Dr. Gniffkes Macht um acht
Die
Waffe des Verschweigens
Was sind „anerkannte journalistische Grundsätze“? ARD-aktuell: Finger nass machen und hochhalten
Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Nicht mal zur „gnadenbringenden“ Weihnachtszeit strahlten zufriedenstellende Tagesschau-Sendungen aus der Wunderlampe im Wohnzimmer oder vom Smartphone. Die beitragsfinanzierte ARD-aktuell hat zwar den gesetzlichen Auftrag, „einen umfassenden Überblick über das (…) Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen“ zu geben. (1) Sie ist auf die „Grundsätze journalistischer Sorgfalt“ verpflichtet. Ihre Beiträge müssen „unabhängig und sachlich“ sein. Doch obwohl der hehre Kodex sehr großzügig auslegbar ist, zeigt die ARD-aktuell-Redaktion – Beispiel 26. Dezember 2018 –, dass sie auch dabei die Kirche nicht im Dorf lassen kann.
Die ARD-aktuell-„App“ (für Smartphone) soll, folgt man den Behauptungen ihrer Anbieter, „bewusst aktuelle Trends aufgreifen und neue Wege gehen.“ Die Startseite zeige
„die wichtigsten tagesaktuellen Nachrichten in untertitelten Videos. Hinter jedem Video befinden sich ausführliche Nachrichten, sorgfältig recherchierte Analysen, Hintergründe und Kommentare.“ (2)
Klingt gut. Wirkt aber auch sehr anspruchsvoll. Wer sich fragt: „Was ist denn das Wichtigste, nach welchen Kriterien bemisst sich das?“ merkt jedoch gleich, dass es dafür keinen generell gültigen Maßstab gibt – und dass die Tagesschau hier wie so oft nur dicke Backen macht.
Die Nachrichtenauswahl für die „App“ an diesem Zweiten Weihnachtsfeiertag zeigt obendrein eine bemerkenswerte Systemlosigkeit:
- Russland testet neuen Raketentyp
- Erdbeben der Stärke 4,9 trifft Sizilien
- Flutwelle in Indonesien
- Moschee-Steuer
- Glockenspiel Jerusalem
- Papst spricht Angelus-Gebet
- Alle Kinder in US-Haft werden untersucht
- Japan will Wale jagen
- Waldbrandschäden in Kalifornien sind immens
- Syrische Luftabwehr reagiert auf Angriff
- Wetter
Orientiert sich diese Reihenfolge an irgendeinem logisch nachvollziehbaren Kriterienkatalog?
Gleich drei von elf Berichten betreffen Naturkatastrophen: Erdbeben (2) , Hochflut (3), Waldbrand (4). Welchen hochgradigen Informationsbedarf stillen sie, dass sie als Top-Nachrichten einzustufen waren? Ist Sensationslust von Zuschauern (und Redakteuren: „Geile Bilder!“) und ihr Wunsch, von Katastrophenbildern fasziniert zu werden, ein anerkennenswertes Auswahlkriterium? Dass Unglücksnachrichten bei ARD-aktuell einen Stellenwert haben, ist zwar nachvollziehbar. Die Überbewertung jedoch passt ins Selbstbildnis der ARD-aktuell, das „Nachrichten-Flaggschiff“ unserer Republik zu sein. Es ist im Wortsinne „maßlos“.
Der Katastrophenjournalismus bedient Sensationsbedürfnisse und Angstpotentiale des Publikums gleichermaßen. Er erzeugt eine Spirale der medial-öffentlichen Erregung, steigert Einschaltquoten, davon abhängige Werbeeinahmen und die gesellschaftliche Relevanz des Senders. Dass solche Meldungen vor allem Effekthascherei betreiben, wird z.B. daran deutlich, dass ARD-aktuell über die tiefgreifenden und langfristigen Folgen von Katastrophen in aller Regel kein Wort verliert.
Meldungen über ein nunmehr erweitertes Glockenspiel in einem Jerusalemer Kirchturm (5), ein öffentlich zelebriertes Papst-Gebet im Vatikan (6) oder Japans nunmehr wieder kommerziellen Wal-Fang (7) sind „ein Kessel Buntes“, Produkte des Boulevardjournalismus. Soziale Relevanz ist der päpstlichen Demonstration zwar nicht zu bestreiten, doch wäre gleichermaßen zu berücksichtigen, dass nur 28 Prozent der Bundesbürger noch römisch-katholisch sind und nur mehr 26 Prozent den protestantischen Kirchen angehören (Tendenz jeweils abnehmend), aber bereits 37 Prozent sich als konfessionslos ansehen (Tendenz steigend). (8) Was die hier genannten Berichte für die ARD-aktuell-Redaktion zu Top-Nachrichten macht, zu unverzichtbaren Teilen eines vermeintlich spitzenmäßigen Informationsangebots, bleibt das Geheimnis der Gniffke-Truppe. Ein Mysterium, und zwar erst recht, wenn man betrachtet, „was sonst noch geschah“ – und ignoriert wurde. Dazu kommen wir gleich.
Das „App“-Angebot startete mit einem Bericht über die russische Avantgarde-Rakete. Objektiv hatte er kaum noch Neuigkeitswert. Aber für ARD-aktuell mag sich der Spitzenplatz rechtfertigen, denn sie hatte etwas nachzuholen: Im Frühjahr hatte Präsident Putin entsprechenden Pläne bekanntgegeben, ohne dass die Gniffke-Truppe davon Notiz genommen hätte. Die Bilder vom erfolgreichen Teststart zeigen nichts, was man von solchen Raketenabschüssen nicht schon gesehen zu haben meint; aber das Video löst jede Menge Emotion aus, von Sensationslust bis (politisch gewünschte) Russenangst. Half diese kontextfreie Nachricht uns, die Welt besser zu verstehen? Eine Information allerdings transportierte sie (vorausgesetzt, man nimmt als Laie die Behauptung ab, dass die Bilder tatsächlich eine Rakete neuen Typs zeigen): Putins Erklärungen sind realistisch.
Der Tod von Flüchtlingskindern aus Guatemala in US-amerikanischen Gefängnissen war fraglos eine Spitzen-Meldung. Allerdings nicht in der sterilen Form, wie von ARD-aktuell dargeboten. (9) Völlig empathielos referiert die Tagesschau die schrecklichen Vorgänge, ordnet nicht ein, macht keine Zusammenhänge und Kontexte klar, äußert sich mit keinem Wort zu der skandalösen, menschenfeindlichen Praxis der US-Behörden, die sieben- und achtjährige Kinder in Haft nehmen, reflektiert den mörderischen Rechtsbruch der USA nicht. Man stelle sich das ARD-aktuell-Geschrei vor, hätten sich solche Todesfälle in einem russischen Gefängnis ereignet… Mindestens drei „Brennpunkt“-Sendungen mit Ina Ruck und Golineh Atai wären fällig gewesen.
Die Meldung über die erfolgreiche syrische Abwehr eines israelischen Raketenangriffs auf Ziele am Flughafen Damaskus wäre eine eigene Analyse wert. An dieser Stelle muss es bei einigen wenigen Bemerkungen bleiben: Der Beitrag lässt mittels Verwendung des Konjunktivs offen, ob der Raketenangriff überhaupt aufs israelische Konto geht; als käme für einen solchen völkerrechtswidrigen Überfall im Radarschatten von landenden Passagierflugzeugen ein anderer Akteur infrage. Zeichen der Zeit und Aussage über Deutungshoheiten: Israelkritik wird mit Antisemitismus gleichgesetzt, und solcher Totschlag-Argumentation beugt sich auch ARD-aktuell. „Freundschaft mit Israel ist deutsche Staatsräson“, diese Kanzlerinnen-Demonstration völkerrechtlicher Charakterlosigkeit hat die Tagesschau so weit verinnerlicht, dass sie israelischen Völkerrechtsbruch nicht mal mehr beim Namen nennt.
Selbst bei wohlwollender Prüfung kommt man zu dem Ergebnis, dass mehr als die Hälfte der „aktuellsten und wichtigsten“ Meldungen in der Tagesschau-„App“ vom 26. Dezember weder „wichtig“ noch „sorgfältig recherchiert“ waren. Den Nachweis für reichlich beliebige Nachrichtenauswahl bietet ARD-aktuell mit seiner Tageschau-Hauptausgabe um 20 Uhr sogar selbst (10), und der Vergleich mit anderen Medienangeboten tut ein Übriges.
Die Wohnzimmer-Tagesschau berichtet zwar über den bevorstehenden Anbruch eines „Arabischen Frühlings“ im Sudan, unterlässt dabei jedoch alle informativen Hinweise auf die Triebkraft der Entwicklung: die prompte Einmischung der Revolutions-„Paten“ USA und Großbritannien. Warum diese vom Wesentlichen entkernte Meldung zwar für die Hauptausgabe der Tagesschau wichtig war, für die Smartphone-Nutzer aber nicht, mag sich erklären, wer das kann. Für uns ist das ein Indiz dafür, dass es – entgegen den Behauptungen des Chefredakteurs Gniffke – logische und verifizierbare Nachrichtenauswahlprozesse bei ARD-aktuell nicht gibt.
Weder in der „App“ noch in der TV-Ausgabe Tagesschau kam eine Meldung über ein bemerkenswertes Statement unseres Außenministers Heiko Maas. Unsere Qualitätsjournalisten, sonst immer zur Stelle, wenn ein Regierungsmitglied Verlautbarungsjournalismus erwartet, wahrten Abstand. Mutmaßlich, weil Maas nach ihrem Geschmack die Klappe zu weit aufgerissen, die Stahlhelm-Fraktion und deren Mainstream ignoriert und in die falsche Richtung gekräht hatte:
„Europa darf auf gar keinen Fall zum Schauplatz einer Aufrüstungsdebatte werden. Eine Stationierung neuer Mittelstreckenraketen würde in Deutschland auf breiten Widerstand stoßen.“ (11)
Widerstand gegen die USA? Das geht gar nicht.
In der „App“ fand keine Erwähnung, dass der ukrainische Putschpräsident, Neonazi-Förderer und Merkel-Protegé Poroschenko das Kriegsrecht über den Donbass zum Jahresende wieder aufgehoben hat. (12) Poroschenkos Provokationen hatten erst vier Wochen zuvor in Europa die Alarmsirenen heulen lassen. Jetzt scheint der ARD-aktuell Japans Wiederaufnahme des kommerziellen Walfangs eine für Smartphone-Nutzer wichtigere Nachricht zu sein als die Information darüber, dass der korrupte Oligarch im Präsidentenpalast in Kiew mal Ruhe gibt. Weil ihm grad mit neuen Milliardenkrediten von IWF und EU der Hals vollgestopft wurde?
Vollends indiskutabel: Nicht einmal zu Weihnachten informierte die Tagesschau „sachlich“ und „umfassend“ über die soziale Lage der deutschen Bevölkerung. Zwar bot sie die üblichen Rührstücke, beispielsweise eine Reportage über das gönnerhafte Festmahl für ein paar hundert Obdachlose im Münchner Hofbräuhaus. Aber nichts Grundsätzliches: Wie viele Millionen Menschen in Armut oder am Rand davon leben unter uns? Was wird für sie getan, welche Perspektiven haben sie, warum wird die Kluft zwischen Arm und Reich seit Jahren immer monströser? Wie stehen die politischen Entscheidungsträger und Verantwortlichen dazu? Wer zwingt sie zum längst fälligen Offenbarungseid?
13,7 Millionen Menschen, statistisch jeder sechste Bundesbürger, zählen derzeit zur verarmten Unterschicht. (13) Die Vereinten Nationen werfen der Bundesregierung deshalb sogar Menschenrechtsverletzung vor. (14, 15) Tagesschau-Qualitätsjournalisten halten das offenbar für kalten Kaffee, sie melden es einfach nicht. Soziales passt nicht in ihr Auswahlraster. Ihre Abbildung der Welt erfolgt aus der Perspektive der politischen und gesellschaftlichen Eliten, zu denen sie selbst gern gehören würden.
Dem Vorwurf der Meinungsmache per tendenziöse Nachrichtenauswahl pariert Chefredakteur Dr. Kay Gniffke mit Behauptungen wie diesen:
„Jeden Tag wird bei ARD-aktuell aufs Neue darüber diskutiert und gerungen, über welche Ereignisse in welchem Umfang berichtet wird. Nachrichten zu machen, bedeutet stets, Nachrichten zu gewichten und eine Auswahl zu treffen, denn aus Tausenden von Meldungen muss zwangsläufig eine Auswahl getroffen werden … Das öffentlich-rechtliche ARD-Gemeinschaftsprogramm… arbeitet frei von staatlicher Einflussnahme…Die Relevanz eines Themas ist gewissermaßen relativ und kann nur im Zusammenhang mit anderen tagesaktuellen Themen bewertet werden.“ (16)
Mit dieser schwachbrüstigen und abstrus formulierten Begründung („Nachrichten zu machen bedeutet Nachrichten zu gewichten“) reklamiert ARD-aktuell Seriosität für sich, obwohl damit doch nichts anderes gesagt wird als: Wir entscheiden, was wichtig ist, aber objektivierbare Auswahlkriterien haben wir dabei nicht. Das ist gedankliches Dünnbier mit Schaum obendrauf. Man meint beim Schlucken förmlich, diese Redakteurs-Runde vor sich zu sehen, wie sie tagtäglich um Erkenntnis ringt und ringt und ringt; intellektuelle Muskelmänner unterm Scheinheiligen-Schein, die sich, wenn der Chefredakteur ihre Kurzberichte abgenickt hat, an ihre Bildschirmarbeitsplätze trollen und aus den Textbausteinen der Nachrichtenagenturen 08/15-Berichte zusammenschieben dürfen…
Die typische Tagesschausendung folgt einem dramaturgischen Spannungsbogen: Start mit Informationen von großer (geo-)politischer Bedeutung, vorzugsweise also mit „America first!“-Meldungen; alternativ mit Erklärungen der Bundesregierung; danach Berichte über Kriege und Krisen, soweit möglich bestrichen mit dem Senf politischer Chargen, die es vor die Kameras drängt; es folgen Nachrichten über Wirtschaft und Handel, gegebenenfalls akzentuiert mit etwas Erregung über Diesel- und sonstige Skandale; dann weitere Nachrichten in Kürze aus Wissenschaft und Kultur. Am Ende das Bunte, am besten ein Schmunzelstück. Als Spannungslöser. Dann die Wettervorhersage.
Die Erfahrung lehrt: Das klappt. So fühlt sich der Zuschauer unterrichtet und wohl in seiner Haut. Die Ordnung der Tagesschau spiegelt Ordnung des Alltags vor. Das beruhigt. Und soll beruhigen. Die Gelbe Weste gehört in den Kofferraum, wir sind hier schließlich nicht in Frankreich.
„Der geschickte Journalist hat eine Waffe: Das Totschweigen – und von dieser Waffe macht er oft genug Gebrauch.“ (17)
So gesehen ist ARD-aktuell-Chef Dr. Kay Gniffke ein Meister seines Fachs.
(2) http://www.tagesschau.de/app/
(3) https://www.tagesschau.de/ausland/sizilien-aetna-beben-101.html
(4) https://www.tagesschau.de/ausland/tsunami-indonesien-125.html
(5) https://www.tagesschau.de/ausland/waldbraende-kalifornien-129.html
(6) https://www.tagesschau.de/ausland/pv-glockenspiel-jerusalem-101.html
(7) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-487181.html
(8) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-487335.html
(9) https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeiten-deutschland-2017
(10) https://www.tagesschau.de/ausland/kind-gestorben-us-gewahrsam-101.html
(12) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-29137.html
(14) https://www.nachdenkseiten.de/?p=46920#h11
(16) Auszug aus einem Schreiben der Redaktionsleitung an die Verfasser
(17) Kurt Tucholsky, „Presse und Realität“, in: „Die Weltbühne“, 13. Oktober 1921, S. 373
Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 – 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Journalist. 1975 – 1996 im NDR, zunächst in der ARD-Tagesschau, nach 1991 in der NDR-Hauptabteilung Kultur. Danach Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni Taipeh.
Anmerkung der Autoren:
Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden auf der Seite https://publikumskonferenz.de/blog dokumentiert.
Vielen Dank für für diesen aufschlussreichen Artikel. Traurig wie es ist, beobachte ich, dass die Menschen im Deutschland werden durch Medien regelrecht verblödet.