Renovierung der Marienkirche, der Adventskalender muss gesponsort werden, und der kommende Landeskirchentag braucht bei sinkenden Kirchensteuereinnahmen eben auch viele Spenden. Und das Rote Kreuz und die Feuerwehr und der Sportverein und das Behindertenwerk und der Kultursommer und die Stadtbibliothek? Große Unternehmen sind weitgehend von Steuern befreit. Die Öffentliche Hand ist pleite. Da braucht man Unternehmer als Mäzene – so sind halt die Sachzwänge.
Die Schlote von Veritas und Gummi-Joh und Co rauchen schon lange nicht mehr. Aber ihr Qualm, ihr Dunst liegt immer noch über der Stadt.
Manchmal ist der Smog hier im Kinzigtal so dicht, dass man nichts mehr sehen und hören kann. Nur das Kreischen der Krähen aus ihren Schlafbäumen, den Pappeln und Eschen, die der Volkssturm an der Meerholzer Landwehr vor die schnellausgehobenen Panzersperrgräben gepflanzt hat. Als der Russe nicht von Norden kam sondern der Ami von Süden.
Erschienen in der Neuen Hanauer Zeitung, kurz vor Weihnachen 2005
T:I:S, 23. Dezember 2005