Wie Armut entsteht
am Beispiel eines Hessischen Dorfes /
Das Thema am 1.12.2011 beim 19. Erzählabend des Historisch-Demokratischen Vereins Mittel-Gründau von 1848 i.d. IAS

Armut in Mittel-Gründau
Es gibt eine ganze Reihe von  Ursachen für die sich (wieder) entwickelnde Armut der Bauern dieses hessischen Dorfes. In Mittel-Gründau gab es im 18 Jahrhundert – wahrscheinlich auch noch bis weit in das 19. Jahrhundert wegen der nicht so weit fortgeschrittenen Arbeitsteilung eigentlich nur Bauern. Hauptberufe außer „Bauer“ gab es nur wenige: Schmied, Wagner, Metzger, Bäcker – aber auch die lebten zumeist hauptsächlich von der Landwirtschaft, weil die meisten Bauern/Bäurinnen auch diese Gewerke leidlich beherrschten und man z.B. zusammen Brot backte, schlachtete, zimmerte usw…
Für die nach 1705 stark zunehmende Einwohnerzahl hätten die Bauernfamilien mehr Acker unter den Pflug nehmen und dafür die Allmende-Weiden und -Wälder ausdehnen müssen. Aber das Gegenteil war der Fall: die Füsten eigneten sich immer mehr Wald und Feld an. Den immer kinderreicheren Bauern-Familien blieb so nichts anderes übrig als die „überzähligen“ Kinder wegzuschicken (wie Hänsel & Gretel!!) zur Arbeitssuche in die Städte, Verdingung in Heimarbeit für die Tabakfabriken (Staublunge), für die aufstrebende Gummiindustrie (Joh, Veritas, usw.. in den Werken oder in Heimarbeit, ((das gibt es heute noch im Vogelsberg, im Spessart, im Odenwald!!))),auf Wanderschaft als Wanderarbeiter , in Holzfäller- und Gleisbau- Brückenbau-Trupps, zusammen mit dem Grubenholz in den Bergbau, in die Salzstöcke, als Kanonenfutter in die (Kolonial-)Kriege (ganze Dörfer verkauften die Fürsten an die britische Krone, wenn sie das Kanonenfutter sicht selbst brauchten))oder sie als Hintersassen in Wüstungen und noch nicht in fürstlichen Besitz genommenen sauren Gründen siedeln zu lassen (Hüttengesäß, Etzengesäß, Weitengesäß. Bösgesäß ….).
Doch vor und parallel zu dieser Kinder-Aussiedlung kam die Erbteilung von Haus, Hof, Wald und Feld und die (Wieder-)Verdingung in Fron- und Hunger-Lohnarbeit beim Fürsten. Wer sich aus der alten Leieigenschaft wie der neueren Fron freikaufen wollte, wer in der Not Kredite aufnehmen musste, „anschreiben“ ließ für Holz und Kartoffeln, Getreide .. fürs fast nackte Überleben oder auch für die Rettung der freien eigenen Landwirtschaft, der musste sich aus den Allmenden zur Sicherheit Stücke sichern.
Das war die Stunde der Katasterämter.  (Denn der Privatbesitz an Grund und Boden ist auch in Deutschland noch nicht sooo alt). Wer keine Sicherheit bot, kein (Grund-)Besitzbürger wurde, hatte weder Kreditwürdigkeit noch später Wahlrecht, war kein Freier sondern Knecht ..usw.  Diese Entwicklung löste für eine kurze Rettung aus der Not den Allmendenverband, die Gemeinde, die Solidargemeinschaft des Dorfes auf. Dann war jeder allein, vereinzelt seines (meist Un-) Glückes Schmied.
Denn mit der Umwandlung des Gemeineigentums in Privatbesitz waren die Gemeindewälder und Felder bald danach nur noch Privatbesitz der Kreditgeber. Die meisten (Klein-) Bauern wurden rückzahlungsunfähig. In der Zwangslage, viele Mäuler aus immer weniger Acker stopfen zu müssen, gaben immer mehr Bauern die Dreifelder-Wirtschaft auf, die nur als Dorfgemeinschaft sinnvoll und viel langsamer zu betreiben war und damit die Böden nicht auslaugte. Jetzt laugten die Bauern ihre Böden schnell aus. Es häuften sich Missernten auf den immer kleiner werdenden Parzellen, die Preise der Lebensmittel stiegen im notwendig gewordenen Zusatz-Einkauf steil an. Die Preise der Kleinbauern, die sie für ihre Produkte bei Ablieferung erzielen konnten, sanken, stagnierten oder stiegen nicht ausreichend. Die fürstlichen/bischöflichen Bannmühlen mit ihren Mahlmonopolen verlangten unbezahlbare Preise, den kommunalen Mühlen wurde das Wasser abgegraben und /oder das Mahlen von der Obrigkeit direkt verboten = Wasserkrieg!“..
Alles Mögliche wurde von der Herrschaft besteuert: Vieh, Hunde, Fenster- und Türen, Stockwerke, Treppen, Grund und Boden, Salzs, Brand(wein) ….. , wahrscheinlich gab es auch eine Ofensteuer..
Selbst mit der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Kreise um Justus von Liebig entwickelte Nothilfe durch Kunstdünger war die Armut nicht zu verhindern. Zum Teil wurde sie noch verschärft, weil die kleineren Bauern sich diesen Dünger nicht kaufen konnten, sich dafür verschulden mussten..und die Schulden dann wieder mitsamt ihren Äckern und Höfen los wurden . Meist reichte auch das nicht aus und die Schuldknechtschaft zwang immer mehr zur Lohnknechtschaft….
Als 1817 ein gigantischer Vulkanausbruch in Indonesien die Atmosphäre verdunkelte und eine Klimakatastrophe als folge zu über mehr als ein Duzend Jahre andauernden Misernten und Hungersnöten führte, wurde die schon aus den oben genannten Gründen galoppierende Verarmung noch gesteigert: in Hanau wurden Bettelausweise ausgestellt, es kam hie und da zu mittleren Hungerrevolten und zahlreichen Überfällen auf den damaligen Fernverkehrsstraßen  wie der Hohen Straße und der späteren am Talrand verlaufenden Leipziger Straße. Aus den völlig verarmten Unterschichten bildeten sich gut organisierte StraßenRäuberbanden: die VogelsbergBande, die SpessartBande, die OdenwälderBande, Die HardtwaldBande … alle zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wobei ihre Anführer wie der Schinderhannes im gemeinen Volk einen sehr guten Ruf hatten, weil sie den Reichen nahmen und nach sich selbst zuerst dann aber auch ab und zu nicht verbandelte Arme versorgten. In diese Zeit fällt auch der Überfall auf das „Glaskärrnsche“ bei Haingründau, der Raub des Napoleonischen Kriegskasse für den Russlandfeldzug im Keller des Gasthauses Fass in Rothenbergen, so wie der „Plötzliche Reichtum der armen Leute von Krombach“, der ja klassisch verfilmt wurde.  Und nicht zu vergessen, der Roman von Valentin Senger: „Die Buxweilers“, der zwischen Gelnhausen Ortenberg, Eckhardtroth, Hungen, Nidda, Lüders, Schlitz, Lauterbach, Gründau, Schlüchtern, Orb und Fulda spielt.
Die Mittel-Gründauer Bauern wollten die Sache aber anders machen. Sie stellten  politische Forderungen gegen die Aubeutung und Ausplünderung der kleinen Leute auf: 1830 erhoben sie sich und begannen so den Oberhessischen Bauernaufstand, bei dem sich zum Sturm auf die Herrschaftssitze über 5.000 nur sehr schlecht bewaffnete Bauern zusammenschlossen. Einer ihrer Hauptanführer war der Mittel-Gründauer Tobias Meininger. Und der Mittel-Gründauer Lehrer Paul Nagel hat die Forderungen der Bauern aufgeschrieben und wollte/sollte sie dem Büdinger Fürsten überbringen. Den konnte er jedoch nicht erreichen, weil die Büdinger Pantoffelhelden vor den Bauern die Tore schlossen, statt sich mit ihnen zu verbünden. Damit nicht genug: Mit Unterstützung der Büdinger Besitzbürger nahmen die fürstlichen Jäger Paul Nagel gefangen und warfen ihn ins Büdinger Zuchthaus. Seit 1831 fehlt von Paul Nagel jede Spur, er taucht in keinem Kirchenbuch der Umgebung, in keiner Passagierliste der Auswanderungsschiffe am Bremer, Hamburger oder anderen Häfen auf, auch in keinem Niederländischen…Er ist im Büdinger Zuchthaus einfach „verschollen“ ….
Auch die später – also nach der niedergeschossenen 1848er Demokratischen Revolution –  aufkommende Genossenschaftsbewegung  wurde nach angfänglichen Erfolgen zur großen Enttäuschung, weil sie den Pferdefuß des Privateigentums an Grund und Boden nicht beseitigte. Auch gegenüber den Genossenschaften und den sich aus ihnen entwickelnden Sparkassen und  Raiffeisen- und Volksbanken hafteten die Kleinbauern mit ihrem Grundbesitz, mit ihren Höfen, samt Vieh und Wohnhäusern, die meist letztlich auch nur notdürftig ausgebaute Ställe waren.
Schulden sind erblich: zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach der französischen Revolution aus Angst vor derselben bzw. aus  Angst vor ihrem Übergreifen auf die deutschen Kleinstaaten wurde auch im Zuge der Stein’schen Reformen die Möglichkeit zugestanden, sich aus den Leibeigenschafts- & Fron-ähnlichen Verhälnissen freizukaufen. Nur so wurde man überhaupt als Bürger anerkannt und erhielt (im Gegensatz zu Arbeitern, Knechten und Frauen) z.B. Stimmrecht, wenn auch nur für die feudalen ständischen Landtage, die fast nichts zu sagen hatten. Diese Freikaufmöglichkleit brachte unzählige Familien in so große Schuldknechtschaft, dass sie nicht nur ihren gesamten Grund- und Hausbesitz loswurden sondern auch noch ihre Urenkel mit den Schulden belasten mussten und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein daran abzuzahlen hatten.
Eine weiter Schulderbschaft ist hier noch gar nicht erwähnt: Unterernährung der Kinder, Zwang zur industriellen und großagrarischen KinderHungerlohnarbeit, damit verbunden andauernde Gesundheitsschäden, Verkrüppelung, nur mangelhafte Schulbildung (Was Schule ? Du musst arbeiten gehn!!). Und Kinder mit schlechter Ausbildung oder ohne, weil das Lehrgeld nicht gezahlt werden konnte, weil die Lernmittel unbezahlbar waren, waren zu Armut verurteilt .. das alles hatte wieder Kinder- und KindesKinder-Armut zur Folge und grenzenlosen Reichtum auf der anderen Seite (des Hasselbaches, wo im Treppenhaus des Herrenhauses noch 1995 die Bilder der Isenburg-Büdingenschen Besitzungen in Brasilien, Argentinien, West-Ost- und Süd-Afrika hingen).
Heute ist alles nicht mehr so schlimm? Man sollte sich Mal genauer ansehen, wieviele Höfe, Wohnhäuser, Äcker usw tatsächlich noch den urspünglichen Eigentümern oder den Banken gehören und wieviel von denen, die sie bewohnen, bearbeiten zum großen Teil allein die Zinsendienste an die Banken kaum noch zahlen können..
Über die Enteignung der Klein-Bauern zugunsten der GroßAgrarier, AgrarIndustriellen, Reichsnährstands-OrtsbauernFührer folgt ein nächstes Kapitel: Auswirkungen des Hartmannplanes in der Rhön , Auswirkung der Flurbereinigungen 1930, 1933 bis 1945, und die freiheitlich-demokratische Grund-Flurbereinigung von 1950 bis 1970 und der Widerstand der Bauern dagegen. Das „Armutgen“ des Herrn Sarazin ist nicht seine Erfindung, sondern die der NAZIS, die schon vor der Machtergreifung in den ländlichen Gebieten die „Ausmerzung der erblichen Armut“ vorbereiteten. Die in den Endzwanziger und 30er Jahren beim DomänenPächter Rullmann für Hungerlohn arbeitenden „Fulda-Mädels“/“Bayern-Mädchen“ waren auch Opfer dieser Kampagnen. Auch die Forderungen der Mittel-Gründauer Bauern von 1830 werde ich hier noch anhängen..
Forderungen der Mittel-Gründauer Bauern
an den Fürsten von Isenburg-Büdingen:Wir verlangen und sind entschlossen
im nötigen Falle mit unserem Blute zu erkämpfen:1. die Aufhebung und Vernichtung
der Stempelpapiere;2. die Aufhebung der Verbrauchssteuer,
Akzise und alle dergleichen ungebührende
Abgaben und Erpressungen;

3. die Aufhebung der Salzsteuer;

4. Verminderung der Pensionsbesteuerung;

5. einen besseren und kürzeren Rechtsgang;

6. wollen wir wieder unsere früheren Rechte,
unsere Gemeinde- und Gerichtswaldungen

Mittel-Gründau 1830

((Wer denkt da nicht an die Mehrwertsteuer? Wer denkt da nicht an die Mülldeponie im Wald? HaBE))

Im Hessischen Staatsarchiv existiert ein Verzeichnis über alle Lehrer und Schulen im Großherzogtum Hessen-Darmstadt .
Es umfasst Angaben aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert.

Auf den Seiten 256 und 257 dieses Verzeichnisses sind unter dem Kapitel 449a alle Mittel-Gründauer Lehrer von 1699 bis 1882 aufgeführt.

Darunter der erste Lehrer an der 1879 erbauten „Alten Schule“ , Johannes Frey, geboren am 19.01.1840 in Lorbach als Sohn des Lehrers Ernst Frey. Johannes Frey war 1860/61 zunächst Lehrer in Böllstein, dann von 1861 bis 1865 in Rülfenrod,. 1865/66 in Wallenrod. Nach 16 Jahren in Mittel-Gründau wechselte er 1882 nach Gräfenhausen wo er bis 1903 als Lehrer arbeitete. Er starb am 06.01.1917

2 der Lehrer der Schule in Mittel-Gründau wurden wegen ihrer demokratisch revolutionären Betätigungen zu Zuchthaus verurteilt, bzw zur Auswanderung gezwungen.
Aus dem folgendenOriginaltext des Verzeichnisses: ((in Doppelklammer Erläuterungen des Verfassers)) geht auch hervor, warum es sich bei den Mittel-Gründauer Schulen sozusagen um “ländliche Paulskirchen” handelt. Die Schulen und die Lehrer als Schriftführer der demokratischen revolutionäre waren Dreh- und Angelpunkt für die Verbindung der städtischen Revolutionszentren mit der Provinz, dem ländlich-bäuerlichen Hinterland, ohne das eine demokratische Entwicklung des gesamten Landes unmöglich war. Alle Schulen in Mittel-Gründau wurden jeweils ohne Unterstützung der Obrigkeit von den in der großen Mehrheit bitter armen Einwohnern errichtet.

„ Mittel-Gründau hatte schon vor 1700 eine Schule. Bald nach 1700 wurde ein großes Schulhaus gebaut, das kleine alte wurde zum Hirtenhaus ((vermutlich die Eckscheune Ecke „AlteSchulstraße/Bachgasse)) 1835 hatte die Schule 114 Schüler; Gehalt damals 202 fl., 1839: 237 fl.; 1842 265 fl.; 1858 260 fl.; 1865: 300 fl.; Ein um 1780/90 erbautes Schulhaus war 1835 noch gut ((Reste davon stehen heute noch in der „Alten Schulstraße“, die deshalb auch so heißt));

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

Ein Gedanke zu „Wie Armut entsteht
am Beispiel eines Hessischen Dorfes /
Das Thema am 1.12.2011 beim 19. Erzählabend des Historisch-Demokratischen Vereins Mittel-Gründau von 1848 i.d. IAS“

  1. Zur Zeit wird in Mecklenburg-Vorpommern die landwirtschaftliche Nutzfläche in nicht für möglich gehaltenem Tempo privatisiert in Größeneinheiten, vor denen die alten Gutsherren vor Neid erblassen würden. Leider gibt es zu diesem Prozess bisher keine veröffentlichten Statistiken. Und meine Partei, die Linke, bemüht sich auch nicht darum, diesen Prozess zu beleuchten. Meist stehen undurchsichtige westliche Kapitalgesellschaften hinter diesen Aufkäufen.
    Lothar Ratai aus Feldberg

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