Betreuung

Auswirkungen auf die Familien

Neben den regelmäßigen Beratungsgesprächen zeigt die Nachmittagsgruppe den Familien praktisch Anregungsmöglichkeiten, die auch mit wenig Geld und wenig Zeit zu realisieren sind (auch durch die Förderung der Selbständigkeit der Kinder.

Die Betreuung beinhaltet auch die regelmäßige Hausaufgabenhilfe. Hier sind die Familien oft überfordert.
Eine weitere häufige Überforderung ist die Bearbeitung von pubertären Konflikten und Interessenkonstellationen. Hier wirkt es sich besonders gut aus, daß eine Frau und ein Mann die Kinder betreuen.

Erziehung durch minimale aber konsequente Grenzsetzung durch Vorleben und immanente Gesetze der selbstgewählten Vorhaben

Die Bezugspersonen der Betreuungsgruppe arbeiten nach einem extrem sanktionsarmen Konzept, das sich als Kontrapunkt zur meist angespannten Familiensituation aber auch als Gegengewicht zur stressgeladenen Unterrichtssituation versteht (der Stress kommt meist weder von den Eltern oder den Lehrerinnen ((zumindest in dieser Schule)) sondern von den immer „schlanker“ gemachten Rahmenbedingungen, in denen sie arbeiten und leben müssen). Erziehung in der Gruppe geschieht in der Regel durch weitgehende Selbstorganisation, die sich aus den Projekten und den notwendigen Arbeitsabläufen ergibt unter Mithilfe und Anleitung der Bezugspersonen. Die Organisationsstrukturen entstehen entlang der immanenten, für die Kinder nachvollziehbaren und erfahrbaren Gesetze der feststehenden Rituale und der wechselnden Vorhaben, die wechselnde Funktionen der Kinder und der Bezugspersonen in der Gruppendynamik nach sich ziehen. Die Kinder haben Vorschlagsrecht für Aktivitäten und Ausgestaltung der Nachmittage, können so auch einmal festgelegte Vereinbarungen in einem weiten Rahmen je nach Bedürfnissen umwerfen. Die Vorschläge werden in der Regel diskutiert und ihre Umsetzung ermöglicht, wenn Budget und andere Rahmenbedingungen dies zulassen.

Entlastung der Lehrerinnen

Auch hier entstehen aus der Arbeit der Nachmittagsgruppe ähnlich wie bei den Familien entlastende Effekte. Im Unterricht gibt es nur selten -zumindest für die betroffenen Kinder (wie auch für die Lehrerinnen)- wirklich stressfreie Situationen. Für die einzelnen Kinder bleibt zu wenig Zeit, Fragen müssen abgebügelt werden bzw. werden ob des Stresses erst gar nicht gestellt, es gibt wenig kommunikative Räume, weil immer mehr Kinder mit immer mehr Problemen auf die Lehrerinnen und die Mitschülerinnen zukommen bzw. nicht zukommen. Es bestehen zu wenige Möglichkeiten für die Kinder sich auszudrücken, auszureden, auch sich zu drücken, angst- und stressfrei Kontakt aufzunehmen.
(Für die Lehrerinnen gilt das zum Teil auch)

Rückwirkungen auf den Unterricht

Obwohl die Nachmittagsbetreuung nicht als Veranstaltung zur schulischen Leistungsoptimierung der Kinder gedacht ist, entstehen diesbezüglich positive Rückwirkungen. In der Gruppe werden in der ersten Stunde gemeinsam die Hausaufgaben gemacht, die Kinder können intensiv offene Fragen des Vormittags klären. Das ist gut so, wesentlich ist aber etwas Anderes: nachmittags entdecken die Kinder und die Bezugspersonen bisher unentwickelte und verschüttete Potentiale.
Im Unterricht mit seiner doch weniger kreativen Umgebung und zu hoher Population, mit weniger musischem Raum und weniger freien Zeit bleiben viele Begabungen zum Teil auf der Strecke oder können sich nicht gut entwickeln, werden übersehen, unterbewertet oder verschüttet.

Enge Zusammenarbeit mit Eltern, Klassenlehrerin und Schulleitung kann ausgehend von der Arbeit in der Gruppe zur Korrektur von Förderschwerpunkten und -ansätzen führen, festgeschriebene Urteile revidieren bzw. das Verhalten, das diesen Urteilen zugrunde liegt entscheidend verändern (s.o.).

Bisher kaum zugängliche Problembereiche in Familie, Unterricht und Freizeit werden im gewachsenen Vertrauensverhältnis zwischen den Betreuerinnen, den Eltern und anderen Erziehungsberechtigten, den Lehrerinnen und den Kindern zunehmend offen besprochen und gemeinsam angegangen. Die Mitarbeiter des Sozialen Dienstes?Jugendamtes sind in diese Problemlösungsversuche mit einbezogen und es kann schnell und für alle transparent und konsensmäßig gehandelt werden. Die „Eingriffe“ der beteiligten Institutionen verlieren ihren administrativen Beigeschmack, sie werden als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden.

Notwendige Verbesserung der Rahmenbedingungen Entwicklungsperspektiven

  • Der Unterricht müsste unter Einsatz von mehr Personal wesentlich stärker sozialpädagogisch orientiert und organisiert werden, kleinere Klassen und Entzerrung des schulischen Unterrichts sind notwendig (auch über das an der Gebeschusschule bisher erreichte Maß an Entzerrung, Rhythmisierung, Umgestaltung des Schulanfangs, offenem Unterricht..).
  • Das Stadtviertel braucht als Gegengewicht zur notwendigen Leistungsorientierung inhaltliche und organisatorische Änderungen im Bereich der Schulen und der gesamten Kinder-, Jugend- und Sozialarbeit.
    Die Nachmittagsbetreuung in ihrem zunächst bescheidenen Umfang kann erst der Anfang sein. Notwendig ist die Entzerrung des vollgepackten Schulvormittags. Eine dringend benötigte Ganztagsschule als Angebot für alle Kinder lässt sich nicht mit dem gleichen Personalpool bewerkstelligen. Die bisherige Nachmittagsbetreuung ist nur eine Erste Hilfe.
    Um Stress zu vermeiden, müssten weitere Lehrkräfte und Betreuerinnen eingestellt werden, die anders wie jetzt die sozialpädagogischen und sonderpädagogischen Kräfte nicht auch zur Abdeckung des normalen Unterrichts eingesetzt werden.
    Gestresste Sozialpädagoginnen können trotz aller guten Vorsätze und Ausbildung unter den herrschenden Bedingungen nicht lange durchhalten, entstressend, ermunternd, Freundlichkeit verbreitend, ansprechbar und aufnahmefähig für Kinder, Eltern und Kolleginnen wirken und gleichzeitig ihr Konzepte umsetzen und weiterentwickeln.

Notwendig ist genügend Zeit für Supervision, Fortbildung, Austausch, Koordination und freiwillige Teambildung.

Das Betreuungsprojekt und seine Fortentwicklung funktionieren nicht nach Verordnung, sondern nach Konsens und Akzeptanz, Freiwilligkeit und hoher Motivation, Arbeitszufriedenheit und höchstmöglicher Gestaltungsfreiheit.

Diese Komponenten sind im Wesentlichen in der Nachmittagsgruppe der „Lamboy-Kids“ an der Gebeschusschule gegeben, soweit die Schulleitung, das Staatliche Schulamt und der Soziale Dienst/ das Jugendamt der Stadt Hanau im Rahmen ihrer Möglichkeiten dies gewährleisten können.

Die nicht kurzfristig verbesserbaren und sich rapide verschlechternden Prämissen pädagogisch-sozialpädagogischer Arbeit im Lamboy

Durch die Nachmittagsbetreuung kann die existentielle Bedrohung vieler Kinder und ihrer Familien durch

  • drohende Abschiebung
  • Kürzungen und Verweigerung der Sozialhilfe
  • keine ausreichende Beratung der Anspruchsberechtigten
  • Zwang zu Contischichtarbeit und Überstunden wegen zu geringer Grundlöhne
  • Zwang zum Doppelverdienst und Arbeit auf dem grauen Arbeitsmarkt aus gleichem Grund
  • über 20 prozentige Arbeitslosigkeit
  • akutester Lehrstellenmangel
  • Kürzung von Arbeitslosengeld und -hilfe
  • und die daraus resultierenden Folgeprobleme

nicht vermindert werden.

Die Nachmittagsbetreuung kann die Auswirkung dieser Bedrohung auf die Kinder etwas abmildern und einigen Kindern und Familien dabei helfen, in der geschilderten sozialen und psychischen Schieflage nicht völlig abzustürzen.

Besonders bitter ist die Erfahrung der Kinder, der Eltern und der Lehrerinnen und Betreuerinnen, daß Kinder, die gerade begonnen haben, trotz ihrer traumatischen Geschichte sich gut zu entwickeln, mitten im Schuljahr, mitten in einem endlich hoffnungsvollen Entwicklungsprozess aus ihrer neuen Heimat, aus ihrer Gemeinschaft herausgerissen werden. Solche Erfahrungen zerstören die Ergebnisse jahrelanger mühsamer Arbeit, zerstören das gewonnene Vertrauen in eine Zukunft, für die es sich lohnt zu arbeiten. Die Abschiebungen, die Kündigungen der Bleiberechte und Duldungen zerstören Kinderleben, nicht nur bei denen, die abgeschoben werden, auch bei denen die sehen, wie diese Gesellschaft mit Kindern umgeht, daß Bedürfnisse und Nöte nicht zählen, daß Menschenrechte im Ernstfall nur Papier sind.

(Dass diese nicht nur im Lamboy notwendige Betreuung nicht stattfindet, liegt daran, daß Konzerne wie Daimler-Benz, Siemens usw. und Großbanken wie die Deutsche Bank praktisch keine Steuern mehr zahlen. Gesellschaftlich notwendige Leistungen, wie die menschenwürdige Erziehung und Ausbildung aller hier lebenden und hierher flüchtenden Kinder könnten mit den dort ausgefallenen Steuern von jährlich über 100 Milliarden Mark gut finanziert werden. Dass sich die gleichen Konzerne und die mit ihnen verflochtenen und an ihnen beteiligten Banken durch Waffenverkäufe in alle Krisengebiete bereichern, aus denen viele Familien unserer Kinder vor Krieg und Bürgerkrieg fliehen mussten, daß sie Regime unterstützen, die oft noch unter Anleitung durch die Weltbank und den IWF „ihren“ Völkern frühmittelalterliche Arbeits- und Lebensbedingungen aufzwingen und damit die Menschen zur Flucht vor dem Hunger und in Hungerrevolten zwingen, um sie dann noch politisch zu verfolgen, alle diese Rahmenbedingungen und kaum abstellbaren Ursachen lassen die sozialpädagogischen wie die „schulischen“ Anstrengungen als Sisyphusarbeit erscheinen.)

Hanau, 06.05.1998 Hartmut Barth-Engelbart

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