F.A.Z., 18.05.2011, Nr. 115 / Seite N4
War die Reichstagswahl vom 5. März 1933 noch frei?
Obwohl die Forschung nicht viel weiter ist als 1960, wandelt sich das Urteil: Der allmähliche Übergang von der Republik in die Diktatur beginnt dem Geschichtsbewusstsein zu entgleiten.
Im Untergeschoss des Reichstagsgebäudes befindet sich ein Kunstwerk von Christian Boltanski. Für jeden zwischen 1919 und August 1999 frei und demokratisch gewählten Abgeordneten des Reichstags und des Deutschen Bundestages steht stellvertretend eine Metallkiste, auf der sein Name mit Fraktionszugehörigkeit und Zeitraum seiner Mitgliedschaft im Reichstag beziehungsweise Bundestag steht. Auch alle Abgeordneten, die mit der Wahl vom 5. März 1933 in den Reichstag kamen, sind aufgeführt. Für die Zeit nach dem 5. März 1933 und bis zum 7. September 1949, als das deutsche Volk durch kein demokratisch legitimiertes Parlament vertreten war, steht symbolisch die „Blackbox“, eine schwarz angemalte Kiste.
Boltanski ging 1999 also davon aus, die Märzwahl 1933, die letzte Reichstagswahl, an der mehr als eine Partei teilnahm, die letzte freie Wahl in der Weimarer Republik gewesen sei. Das entsprach den Ergebnissen von Erich Matthias, Rudolf Morsey und anderen, die 1960 unter dem Titel „Das Ende der Parteien“ als Buch veröffentlicht worden waren und seitdem nicht durch ähnlich intensive Forschung zur Märzwahl überholt worden sind. Ausgerechnet der Hausherr im Reichstagsgebäude hat unlängst eine Revision dieses Urteils vorgenommen. Bundestagspräsident Norbert Lammert stellte am 2. Dezember 2010 im Bundestag fest, dass der Reichstag zum letzten Mal im Jahre 1932 frei gewählt worden sei. Womit die Wahl vom 6. November 1932 und nicht die vom 31. Juli 1932 gemeint war. Auch Alfred Grosser äußerte in einem engagierten Leserbrief an diese Zeitung (F.A.Z. vom 28. Dezember 2010) beiläufig die Ansicht, dass die Märzwahl 1933 keine freie Wahl mehr gewesen sei.
Beschränkungen im Wahlkampf
Die Märzwahl 1933 gehört strukturell in den Kontext des Untergangs der Weimarer Republik, steht aber chronologisch in jener Entwicklung, die von den Nationalsozialisten selbst als „Machtergreifung“ oder „Nationale Revolution“ deklariert wurde. Eckdaten waren die Regierungsbildung am 30. Januar 1933, der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 und die Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933. So betrachtet erscheint die Märzwahl 1933 nur als eine Etappe auf dem Weg in die NS-Diktatur.
Da der Reichstag nicht in der Lage war, eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden, löste Reichspräsident Paul von Hindenburg auf Drängen von Reichskanzler Adolf Hitler den Reichstag am 1. Februar 1933 auf und setzte für den 5. März 1933 Neuwahlen fest. Der NS-Terror begann spätestens, als Hindenburg – wiederum auf Veranlassung Hitlers – mit der Verordnung „zum Schutz des deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933 das Streikrecht, die staatsbürgerlichen Freiheitsrechte sowie die Versammlungs- und Pressefreiheit massiv einschränkte. Darüber hinaus konnte mit der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933 die Polizei die Verhaftungsdauer unbegrenzt ausdehnen.
Für den Wahlkampf blieben die Verordnungen nicht folgenlos. Sogar die Immunität der Parlamentarier war kein Schutz mehr. Die preußische Polizei, die inzwischen Hermann Göring, dem Reichskommissar für das preußische Innenministerium unterstand, war zunächst insbesondere gegen Kommunisten vorgegangen. Das „Berliner Tageblatt“ schrieb mit Blick auf die Wähler der Kommunisten und Sozialdemokraten noch am 4. März 1933: „Diese Millionen deutsche Wähler, die gewaltigen Teile der Nation, sind im jetzigen Wahlkampf, im größten Teil des Reichs, ohne Sprache, sind zum Schweigen verurteilt. Ihre Stimme fehlt in dem Chor der Parteien, die zur Wahl aufrufen. Ihre Plakate sind überklebt, ihre Zeitungen dürfen nicht erscheinen, ihre Versammlungen, ihre Umzüge, ihre Propagandamärsche werden aufgelöst oder nicht genehmigt, die meisten ihrer Wahlredner dürfen nicht sprechen, ihre Flugblätter und Propagandaschriften werden zentnerweise beschlagnahmt, die Räume, von denen ihre Wahlpropaganda ausging, sind zum großen Teil versperrt, versiegelt.“
Wie aus den unlängst im Akademie Verlag von Wolfgang Schuller herausgegebenen Tagebüchern Carl Schmitts hervorgeht, trieb den in Planspiele zur Verhinderung Hitlers eingeweihten Staatsrechtler die Vorstellung um, die Reichsregierung besitze im Reichstagswahlkampf entscheidende Vorteile. Was den Wahlakt am 5. März 1933 selbst betrifft, sind Berichte etwa über die Einschüchterung von Wählern in Wahllokalen oder über Wahlfälschungen und -manipulationen allerdings nicht bekannt. Entsprechend war auch der Wahlausgang: Die Partei Hitlers blieb mit 43,9 Prozent weit hinter der erhofften absoluten Mehrheit zurück. Diese erlangte sie nur mit ihren Koalitionspartnern. SPD (18,3 Prozent) und Zentrum (11,2 Prozent) erreichten in etwa ihre gewohnte Mandatszahl, und selbst die so sehr bekämpfte KPD hatte nahezu 5 Millionen Stimmen (12,3 Prozent) erhalten.
Nach der Märzwahl 1933 begann der systematische Aufbau der NS-Diktatur und die Beseitigung der demokratischen Institutionen und Strukturen der Weimarer Republik. Im NS-Jargon erhielt dieser Vorgang den unklaren und sachlich klingenden Begriff „Gleichschaltung“. Laut Ian Kershaw löste die Wahl vom 5. März „die eigentliche ,Machtergreifung‘ aus“. Unmittelbar nach der Reichstagswahl forderte das Reichsinnenministerium die nachgeordneten Behörden auf, sämtliche neugewählten kommunistischen Reichstagsabgeordneten zu verhaften. Darüber hinaus wurden im März und April 1933 alleine in Preußen rund 25 000 Personen verhaftet. Der Einparteienstaat war mit der Auflösung der bestehenden Parteien und dem Verbot der Neugründung von Parteien vom 14. Juli 1933 vollendet.
Parteienverbot und Wahlfreiheit
In dem Buch „Das Ende der Parteien“ schrieb Alfred Milatz: „Es kann kaum bezweifelt werden, dass die auf den 5. März 1933 festgesetzte Neuwahl noch für den Wähler selbst frei war, der seine Stimme unabhängig abgeben konnte – bis auf diejenigen, die bereits Opfer des nationalsozialistischen Terrors geworden waren, das heißt ihr Votum überhaupt nicht einsetzen konnten.“ Milatz veröffentlichte seine Einschätzung 1960, als die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei (1952) und insbesondere der Kommunistischen Partei Deutschlands (1956) noch lebhaft in Erinnerung waren. Kein streitbarer Demokrat hätte es gewagt, wegen des Parteienverbotes die Wahlfreiheit einer zukünftigen Bundestagswahl in Frage zu stellen. Auch wenn die Ende der fünfziger Jahre betriebenen Forschungen von Matthias, Milatz, Morsey und anderen für das Parteienverbot von 1956 keinen Legitimationscharakter hatten, so waren doch auch diese Wissenschaftler Kinder ihrer Zeit.
Tatsächlich sollte sich die Bewertung der Märzwahlen von 1933 bald ändern. 1965 skizzierte Walther Hofer in einem Handbuchartikel die „bürgerkriegsähnliche Atmosphäre“, in der die Märzwahl stattgefunden hatte und urteilte: „Von wahrhaft freien Wahlen konnte unter solchen Umständen natürlich keine Rede sein.“ Und Albrecht Tyrell sprach in den achtziger und neunziger Jahren wiederholt von der „nur noch halbwegs freien Wahl“. Wohl in Anlehnung an Tyrell bezeichnete Christoph Studt die Märzwahlen 1933 im Jahre 2002 paradox zuspitzend als „halbfreie“ Wahlen.
Die einschlägigen Darstellungen und Handbücher zur Geschichte der Weimarer Republik und des Dritten Reiches stellen die Märzwahl 1933 in den Kontext der „Machtergreifung“. Eine derartige Periodisierung begünstigt allerdings den Eindruck, dass der Untergang der Weimarer Republik nach dem 30. Januar 1933 unvermeidbar war. In diesem Kontext bleibt kaum anderes übrig, als die Märzwahl 1933 schließlich darauf zu reduzieren, eine Etappe auf dem Weg zum Hitler-Deutschland gewesen zu sein.
Das Urteil, ob es 1933 – und das gilt ja auch noch für die kaum untersuchten preußischen Kommunalwahlen vom 12. März – freie oder unfreie Wahlen gegeben hat, stellt sich aber nicht nur je nach der Periodisierung der Geschichte des Nationalsozialismus neu oder anders dar. Auch an die Wahlrechtsgrundsätze der Weimarer Verfassung muss erinnert werden. Der Grundsatz „freie Wahl“ heißt damals wie heute: Es darf auf Wähler von keiner Seite ein irgendwie gearteter Druck ausgeübt werden zu Gunsten oder zu Ungunsten des einen oder des anderen Kandidaten oder zu einer Wahlenthaltung. Demgemäß konzentrieren sich heute die Wahlbeobachtungsmissionen der OSZE oder der Europäischen Union auf die Rahmenbedingungen des Urnenganges. Für die Märzwahl 1933 aber konnten Beeinflussungen am Wahltag nicht nachgewiesen werden. Auch die unerwartet hohe Wahlbeteiligung von 88,8 Prozent spricht für eine freie Wahl im März 1933. Dass die Reichstagswahl vom 5. März 1933 nicht unter rechtsstaatlichen Bedingungen und auch nicht in einem Klima stattfand, in dem Menschenrechte gewahrt wurden, wie es heutzutage die EU fordert (siehe etwa die Kommissionsmitteilung vom 11. April 2000), bleibt allerdings unbezweifelt.
Sollte sich die Bewertung durchsetzen, die letzte freie Wahl habe im November 1932 stattgefunden, muss auch das Kunstwerk von Christian Boltanski im Untergeschoss des Reichstagsgebäude überarbeitet werden. Da reicht es nicht mehr, dass die Kisten mit den Namen der Opfer des nationalsozialistischen Terrors unter den Reichstagsabgeordneten eigens mit einem Aufkleber markiert sind. Noch wird den Besuchern auf die Frage, warum so viele NSDAP-Mitglieder – darunter sogar Rudolf Heß und Adolf Hitler – Berücksichtigung fanden, geantwortet: Diese NSDAP-Abgeordneten waren immerhin demokratisch gewählt worden, auch wenn sie zu den Totengräbern der Weimarer Republik gehörten.
Michael F. Feldkamp
Der Verfasser ist Historiker und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Geheim und effektiv. Über 1000 Jahre Diplomatie der Päpste“.