Ein sehr aufschlussreiches & erschreckendes Interview dazu, wie hier israelkritische deutsche Juden von selbsternannten & staatlichen „Antisemitismus-Wächtern“ drangsaliert werden.
23.10.2019
https://www.jungewelt.de/artikel/365277.israel-kritik-überwacht-und-schikaniert.html
Überwacht & schikaniert
Jüdische Erfahrungen unter der Knute der deutschen Staatsräson der »Israelsolidarität«.
Ein Gespräch mit Nirit Sommerfeld
Susann Witt-Stahl
Ihr Vater hat den Holocaust überlebt, Ihr Großvater wurde im KZ Sachsenhausen ermordet. In Ihren Liedern, die Sie mit Ihrer Band »Orchester Shlomo Geistreich« aufführen, erinnern Sie an den Völkermord an den Juden. Dennoch hat die »Fachstelle für Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit« in München Sie ins Visier genommen und Ihnen für Ihr Jubiläumskonzert Anfang Oktober Auflagen machen lassen. Welche waren das?
Die Fachstelle für Demokratie in München hat erwirkt, dass der Gasteig, das Kulturzentrum, in dem unser Konzert stattfand, vorab eine schriftliche Erklärung von mir verlangt, in der ich zusichere, dass »im Rahmen dieser Veranstaltung keine antisemitischen Inhalte geäußert werden«. Sollten diese dennoch festgestellt werden, drohte man, sie abzubrechen. Man setzte also Aufpasser in mein Konzert: Deutsche Beamte sollten prüfen, ob eine deutsch-israelische Jüdin antisemitische Züge hat. Ist das an Absurdität, an Hohn, an ehrverletzender Verleumdung zu übertreffen?
Und zu welchem Schluss sind die deutschen Beamten nach ihrem »Antisemitencheck« gekommen?
Mit mir hat niemand gesprochen. Ich hatte in den Tagen zwischen der Überwachungsankündigung und dem Konzert genügend Zeit, meine Empörung zu verarbeiten. Letztlich hat mir die Stadt München einen großen Gefallen getan: Durch internationale Onlinemedien, wie Electronic Intifada und Middle East Monitor, ging diese Geschichte in die Welt hinaus. Mein Konzert war ausverkauft und das Publikum begeistert. Ich habe alles gesagt und gesungen, was mir am Herzen liegt − auch dass ich in Israel nicht mehr leben will, weil der Staat die Hälfte seiner Bevölkerung demokratisch und die andere Hälfte militärisch regiert, und ich mich für Gerechtigkeit zwischen Palästinensern und Israelis einsetze. Ich betone das, weil diese ganze Hetzkampagne nichts anderes beabsichtigt, als uns abzulenken und uns beschäftigt zu halten. Das muss man durchschauen und nicht den Fehler begehen, sich für etwas zu rechtfertigen, was gar nichts mit einem selbst zu tun hat.
Erleben Sie es häufiger, dass Sie bespitzelt und falschen Verdächtigungen ausgesetzt werden?
Permanent. Die Anwälte der Stadt München haben Internetrecherchen angestellt und meinen Facebook-Account zurück bis in das Jahr 2010 durchforstet, um mir eine Beteiligung an der BDS-Kampagne (siehe Randspalte, jW) nachzuweisen und einen Vorwand dafür parat zu haben, dass ich seit drei Jahren nicht mehr in Räumen der Stadt auftreten darf. Meine Website und mein Youtube-Kanal werden ständig beobachtet. Wenn ich zu einem Vortrag eingeladen bin, verteilen junge Leute, die sich absurderweise für Antifaschisten halten, Flugblätter mit aus dem Kontext gerissenen Zitaten von mir und Falschaussagen über mich – wie ich es unlängst an der Universität Marburg erleben musste. Wenn Auftritte von mir angekündigt sind, werden oft kurz vorher Briefe an die Veranstalter mit der Aufforderung geschickt, sie abzusagen. Begründung: Antisemitismus.
Was genau will man Ihnen anhängen?
Hass auf Israel und jüdischen Selbsthass. Sie behaupten, ich würde »eine Bandbreite antisemitischer Stereotype bedienen«. Weil ich beispielsweise in einem meiner Lieder die Verhaftung und Tötung palästinensischer Kinder thematisiere, werfen sie mir vor, »die antisemitische ›Kindermörder‹-Karte« zu spielen. Sie benutzen alles, was sich in dieser Art irgendwie uminterpretieren lässt, und basteln sich daraus ihre Anklagen.
Das klingt nach Schikane und Lust am Drangsalieren. Aber warum wollen deutsche Beamte Sie zum Schweigen bringen – was vermuten Sie?
Ich habe schon einige gebeten, mir zu erklären, was sie antreibt, Juden zu überwachen und zu maßregeln. Sie behaupten dann immer, sie seien gezwungen, würden unter Druck stehen. Ich frage dann regelmäßig, ob bei ihnen auch die SA vor der Tür stehe, wie damals bei den Nachbarn, die meinen Großvater versteckt hatten. Sie führen daraufhin stets die deutsche Geschichte an, die besondere Verantwortung gegenüber Israel und dem jüdischen Volk – als sei ich nicht Teil davon, weil ich mir erlaube, die Politik meines Landes kritisch zu bewerten. Im persönlichen Gespräch wollen sie von mir immer Verständnis haben für ihre schwierige Lage. Noch nie haben Behördenmenschen gewagt, mir direkt zu sagen, ich würde Antisemitismus verbreiten. Aber sie winden sich und zeigen selten Zivilcourage, indem sie beispielsweise ihrem Vorgesetzten klar machen: »Das kann ich aus Gewissensgründen nicht machen«. Manchmal denke ich, sie fühlen sich besser, wenn sie mich, eine jüdische Kritikerin der israelischen Besatzungspolitik, gängeln, weil sie hoffen, sich dadurch von ihrer vermeintlich vererbten Nazischuld freimachen zu können. Sie begreifen leider nicht, dass das zwei paar Stiefel sind. Die deutsche Vergangenheit ist offenbar noch nicht aufgearbeitet, wenn sie so weit gehen wie in meinem Fall.
Hat überhaupt schon einmal einer dieser Staatsdiener mit Ihnen über Naziverbrechen gesprochen?
Nein. Ich bekomme immer nur Standardsätze zu hören, wie »Die deutsche Geschichte verpflichtet uns, an der Seite Israels zu stehen«, oder »Wir Deutschen können aufgrund unserer Geschichte nicht das sagen, was Sie sagen«. Aber das wirklich Perfide ist: Diese Leute greifen mich so geschickt an, dass niemand persönlich dafür geradestehen muss. In keinem ihrer Schreiben lese ich konkret: »Nirit Sommerfeld äußert sich antisemitisch«.
Die aggressiven Vorwürfe des Antisemitismus und des jüdischen Selbsthasses, die in Israel nahezu ausschließlich von fanatischen Nationalreligiösen und anderen Nationalisten gegen jüdische Linke erhoben werden – erleben Sie die in Deutschland nur von sogenannten Antifaschisten? Oder auch aus Kreisen, die eindeutig als rechts zu identifizieren sind?
Jüdischer Selbsthass wird mir nur indirekt vorgeworfen. Hetze hat es allerdings schon immer gegeben; durch die neuen Medien wird das nur besser sichtbar als früher. Aber über das dumme Gewäsch rege ich mich gar nicht so auf. Was ich schlimmer finde, ist, dass dieser Unsinn überhaupt irgendwo Anklang findet und die Frage danach, was rechts und was links ist, plötzlich gestellt werden muss. Denn Menschen, die den jüdischen Kritikern der israelischen Besatzung Selbsthass und Antisemitismus unterstellen, können keine Linken sein. Diese Leute sollten sich einmal die harten Fakten vor Ort in Israel und Palästina anschauen.
Die Völkerrechtsbrüche und Menschenrechtsverletzungen in Israel und Palästina sind hierzulande hinlänglich bekannt. Dennoch unterstützen auch das Establishment der Jüdischen Gemeinden und konservative jüdische Organisationen wie die »Werteinitiative« die Netanjahu-Regierung (das Interview wurde Anfang Oktober geführt, jW) nahezu bedingungslos. Welche Rolle spielen diese Kräfte in den Stigmatisierungskampagnen gegen kritische humanistische Juden?
Sie spielen die größte Rolle neben den Beamten des israelischen Propagandaapparates, die hier in der Bundesrepublik stationiert sind, um Kritiker mundtot zu machen. Ich halte ihnen zugute, dass sie vermutlich wirklich daran glauben, dass »es« jederzeit wieder passieren kann, also Juden eines Tages wieder systematisch verfolgt und ermordet werden. Was ich ihnen übelnehme, ist, dass die meisten von ihnen keine Ahnung haben, was in Israel und Palästina wirklich los ist und an ihrer eigenen Position ideologisch festhalten, anstatt sie anhand der Tatsachen zu überprüfen. Das würde natürlich erfordern, sich aus der scheinbar gefährdeten Komfortzone hinauszubewegen, in der alle Nichtjuden als potentielle Feinde betrachtet werden.
Erfahren Sie Solidarität von nichtjüdischen Deutschen gegen die ständigen Angriffe?
O ja, ich habe Kollegen, die keinen Zweifel aufkommen lassen, dass sie mit mir auf die Bühne gehen wollen. Konstantin Wecker hat sich schon öffentlich für mich eingesetzt. Es gibt auch Veranstalter, die den Ärger nicht scheuen, wie etwa Thomas Vogler in München, der sofort nach dem ersten Auftrittsverbot, das gegen mich verhängt wurde, seine Jazzbar als Veranstaltungsort unseres Benefizkonzerts für Gaza zur Verfügung gestellt hat. Schließlich können wir ja auch Säle füllen, vor allem können wir Menschen für eine Sichtweise begeistern, die das Besatzungsproblem benennt und gleichzeitig konstruktiv nach einem Miteinander in Würde und Respekt sucht.
Und wie sieht es mit Unterstützung aus der Politik aus, etwa aus der Partei Die Linke?
Kein namhafter deutscher Politiker hat sich jemals auf meine Seite gestellt.
Nirit Sommerfeld ist Schauspielerin, Sängerin und Gründungsmitglied des »Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern«. Sie ist solidarisch mit dem Aufruf von 240 jüdischen und israelischen Wissenschaftlern an die Bundesregierung vom 3. Juni 2019: »Setzen Sie ›BDS‹ nicht mit Antisemitismus gleich«.