HaBEs Sternstunden 6.: 1971, als man „Inclusion“ noch mit „Einschluss“ übersetzte

… war Inklusion sehr gefährlich. Ich kannte sie schon aus der Justizvollzugsanstalt, wenn der Wärter mit dem dicken Schlüsselbund auftauchte. Aber die ist hier nicht gemeint.

Die Inklusion ist/war nicht nur gefährlich, weil auch damals nicht ausreichend Lehrkräfte eingestellt und die Eingestellten oder Einzustellenden auch nicht ausreichend qualifiziert wurden, bzw. den Qualifizierten nicht ausreichend Zeit zur Verfügung stand und die Besoldung ausgesprochen schlecht war. Man kennt das leidliche Lied. Da hat sich bis heute nichts wesentlich geändert.

Das war nicht in Rödelheim. Das war sechs Jahre später 1978 in Maintal-Bischofsheim nach meinem Brandt-frisch reformierten Berufsverbot eine weitere Sternstunde. Die erzähle ich aber erst später.

1971 wurden Lehrerinnen und Lehrer, die inklusiv unterrichteten von der hessischen CDU zu RAF-Sympathisanten erklärt und bespitzelt. Es wurde versucht, belastende Fotos mit Teleobjektiven zu schießen, gerade bei Hilfestellung beim Turnen auf dem Schulhof am Kinderreck, auf den Klettergerüsten: „‘Antiautoritäre‘ Lehrerhand an Kinderpopo!“, geiferte ein CDU Spitzle namens Ditzel. Besonders die BILD-Zeitung war ganz scharf auf seine Schnappschüsse. Hat aber nicht geklappt.

Der Versuch, den inklusiven Unterricht an der Grundschule am Biedenkopfer Weg  zu unterbinden scheiterte an der 90%igen Unterstützung durch die 400 Eltern bei einer Schulversammlung in der Turnhalle. Hans Härterich sprach nach einigen Elternbeiträgen, Monika Seifert, Jürgen Seifert, den sie trotz Dr. und Prof. feierten, Renate Stubenrauch ….. Die Rektorin, Frau Jehmlich, der Hausmeister- Herr Bokius, die Sekretärin -Frau Wolf stellten sich zusammen mit dem Gesamtkollegium hinter und vor uns. Ja, auch der Vater von Boris Rhein stand damals als Schuldezernent und linker SPDler auf unserer Seite ….

Das war schon eine Sternstunde.

Nicht nur die Eltern aus dem sozialen  Brennpunkt „Zehntmark-Weg“ unterstützten uns, auch die Mehrheit der eher mittelständisch-orientierten Eltern aus den Ein- bis Zweifamilienhäusern der “besseren“ Gegenden des Schuleinzugsgebietes. Ergebnis langandauernder Elternarbeit, Unterstützung auch in außerschulischen Fragen, bei Korrespondenz & Verhandlungen mit Jugend- und Sozialamt, mit dem Arbeitsamt, mit Kranken- und Rentenversicherung, Anwaltsvermittlung bei Mietstreitigkeiten, Organisation von Hollandfahrten zur Umgehung des § 218, Plätze im Frauenhaus usw..

Aber die eigentlichen Sternstunden waren weniger plakativ:

Wir hatten in unseren Klassen – im Rahmen der „Aktion Kleine Klasse“ bei unseren 21 Kindern einige sehr „verhaltensauffällige“ Kinder dabei. Die waren ursprünglich als „nicht beschulbar“ begutachtet worden. Wir haben sie trotzdem aufgenommen: ein Kind aus einer extrem kinderreichen extrem armen Familie aus dem Zehntmarkweg saß ein halbes Jahr im  Unterricht nur unter dem Tisch.

Auch mit dem einfühlsamsten Locken war es nicht hervorzuholen. Wir haben das akzeptiert und das Kind nicht weiter unter Druck gesetzt. Es kam keine Äußerung. Wir hofften und trauten dem Kind das auch zu, dass es vom Zuhören lernt und vom gelegentlichen zwischen den Tisch- und Stuhlbeinen hindurch-„spionieren“  Als wir gerade dabei waren, das „I“ zu erforschen hatte ich einen STEIF-Igel mitgebracht un d in der Mitte des Raumes auf einen Tisch gestellt.  Plötzlich kam der Kleine von unter dem Tisch hochgeschossen, deutete auf den Igel und schrie „I“, ging an die Tafel und schrieb ein großes „I“ hin. Sofort danach verschwand er wieder unter dem Tisch. Das Eis war gebrochen. Die Zeiten unter dem Tisch wurden kürzer und nach einem Monat saß er mit den Anderen zusammen….

Vier Kinder waren extrem aggressiv und teilten auch heftig gegen die anderen aus. Wir versuchten es mit Mediation, mit vielen Gesprächen mit den Kindern und den Eltern.  Es nutzte nur wenig und nur kurzfristig. Bis wir auf die Idee kamen, die Aggressionen positiv zu nutzen!:  Der Versuch mit einigen Nagelblöcken im Hof war schon besser als alle anderen Versuche vorher. Doch das Nageln war für die Kinder irgendwie auf die Dauer frustrierend sinnlos und schaffte auch keine Kompensation für die erlittene Rangunter- oder Fehleinordnung in der Gruppe.

Die Lösung kam mit dem Bau eines Spielhauses aus Material, das die Eltern zusammen mit den Kindern und mir aus Abbruchhäusern geholt hatten, die für den Bau der Autobahn abgerissen wurden, werden sollten: Bretter, Dachlatten, Balken-.  Dass die Eltern mitmachten, war das Ergebnis eines Elternabends, bei dem ich den Eltern sagen musste, dass bereits fünf Kinder mit der Beschaffung von Baumaterial für das Spielhaus begonnen hätten.  Ich war der Meinung, dass sie sich auch durch Verbote nicht davon abhalten lassen würden. Das Beste sei jetzt, die entsprechenden Behörden darüber zu informieren und sofort die Kinder bei der Beschaffung von Baumaterial zu unterstützen.

Die hessische CDU wetterte gegen „Unterricht in Diebstahl!“ aber die Eltern machten mit, Väter, die auf dem Bau arbeiteten, brachten Restholz und  übriggebliebene Nägel. Bei Unterrichtsgängen zu Baustellen, um von den Bauarbeitern sich etwas abzugucken, versprachen Handwerker und Bauunternehmer mir und den Kindern Sachspenden und fragten nach Maßen, Höhe, Breite, Tiefe … nach Mengen.

Da fing in der ersten Klasse das große Messen und Zählen an.  Ohne dass sie es merkten, lernten sie mit dem Zollstock das Addieren, das Subtrahieren, das Multiplizieren und Dividieren … 21 Kinder stellten sich nachmittags zusammen auf ein für eine Kindertagesstätten-Erweiterung vorgesehenes, brachliegendes städtisches Nachbargrundstück und zogen drumherum eine Linie. Danach stellten sie fest, dass man doch auf so engem Raum nicht spielen könne. „Ja, aber es sind doch nicht immer alle Kinder da!“ „Trotzdem!, Auch wenn nur 10 da sind, ist das Spielhaus zu klein!“ … Die Kinder einigten sich auf die doppelte Größe. „Und wie hoch soll es denn werden? „ – So hoch, dass die Erwachsenen auch noch rein passen!“

Beim nachmittäglichen Bauen hatten sich jetzt auch Kinder der zweiten, dritten und vierten Klassen eingefunden und halfen mit, ein paar Hauptschüler, die noch Kontakt zur Kindertagesstätte hatten und Brüder und Schwestern der Kleinen auch. Sie hatten sehr schnell begriffen, dass es das Haus der Erstklässler bleiben muss. In Absprachen mit den Kleinen bildeten sie dann eine Bewachungsgruppe, die Abends aufpassen wollte, dass niemand das Haus zerstört… Die Älteren halfen den Kleinen auch beim Sägen, denn auch kleine Fuchsschwänze sind nicht ungefährlich.  Am besten waren da auch die Bügelsägen, bei denen man Koordination üben muss…. Die Kinder lernten  …

Und nach dem Segen des Sägens war die Stunde der Hammerspezialisten gekommen: So präzise wie unsere Aggressions-Kandidaten konnte niemand nageln. Sie fanden allseitig Anerkennung, auch von den Eltern. Und sie hatten dazu beigetragen ein Haus zu bauen, von dem sogar die Zeitungen berichteten. Auch, wenn  vieles dabei gelogen war.

Drei schlossen sich der Bewachunggruppe an, die dann auch noch abends weiter baute….

Dass ich während dieser Zeit 1971/72/73 als Ko-Lehrer in der Doppelbesetzung auch noch als Streikleiter den ersten Nachkriegsstreik der GEW organisierte und die Stundensätze für Lehrbeauftragte durch diesen Streik von 9,50 DM auf 27,- DM (wie das damalige Stunden-Honorar an der Volkshochschulen) erhöht wurden, war natürlich für die hessische und Bundes-CDU ein weiterer Grund gegen uns zu schießen. Dass ich unter anderem nicht nur Vahles Kinderlieder, sondern auch welchen von Süverkrüpp mit den Kindern beim Bauen sang („Der Baggerführer Willibald“) und eigene Lieder und Übersetzungen von Pete Seeger-, Donovan-, Bob Dylan- & Joan Baez-Songs machte die Schwarzbraunen nur noch bissiger. Auf Ermahnung durch Prof. Peter Rhein schrieb ich den Donovan-Song „Car-Car“ um, besonders die zeile „Gib so viel Gas, wie Du kannst, denn wir haben keine Angst !. “ Und dann lauteten die schmunzelnd schuldezernentlich inkriminierten Zeilen im Endergebnis auch „verkehrserziehungskorrekt“ „Kinder auf den Hintersitz“ statt „Ich will auf den Vordersitz!“ und „Bitte nimm den Fuß vom Gas, denn ganz schnell passiert etwas!“ Der Baggerführer durfte mit Genehmigung des Schuldezernenten unzensiert weiterbaggern :-O))))))

Das waren Sternstunden

Einen Wehrmutstropfen gab es dabei aber doch: der Neubau der Autobahn trennte die alten „Spielfelder“ der Kinder von ihren Siedlungen ab.  Sie mussten einen weiten Umweg über eine Fußgängerbrücke nehmen, wenn sie wieder dorthin und zurück wollten. Ein Kind aus der dritten Klasse war schon öfter deshalb zu spät zum Abendessen gekommen und die Eltern drohten ihm mit  Hausarrest…

Eines Tages war es wieder so weit: der Junge merkte erst kurz vor der Abendessenszeit, dass er nach Hause muss. Aus Angst vor dem Hausarrest nahm er  gegen den Rat seiner Spielkameraden die Abkürzung direkt über die Autobahn . Ein Auto erfasste ihn . Er war sofort tot.

Die hessische CDU versuchte dann, den Tod des Jungen als Ergebnis unserer Unterrichtsmethoden hinzustellen.

Aber die Eltern haben schon bei der Beerdigung ihres Sohnes diesen Versuch der CDU entschieden zurückgewiesen.  

Ein solcher Schmerz brennt lange nach, auch wenn es nicht das eigene Kind ist..

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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