Warum sich der globale Süden im Ukraine-Krieg nicht an Sanktionen beteiligt
Blockfreiheit
Die meisten Staaten haben Russlands Invasion der Ukraine verurteilt. Gleichzeitig beteiligen sich Indien, Mexiko, Pakistan und viele andere Länder nicht an den Wirtschaftssanktionen. Erleben wir das Revival einer alten Bewegung?
Am 2. März, als die Zahl der ukrainischen Geflüchteten vor dem brutalen Einmarsch Russlands eine Million erreichte, berief der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine dringende Sitzung der Generalversammlung ein. 193 Staaten diskutierten eine Resolution zu Russlands „Aggression gegen die Ukraine“ und verabschiedeten sie mit der überwältigenden Mehrheit von 141 Stimmen bei nur fünf Gegenstimmen und 35 Enthaltungen. Selbst einige der engsten Verbündeten Russlands auf dem Kontinent – Serbien oder Ungarn – stimmten für die Verurteilung der Invasion. „Die Botschaft der Generalversammlung ist laut und deutlich“, erklärte der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres.
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Aber was genau ist die Botschaft? In den vergangenen Tagen verwiesen viele Kommentatoren auf eine globale Karte der UN-Resolution, um die Einheit des Westens und der Welt zu zeigen, die es mit der Regierung Putin aufnimmt.
Um aber die geopolitischen Konsequenzen der russischen Invasion zu verstehen, müssen wir über das diplomatische Theater der Generalversammlung hinausblicken und uns ansehen, wie die Staaten sich in dieser Phase der schnellen Eskalation tatsächlich zu dem Krieg verhalten. Dafür muss man zuerst eine ganz Weltkarte der anderen Art betrachten: die Karte der weltweiten Beteiligung an den Sanktionen der USA und ihrer Verbündeter gegen Russland.
Der Kontrast zwischen beiden Karten ist frappierend. Die USA, Großbritannien, Kanada, Südkorea, die Schweiz, Japan, Australien, Neuseeland, Taiwan, Singapur, die EU – jenseits dieses gefestigten Bündnisses haben sich nur wenige Nationen entschlossen, sich am Wirtschaftskrieg gegen Putins Regierung zu beteiligen. Viele der größten Staaten der Welt – darunter China, Indien, Brasilien, Bangladesch, Pakistan, Indonesien und selbst der Nato-Bündnispartner Türkei – lehnen eine Beteiligung ab. „Wir werden nicht blind den Schritten eines anderen Landes folgen“, erklärte der Vertreter des indonesischen Außenministeriums kürzlich auf einer Pressekonferenz.
Keine Sanktionen in Lateinamerika
Genauso standfest bleibt auch Lateinamerika bisher bei seiner neutralen Haltung. „Wir sind nicht der Ansicht, dass dieser Krieg uns betrifft“, erklärte der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador Anfang März. „Wir werden keine Wirtschaftssanktionen verhängen, denn wir wollen gute Beziehungen zu allen Regierungen.“
Auch Argentinien stimmte bei den Vereinten Nationen für die Verurteilung der russischen Handlungen. Gleichzeitig betonte Außenminister Santiago Cafiero nachdrücklich, sein Land werde sich nicht an den neuen Sanktionen beteiligen: „Argentinien ist nicht der Ansicht, dass sie einen Mechanismus darstellen, um Frieden und Harmonie oder die Möglichkeit für einen Dialog zu schaffen, der dazu dient, Leben zu retten.”
Aus Afrika sind ähnliche Töne wie aus Lateinamerika zu vernehmen. „Fünf Jahrhunderte lang waren wir Pfande in den Händen kriegsführender europäischer Staaten, deren Ziel es war, Afrikas menschliche und natürliche Ressourcen zu plündern“, sagt Pierre Sané, Präsident des Imagine Africa Institute und früherer Generalsekretär von Amnesty International. Laut Sané würden durch die Botschaft in der Ukraine „freiwillige“ Söldner aus Ländern wie dem Senegal und der Elfenbeinküste rekrutiert, um im Krieg zu kämpfen. „Sollte dieser Krieg in der Ukraine eskalieren, sagen wir laut und deutlich: Bringt diesen Krieg nicht in unsere Länder.“
Der wahre Riss verläuft nicht zwischen links und rechts
Während des brutalen Voranschreitens der russischen Armee in der Ukraine kam es zu einer Welle von Briefen, Artikeln und Twitter-Kommentaren, die die „westliche Linke“ kritisierten, die offenbar nicht bereit sei, sich mit der Putin-Regierung anzulegen. Die Invasion der Ukraine wurde als „Test“ dargestellt, um jene „Pseudo-Linken“ auszubooten, die es nicht schafften, mit starker Hand zu handeln und dem Westen zu helfen, Putin zu isolieren, zu untergraben und letztlich zu stürzen, um die Sache der Ukraine zu verteidigen.
Aber die Karte der Sanktionen legt nahe, dass sich der wahre Graben nicht zwischen links und rechts auftut, nicht einmal zwischen Ost und West. Im Gegenteil lässt die Karte einen Riss zwischen den sogenannten Industrieländern und den sogenannten Entwicklungsländer erkennen. Und durch die Aufdeckung dieser tektonischen Verschiebung kann uns die Karte etwas Wichtiges über die Geopolitik im kommenden Zeitalter der Multipolarität sagen.
Der schnelle Aufstieg Chinas und die Reaktion der USA darauf haben viele Kommentatoren einen kommenden kalten Krieg vorhersagen lassen. Wenige dagegen erwarteten, dass der russische Präsident Wladimir Putin ihn so plötzlich anzetteln würde. „Putins Invasion der Ukraine hat Amerikas 30-jährige Ferien von der Geschichte ein Ende bereitet“, schreibt der frühere CIA-Direktor Robert Gates in der Washington Post. Die schnelle Verdrängung russischer Vertreter und der russischen Kultur aus den Institutionen des Westens deutet darauf hin, dass der lange Dornröschenschlaf des Kalten Krieges in der Tat vorbei sein könnte: „Putins Krieg ist die kalte Dusche, die nötig war, um demokratische Regierungen auf die Realität einer neuen Welt zu hinzuweisen“, so Gates weiter.
Die gute Nachricht für Gates ist, dass die US-Regierung um Joe Biden bereits die Basis für ihren Kalten Krieg gefunden hat. Ihr Aushängeveranstaltung, ein „Gipfel für Demokratie“, wil die „die Nationen der freien Welt“ vereinen – eine bemerkenswerte Hommage an die Ära der Anti-Sowjet-Mobilisierung –, Autokratien wie Russland und China dagegen isolieren. Dabei werden die üblichen Ausnahmen gemacht: Saudi-Arabiens Öl etwa garantiert dem Land einen Freifahrtschein in die „freie Welt“. Erst kürzlich entsandte die Regierung Biden eine Delegation, um die Unterstützung des Königreichs dafür zu sichern, dass das Öl während der Kriegsanstrengungen in der Ukraine weiter fließt.
Eine Welt mit neuen Polen
In einer Ära der Unipolarität – den langen 30-jährigen Ferien nach dem Kollaps der Sowjetunion, (wie Gates es nennt, d.Ü.) – blieb den Staaten weltweit nicht viel Wahlmöglichkeit: entweder sie stellten sich auf die Seite der USA oder standen allein da. Einige Länder versuchten, sich in kollektiven Akten des Widerstands gegen die Hegemonialmacht zusammenzuschließen. Aber die Folgen waren unvermeidlich: Invasionen, Staatsstreiche und weitreichende Sanktionen, um ihre Wirtschaften vom Rest der Welt zu isolieren.
Aber neue Kräfte schaffen neue Pole. Daher beschränken sich die Optionen der Nachbarstaaten der USA heute nicht mehr auf Zustimmung oder Widerstand. Eine dritte Option tut sich auf: Neutralität. „Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit“, erklärt Pierre Sané. „Neutralität bedeutet, immer wieder einzufordern, dass internationale Gesetze respektiert werden; Neutralität bedeutet, dass unsere Herzen weiter für die Opfer militärischer Invasionen und willkürlicher Sanktionen schlagen, die niemals gegenüber Nato-Staaten verhängt werden.“
Während des ersten kalte Krieges hatte Neutralität einen Namen: Blockfreiheit. Als die USA über dem Himmel von Korea mit China und der Sowjetunion aneinander gerieten, weigerten sich der damalige indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru and der jugoslawische Staatschef Josip Broz Tito, Partei zu ergreifen. „Die jugoslawische Bevölkerung kann das Postulat nicht akzeptieren, die Menschheit habe heute nur eine Wahl – die Wahl zwischen der Vorherrschaft des einen oder des anderen Blocks”, erklärte der jugoslawische Außenminister Edvard Kardelj 1950 vor den Vereinten Nationen. „Wir glauben, dass es einen anderen Weg gibt.” Fünf Jahre später wurde die Bewegung der blockfreien Staaten gegründet, in der mehr als 100 Länder sich Prinzipien wie Nicht-Einmischung und friedlicher Koexistenz verpflichteten.
Eine neue Blockfreiheit?
Heute sind die Staaten weltweit wieder aufgerufen, sich zu entscheiden – zwischen Russland und dem Westen und sehr bald schon zwischen dem Westen und China. Aber wie die Karte der Sanktionen beweist, könnte der Normenkonflikt zwischen den Großmächten wieder eine Bewegung für Blockfreiheit auslösen, die eine universellere Anwendung des Völkerrechts fordert – gegen das Verlangen nach einseitigen Ausnahmen.
Diese neutrale Position wird ohne Zweifel Folgen haben. Im ersten Kalten Krieg waren die blockfreien Staaten häufig Opfer von Aggression, Invasion und Wirtschaftsembargos. Dieselben Risiken hat Neutralität heute. Litauen sagte kürzlich eine Lieferung von Corona-Impfstoffen nach Bangladesch ab, weil das Land Russland bei der UN-Generalversammlung nicht verurteilt hatte. Die USA haben ihrerseits mit dem Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (Caatsa) bereits ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, Länder mit Sanktionen zu bestrafen, wenn sie mit einer gegnerischen Seite Handel treiben.
Doch während sich die großen Mächte auf ein neues Jahrhundert des Krieges vorbereiten, wird der Ruf nach Blockfreiheit nur noch lauter werden. Unsere Aufgabe ist, diese Forderung heute zu verstehen wie Tito und Nehru damals: nicht als „Neutralismus“ oder „Passivität, wie manchmal behauptet“. Wie sie in einer gemeinsamen Erklärung 1954 schrieben: „Sie repräsentiert die positive, aktive und konstruktive Politik, deren Ziel kollektiver Frieden als Grundlage kollektiver Sicherheit ist.“
David Adler ist politischer Ökonom und Generalkoordinator der Progressiven Internationalen
Geschrieben von David Adler | The Guardian
Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian www.theguardian.com
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