Sokrates-Projekt

Hartmut Barth-Engelbart, Lehrer an der Gebeschus-Schule Hanau Mitarbeiter im SOKRATES-COMENIUS-Projekt der Europäischen Union

Thesen zur Primarstufe in Holland, England und Deutschland

an Schulen mit multilingualer Population in sozialen Brennpunkten

Vergleich der Ansätze zum Schriftspracherwerb

Vorbemerkung :

Erst nach dem zweiten Hinschauen, längeren Überlegungen und Diskussionen fiel mir auf, daß der Titel unseres Projektes eine sehr fragwürdige grundlegende Wertung enthält:
im Titel wird Schriftspracherwerb ganz selbstverständlich gleichgesetzt mit Schriftspracherwerb bezüglich der englischen, holländischen und deutschen Sprache. Der Schriftspracherwerb in den jeweiligen Muttersprachen ist im Titel nicht gemeint, obwohl es einen solchen auch geben soll. In den vorbereitenden Diskussionen, wie bei den Berichten der englischen, holländischen und deutschen Kolleginnen war bezeichnenderweise von einem solchen Schriftspracherwerb -wenn überhaupt, dann nur beiläufig die Rede. Von daher ist m.E. der gesamte Projektansatz nochmals zu hinterfragen.

Nach den Berichten und Schilderungen der Kolleginnen aus Holland und England bei ihrem Besuch vom 24. bis 28.05.97 in Hanau habe ich den Eindruck, daß in den betreffenden Schulen in Amsterdam und London mit relativ stark technokratisch geprägten Methoden die zweitsprachliche Schreib- und Lesefähigkeit der Kinder organisiert wird.
Von der Organisationsstruktur bis zur Methodik und Didaktik.

Organisationsstruktur:

Die Spezialisierung der einzelnen Lehrkräfte auf einzelne Jahrgangsstufen erscheint mir im Zusammenhang mit dem „Einpassen“ der Kinder in vorgefertigte Lehrgänge mit Tests und Prüfungen zur Kontrolle der Input/Output-Relation höchst problematisch.

Wenn es stimmt, daß die Kids -wie bei uns- mehrheitlich aus Immigrantenfamilien und sehr instabilen Verhältnissen kommen, wäre gerade eine Kontinuität der Bezugspersonen dringend notwendig, um einen neuen Lebensmittelpunkt entstehen lassen zu können. Besonders bei der sehr frühen Einschulung, wie sie in Holland und in England praktiziert wird, scheint mir Nähe und Wärme, Identifikation und Sekundärprägung in der Gruppe und an den langfristig begleitenden Bezugspersonen notwendig. Dies wird durch die Stückelung in Jahreskurse, „Bearbeitungsphasen“, nicht gewährleistet. Der zweitsprachliche Sprach- und Schriftspracherwerb wird sich hier nicht kontinuierlich in einem organisch gewachsenen sozialen (Ersatz-) Schutzraum entwicklt, also in einer „Substitutionsfamilie“ sondern in einem „cleanen“, von den Wegen her verkürzten „Fernlehrgangsinsitut“. Dies muß m.E. zu einer Form von „Fremdsprachenlehrgang“ führen. Die Kids sollten m.E. die Landessprache zumindest als „Zweitmuttersprache“ lernen, was sie in Ansätzen auch ohne die Schule durch ihre Umgebung soundso tun. (den Hanauer Dialekt, den Eastend Dialekt, den entsprechenden Amsterdamer Dialekt).

Laborbehandlung und emotional-soziale Löcher

Mir erscheint die „Bearbeitung“ der Kids als stark entfremdet, es riecht nach Laborbehandlung. Die „Bearbeitungszeiten“ lassen die Entstehung stabiler Beziehungen zwischen Lehrerinnen und Kindern nicht zu, was m.E. zumindest eine wichtige Grundlage für den Sprach- und Schriftspracherwerb ist. Daß durch eine solche Organisation auch die emotional-soziale Entwicklung der Kids beeinträchtigt ist, ist ein weiterer Kritikpunkt. Mag sein, daß durch die längere tägliche Schulzeit eine Entzerrung möglich wird, daß der Streß durch Leistungstests etc. durch längere tägliche Verweilzeit in der Schule verdünnt wird. Möglich wäre auch, daß durch eine in Holland und England den Berichten nach praktizierte Vorverlegung von Schulfähigkeitstraining und eine dementsprechende frühere „Zwangsabnabelung“ von familiären Strukturen, die Entwöhnung oder Kompensation emotionaler Bedürfnisse die Kinder schadlos früher größere Frustrationstoleranzen entwickeln und das „kindgemäße“ deutsche Heiapopeia garnicht brauchen. (Diese „kindgemäße“ Schule existiert in Deutschland auch nur im Ausnahmefall, vielleicht noch in den Schönwettervorstellungen einiger Lehrerinnen nach Entspannungsphasen am Wochenendeeine, ansonsten ist sie Legende.)

Zweitspracherwerb als Fremdsprachenunterricht

Mir scheint der Spracherwerb in diesen Schulen als Fremdspracherwerb angelegt zu sein (wie das in der Regel bei unseren entsprechenden Schule auch der Fall ist). Es handelt sich aber bei über 90% der Schülerpopulation nicht um einen Fremdspracherwerb. Die Kids haben einen für ihren Alltag ausreichenden aktiven Wortschatz, der m.E. nicht durch komplementären Fremdsprachenuntewrricht, sondern durch Arbeit an produktorientiuerten Projekten gemeinsam zu erweitern ist. Zumal die Kids in der Regel über einen leidlich elaborierten Code in ihrer Muttersprache verfügen, der sie existenzielle, authentische Problemstellungen lösen läßt, ansetzend an ihren gewachsenen kognitiven Fähigkeiten. Die Unterdrückung der Muttersprache als originärem Medium zur Bewältigung gestellter Aufgaben führt gerade nicht zur Entwicklung der Fähigkeiten der Kinder, somit auch nicht zu kommunikativen Anlässen zwischen der verschiedensprachigen Kids, die sich ihre Ergebnisse, Erkenntnisse und Fragen gegenseitig mitteilen wollen, wenn sie Teil einer stabilen Gruppe sind, wenn!!. Zur stabilen Gruppe gehört auch die verlässliche Bezugsperson, der ich mich mitteilen will.

Mit dem zentralistischen Bügeleisen gegen die Individualität der Kinder

Ich habe den Verdacht, daß die Organisation und auch die Methodik bis hinein in didaktische Konzepte angelegt sind auf die nahtlose Außenkontrolle, daß sich Erfolge und Fortschritte weniger an gemeinsam geleisteten Ergebnissen und Produkten orientieren, als an zentralistisch gesetzten, irrationalen Leistungsmargen, die sich nicht aus den tatsächlichen Anforderungen lebendigen Unterrichts und Lebens an der Schule und in der Nachbarschaft, aus der realen Lebenssituation oder auch nur selbst aus einer gespielten ergeben.

Hinführung zum Status des Lower-Operator

Weiter drängt sich mir der Verdacht auf, daß die Lehrerinnen (aber auch die Kids) als Operators funktionieren, als Anhängsel einer gigantischen Lehrmaschine, die je nach Stand der jeweiligen national-Curricula mit anderem Werkzeug bestückt werden ohne Rücksicht auf die Individualität der Kids, die besonderen Facetten der jeweiligen Lebenswelt, ohne Rücksicht auf Heterogenität in Leistungsfähigkeit, Begabung, Neigung etc.

Ausgrenzung und Stigmatisierung durch Reparaturunterricht

Gerade die verstärkten Koplementärmaßnahmen verstärken bei mir diesen Verdacht. Wer Kunst als Kompensationsmaßnahme anbietet, meint die Kunst und die entsprechenden Fähigkeiten der Kids nicht wirklich. Und die Kids merken das sehr schnell. Ehrlicherweise haben die holländischen Kolleginnen ja auch berichtet, daß das „Kunst“-Schulprofil geschaffen wurde, um die „weißen“ Schülerinnen wieder zurückzuholen. Hier stellt sich mir die Frage, ob das „Kunst“-Programm genauso durchgetestet wird, ob die Lehrerinnen die Kids über mehrere Jahre begleiten oder auch jährlich wechseln. Kunst-Leistungskurse in der Primarstufe? Selbst in der Sek. II wird in Deutschland in der Regel bei Leistungskursen nicht so gestückelt.
Der Reparaturunterricht bei Leistungsschwächen im Zweitsprachbereich wirkt desintegrierend, wenn der primäre Bereich selbst nicht integrativ angelegt ist. Kompensationsunterricht wirkt m.E. genauso, wenn es sich nicht um freiwillige AG’s handelt. Aber auch hier besteht die Gefahr, daß musisch-kreative Fähigkeiten und deren Förderung an die Peripherie gedrängt werden.
Diese Fächer haben dann letztlich für das Selbstwertgefühl der Kids nur einen begrenzten Stellenwert.

Durch bessere Ausstattung mehr Zeit und Energie für pädagogische Aufgaben

Die besssere Ausstattung der Schulen mit Lehr- und Lernmaterial, mit Räumen und Lehrerinnen kann wahrscheinlich vieles auffangen. Auch die Tatsache, daß in Holland die Kids mit Schulsachen staatlicherseits ausgerüstet werden. Es ist nichts dagegen zu sagen, daß wissenschaftlich ausgereifte Lehrgänge mit großer Materialfülle angeboten werden. Aber dies trifft nicht den Kern. Dies könnte, sollte zu einer Entlastung beitragen sich in den zentraleren Fragen intensiver mit den Kids beschäftigen zu können und nich wegen jeder Kopie Zeit und Energie zu verschwenden. Aber die situationsspezifische Eigenentwicklung von Lehr- und Lernmaterial -mit den Kids zusammen im Unterricht darf dadurch nicht verdrängt werden, weil dies wesentliche Grundlage für selbständige Erarbeitung von Fähigkeiten und größerer Identifikation mit der Schule, den Produkten des eigenen Tuns, der Sinnhaftigkeit des Lernens usw. ist.

Disziplin und Ordnung. von der Fremd- und Außenbestimmung zum Schulkinderfänger

Mir erscheint besonders nach der Schilderung des Arbeitens in den Klassen in Amsterdam und London dort eine nicht aus den Strukturen der Aufgaben, der realen Problemstellungen kommende Disziplin und Ordnung zu herrschen, sondern eine von außen aufgezwungene, die nicht aus der Arbeit die Notwendigkeit von Disziplin und Ordnung für die Kids ersichtlich, erfahrbar, begreifbar macht. Das Problem der Schuleschwänzens ergibt sich aus einer solchen Ordnung, die dann wieder die Schulkinderfänger notwendig macht, die nebenbei gesagt sehr stark nach Blockwart riechen. So kann man sich eine eventuell fällige Hinterfragung des Schulmodels und der je nationalen Organisation von multikulturellem Zusammenleben sparen.
In der Gebeschus-Schule gibt es das Problem des Schuleschwänzens nur marginal. Obwohl hier die Ausstattung mit Räumen, Helfern, Lehrerinnen, Material alles andere als gut ist. (Daß die Schule, Lehrerinnen wie Schulleitung, durch permanente Selbstausbeutung, riesige Kraftanstrengungen, Akquisitioinskampagnen besser ausgestattet ist als andere Schulen in der Umgebung ist noch ein anderes Kapitel). Aber an dieser Schule wollen alle Schüler länger in der Schule bleiben, wenn Projekte laufen, wenn forschendes, entdeckendes Lernen angeboten wird und kein Paukunterricht, mit noch so ausgefeilten Arbeitsblättern etc. Wenn Unterricht angeboten wird, wo Kids aller Entwicklungsstufen entsprechend selbständig einsteigen können, ohne daß sich Langeweile mit Mißerfolgen kombiniert und gegenseitige Konkurrenz zu andauernden Ausgrenzungen führt, die dann im Reparaturunterricht ausgebügelt werden sollen.

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