Ein Brief Rolf Verlegers (ehemaliges Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland)zum „Antisemitismusbericht“ des Deutschen Bundestages an die FAZ, der dort nur gekürzt wegen seiner Bedeutung hier aber in voller Länge veröffentlicht wird

Liebe Freunde,

die FAZ hat heute einen Leserbrief von mir abgedruckt, den ich ihr vor vier Wochen zugeschickt hatte, zum „Antisemitismusbericht“ der vom Bundestag eingesetzten Expertenkommission.
Gewisse Dinge sind eben zeitlos aktuell …
Ja, und er war wohl wirklich etwas zu lang. Daher wurde nur der letzte Absatz abgedruckt, wie folgt:
„Die schlichte Wahrheit, die dieser Antisemitismusbericht aufzeigt, ist doch diese: Die meisten Deutschen – ob Christen, Muslime oder Atheisten, und links mehr als rechts – sind wohl in der Lage, einen Unterschied zu machen zwischen ihrer Einstellung zu Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland und der berechtigten Verurteilung der Diktatur des sich selbst „jüdischer Staat“ nennenden Israel über die ihres Landes beraubten Palästinenser. Darüber können wir als Juden in Deutschland froh und dankbar sein. Die politische Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, der Zentralrat, sollte sich ebenfalls bemühen, diesen Unterschied gut herauszuarbeiten, und aufhören, sich als Lobbyorganisation nicht zu verteidigender israelischer Maßnahmen zu gebärden. Das wäre die beste Prophylaxe gegen den im Antisemitismus-Bericht (ohne jede solide empirische Verankerung) behaupteten Judenhass in muslimischen Gruppen.“
„sind wohl in der Lage“ hieß bei mir „sind sehr wohl in der Lage“, aber sei’s drum. Ich bin erfreut, dass die FAZ dies nach so langer Zeit immer noch veröffentlichungswürdig fand.
Hier setze ich den Brief zu Eurer/Ihrer Kenntnisnahme in ganzer Länge hin. Mein Motiv, ihn zu schreiben, war, dass sich Politik und Medien die dubiose Aussage des Berichts herauspickten, 20% der Deutschen seien „latent antisemitisch“ (was immer „latent antisemitisch“ bedeutet, man stelle sich vor, jemand sei „latent antichinesisch“ oder „latent antifranzösisch“), – im Bericht der FAZ wurde daraus auch noch der völlig sinnentstellende Titel „Antisemitismus weit verbreitet“ – und die Fülle anderer referierter Daten schlicht ignorierten.
Mit besten Grüßen
Rolf Verleger
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Zu „Antisemitismus weit verbreitet“ (FAZ vom 24. Januar, S.4)

Der nun der Öffentlichkeit vorgelegte Bericht „Antisemitismus in Deutschland“ interessiert mich als empirisch arbeitenden Wissenschaftler und als politisch aktives Mitglied der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.

Der Bericht referiert in seinem empirischen Kern Ergebnisse der jährlichen Erhebungen von Heitmeyer et al. aus Bielefeld und im Zweijahresrhythmus erhobene – aber offenbar etwas ältere –  Befunde von Braehler, im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Diese Daten zeigen klar – im Gegensatz zu Ihrer Überschrift „Antisemitismus weit verbreitet“: Es gibt im rechten Spektrum Judenhass, der mit anderen Formen der Fremdenfeindlichkeit wie Hass gegen Türken und Araber einhergeht, und es gibt auf der linken Seite kritische Einstellung zu Israel, die nicht mit Judenhass zusammenhängt.

So heißt es auf S.58-60 des Berichts (Hervorhebungen von mir):

„Was die politische Einstellung angeht, so lässt sich generell feststellen, dass der Antisemitismus von links nach rechts zunimmt. So zeigt eine genaue Analyse der GMF-Daten [von Heitmeyer et al., R.V.], dass Einstellungen im Sinne des ‚klassischen Antisemitismus‘, ’sekundären Antisemitismus‘, ‚israelbezogenen Antisemitismus‘ und der ‚antisemitischen Separation‘ weitaus stärker bei den ‚rechts‘ oder ‚eher rechts‘ Eingestellten zu finden sind. Bei den ‚links‘ oder ‚eher links‘ Eingestellten lässt sich zwar eine ausgeprägtere ‚israelkritische Einstellung‘ ausmachen, doch lässt sich zwischen dieser Präferenz in dieser Gruppe und dem klassischem sowie dem sekundären Antisemitismus kein empirischer Zusammenhang herstellen.

Was die relativ geringen Antisemitismuswerte bei der politischen Linken betrifft … : Werte im äußeren linken Bereich sind etwas höher als bei denjenigen, die sich als gemäßigte Linke einstufen, liegen aber erheblich unter den Zahlen für Menschen, die sich in der politischen Mitte verorten.

Das Bielefelder Projekt konnte nachweisen, dass Zusammenhänge zwischen der Verbreitung antisemitischer Einstellungen und anderen Formen ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ bestehen. So stimmten insbesondere 74 Prozent der Befragten, die das Statement befürworteten, die Juden seien durch ihr Verhalten an den Verfolgungen mitschuldig, auch eher oder voll und ganz der Aussage zu, es lebten zu viele Ausländer in Deutschland, während 58 Prozent dem Satz beipflichteten ‚Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land‘ und 55 Prozent sich gegen gleichgeschlechtliche Ehen wandten.“

Soweit der „Antisemitismus-Bericht“ in seinem empirischen Kern. Es bleibt das Geheimnis der Politik und der Medien, wie sie aus diesem empirischen Kern Aussagen über die Verbreitung von Antisemitismus unter türkisch- und arabisch-stämmigen Muslimen oder in „linksextremistischen Zirkeln“ (so Ihre Zeitung) ableiten.

Die schlichte Wahrheit, die dieser Antisemitismusbericht aufzeigt, ist doch diese: Die meisten Deutschen – ob Christen, Muslime oder Atheisten, und links mehr als rechts – sind sehr wohl in der Lage, einen Unterschied zu machen zwischen ihrer Einstellung zu Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland und der berechtigten Verurteilung der Diktatur des sich selbst „jüdischer Staat“ nennenden Israel über die ihres Landes beraubten Palästinenser. Darüber können wir als Juden in Deutschland froh und dankbar sein. Die politische Vertretung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, der Zentralrat, sollte sich ebenfalls bemühen, diesen Unterschied gut herauszuarbeiten, und aufhören, sich als Lobbyorganisation nicht zu verteidigender israelischer Maßnahmen zu gebärden. Das wäre die beste Prophylaxe gegen den im Antisemitismus-Bericht (ohne jede solide empirische Verankerung) behaupteten Judenhass in muslimischen Gruppen.

Prof. Dr. Rolf Verleger, Lübeck
Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland 2006-2009

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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