Artikel in dieser Ausgabe
- Editorial
- «Die Politik der USA war es immer, zu verhindern, dass Deutschland und Russland enger zusammenarbeiten»
- «Die beste Lösung für die Ukrainer wäre, sich unilateral als neutral zu erklären»
- «Wann wurde jemals ein Krieg durch Sanktionen beendet?»
- «Die Neutralität ist ein Friedenskonzept»
- Die Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich.
- «Kriegslogik durch Friedenslogik ersetzen»
- Syrien: «Das Land wird regelrecht ausgeplündert»
- Mit Vernunft Chaos und Krisen Grenzen setzen
Editorial
Seit dem 24. 2. führt Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine. Die westlichen Medien und mit ihnen die politischen Amtsträger sind sich einig: Russland ist der alleinige Aggressor und die Ukraine das Opfer, dem mit allen Mitteln, auch militärischen (Waffen und Freiwilligen) geholfen werden muss. Eine andere Betrachtung ist kaum zulässig. Es herrscht Krieg, von Frieden sprechen nur wenige. Etwas ist äusserst ungewöhnlich: Bei allen völkerrechtswidrigen Kriegen, die die USA in Serbien, im Irak, in Libyen etc. vom Zaun gebrochen hatten, gab es nicht annähernd solche Reaktionen, wie wir sie im Fall von Russland jetzt tagtäglich erleben. Man nahm die Kriege meist billigend zur Kenntnis oder gewisse Staaten beteiligten sich sogar daran – Völkerrechtsbruch: kein Thema.
Ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit wurde der russische Präsident Wladimir Putin gerückt. Ihm wird alles angelastet, was in und um die Ukraine geschieht. Eine differenzierte Analyse, die nicht von dem banalen Schema «Westen und Ukraine gut – Russland und Putin böse» geprägt ist, lässt sich nur schwer finden. Kaum jemand denkt über die Ursachen dieses Konflikts nach, die nicht erst im Einmarsch der Russen in die Ukraine zu suchen sind, genauso wenig wie der Mord von Sarajewo die Ursache des Ersten Weltkriegs war.
Wer dem westlichen Narrativ nicht blind folgt und auch einen Blick auf die Vorgeschichte wirft, wird zur Raison gebracht. Er ist bestenfalls ein «Putin-Versteher», im schlimmsten Fall ein «Verschwörungstheoretiker», dem man keinen Glauben schenken muss. Im Ersten Weltkrieg waren es die «Vaterlandsverräter», die aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden, wenn sie sich kritisch zur Kriegsstimmung äusserten. Mit dem denkwürdigen Satz des deutschen Kaisers vor dem Reichstag: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!» wurde der letzte Pazifist zum strammen Vaterlandsverteidiger in einem Krieg, der am Ende Leichenberge zurückliess für nichts und wieder nichts.
In dieser aufgeheizten Stimmung, in der der US-Senator Lindsey Graham quasi zum Attentat auf Putin aufgerufen hat, sind wir nicht mehr weit entfernt davon, in einem Flächenbrand zu enden, wie ihn 1914 auch niemand erwartet hat. Es ist dringend geboten, die jüngste Geschichte des Konflikts zu kennen, um ein differenziertes Bild von den Vorgängen zu bekommen, die letztlich zum Krieg gegen die Ukraine geführt haben.
In dieser aktuellen Ausgabe bildet die Ukrainekrise einen Schwerpunkt. Das Kennen historischer, wirtschaftlicher und politischer Zusammenhänge soll einen Beitrag zu mehr Vorsicht und Vernunft und letztlich zum Frieden leisten. Der Krieg muss enden und die Diplomatie wieder an dessen Stelle rücken, das ist das Gebot der Stunde.
Die Redaktion
PDF-Datei: Zeitgeschehen im Fokus vom 15. März 2022 | Nr.4/5^
«Die Politik der USA war es immer, zu verhindern, dass Deutschland und Russland enger zusammenarbeiten»
Historische, politische und wirtschaftliche Hintergründe des Ukraine-Kriegs
Interview mit Jacques Baud*
*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges (UNHCR-Zaire/Kongo, 1995-1996). Er arbeitete für das DPKO (Departement of Peacekeeping Operations) der Vereinten Nationen in New York (1997-99), gründete das Internationale Zentrum für Humanitäre Minenräumung in Genf (CIGHD) und das Informationsmanagementsystem für Minenräumung (IMSMA). Er trug zur Einführung des Konzepts der nachrichtendienstlichen Aufklärung in Uno-Friedenseinsätzen bei und leitete das erste integrierte UN Joint Mission Analysis Centre (JMAC) im Sudan (2005-06). Er war Leiter der Abteilung «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York (2009-11) und der Uno-Expertengruppe für die Reform des Sicherheitssektors und die Rechtsstaatlichkeit, arbeitete in der Nato und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.
Zeitgeschehen im Fokus Herr Baud, Sie kennen die Region, in der im Moment Krieg herrscht. Welche Schlüsse haben Sie aus den letzten Tagen gezogen, und wie konnte es so weit kommen?
Jacques Baud Ich kenne die Region, um die es jetzt geht, sehr gut. Ich war beim EDA [Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten] und in dessen Auftrag fünf Jahre abkommandiert zur Nato im Kampf gegen die Proliferation von Kleinwaffen. Ich habe Projekte in der Ukraine nach 2014 betreut. Das heisst, ich kenne Russland auf Grund meiner ehemaligen nachrichtendienstlichen Tätigkeit, die Nato, die Ukraine und das dazugehörige Umfeld sehr gut. Ich spreche russisch und habe Zugang zu Dokumenten, die nur wenige Menschen im Westen anschauen.
Sie sind ein Kenner der Situation in und um die Ukraine. Ihre berufliche Tätigkeit brachte Sie in die aktuelle Krisenregion. Wie nehmen Sie das Geschehen wahr?
Es ist verrückt, man kann sagen, es herrscht eine regelrechte Hysterie. Was mir auffällt und was mich sehr stört, ist, dass niemand die Frage stellt, warum die Russen einmarschiert sind. Niemand wird einen Krieg befürworten, ich sicher auch nicht. Aber als ehemaliger Chef der «Friedenspolitik und Doktrin» des Uno-Departements für friedenserhaltende Operationen in New York während zwei Jahren stelle ich mir immer die Frage: Wie ist man zu diesem Punkt gekommen, Krieg zu führen?
Was war Ihre Aufgabe dort?
Es ging darum zu erforschen, wie es zu Kriegen kommt, welche Elemente zu Frieden führen, und was man tun kann, um Opfer zu vermeiden bzw. wie man einen Krieg verhindern kann. Wenn man nicht versteht, wie ein Krieg entsteht, dann kann man keine Lösung finden. Wir sind genau in dieser Situation. Jedes Land erlässt seine eigenen Sanktionen gegen Russland, und man weiss genau, das führt nirgends hin. Was mich dabei besonders schockiert hat, ist die Äusserung des Wirtschaftsministers in Frankreich, man wolle die Wirtschaft Russlands zerstören mit dem Ziel, die russische Bevölkerung leiden zu lassen. Das ist eine Aussage, die mich äusserst empört.
Russlands Ziel der Entmilitarisierung und Entnazifizierung
Wie beurteilen Sie den Angriff der Russen?
Wenn ein Staat einen anderen angreift, dann ist das gegen das Völkerrecht. Aber man sollte auch die Hintergründe dafür ins Auge fassen. Zunächst muss klargestellt werden, dass Putin weder verrückt ist noch die Realität verloren hat. Er ist ein Mensch, der sehr methodisch, systematisch, also sehr russisch ist. Ich bin der Meinung, dass er sich der Konsequenzen seines Handelns in der Ukraine bewusst ist. Er hat – offensichtlich zu Recht – beurteilt, dass egal, ob er eine «kleine» Operation zum Schutz der Donbas-Bevölkerung oder eine «massive» Operation zugunsten der nationalen Interessen Russlands und der Donbas-Bevölkerung durchführte, die Konsequenzen gleich sein würden. Er ist dann auf die Maximallösung gegangen.
Worin sehen Sie das Ziel?
Es ist sicher nicht gegen die ukrainische Bevölkerung gerichtet. Das wurde von Putin immer wieder gesagt. Man sieht es auch an den Fakten. Russland liefert immer noch Gas in die Ukraine. Die Russen haben das nicht gestoppt. Sie haben das Internet nicht abgestellt. Sie haben die Elektrizitätswerke und die Wasserversorgung nicht zerstört. Natürlich gibt es gewisse Gebiete, in denen gekämpft wird. Aber man sieht einen ganz anderen Ansatz als bei den Amerikanern z. B. in Ex-Jugoslawien, im Irak oder auch in Libyen. Als westliche Länder diese angriffen, zerstörten sie zuerst die Strom- und Wasserversorgung und die gesamte Infrastruktur.
Warum geht der Westen so vor?
Das Vorgehen der westlichen Länder – es ist auch interessant, das von der Einsatzdoktrin her zu sehen – wird genährt von der Idee, dass es, wenn man die Infrastruktur zerstört, von der Bevölkerung einen Aufstand gegen den missliebigen Diktator geben wird und man ihn so los wird. Das war auch die Strategie während des Zweiten Weltkriegs, als man die deutschen Städte bombardiert hat wie Köln, Berlin, Hamburg, Dresden etc. Man hat direkt auf die Zivilbevölkerung gezielt, damit es zu einem Aufstand kommt. Die Regierung verliert durch einen Aufstand ihre Macht, und man hat den Krieg gewonnen, ohne eigene Truppen zu gefährden. Das ist die Theorie.
Wie ist das Vorgehen der Russen?
Das ist völlig anders. Sie haben ihr Ziel klar bekannt gegeben. Sie wollen eine «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung». Wenn man die Berichterstattung ehrlich verfolgt, ist es genau das, was sie machen. Natürlich, ein Krieg ist ein Krieg, und bedauerlicherweise gibt es dabei immer Tote, aber es ist interessant zu sehen, was die Zahlen sagen. Am Freitag (4.3.) zog die Uno eine Bilanz. Sie berichtete von 265 getöteten ukrainischen Zivilisten. Am Abend hat das russische Verteidigungsministerium die Anzahl der toten Soldaten mit 498 angegeben. Das heisst, es gibt mehr Opfer beim russischen Militär als unter den Zivilisten auf der ukrainischen Seite. Wenn man das jetzt mit Irak oder Libyen vergleicht, dann ist es bei der westlichen Kriegsführung genau umgekehrt.
Das widerspricht der Darstellung im Westen?
Ja, in unseren Medien wird es so dargestellt, dass die Russen alles zerstören würden, aber das stimmt offensichtlich nicht. Auch stört mich die Darstellung in unseren Medien über Putin, dass er plötzlich entschieden habe, die Ukraine anzugreifen und zu erobern. Die USA haben über mehrere Monate gewarnt, es werde einen Überraschungsangriff geben, aber es geschah nichts. Übrigens, Nachrichtendienste und die ukrainische Führung haben mehrmals die amerikanischen Aussagen dementiert. Wenn man die militärischen Meldungen anschaut und die Vorbereitungen, dann sieht man ziemlich klar: Putin hatte bis Mitte Februar keine Absicht, die Ukraine anzugreifen.
Warum hat sich das geändert? Was ist geschehen?
Dazu muss man ein paar Dinge wissen, sonst versteht man das nicht. Am 24. März 2021 hat der ukrainische Präsident Selenskyj ein Dekret erlassen, dass er die Zurückeroberung der Krim beabsichtigt. Daraufhin begann er, die ukrainische Armee nach Süden und Südosten zu verschieben, in Richtung Donbas. Seit einem Jahr also hat man einen ständigen Aufbau der Armee an der südlichen Grenze der Ukraine. Das erklärt, warum Ende Februar keine ukrainischen Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze waren. Selenskyj hat immer den Standpunkt vertreten, dass die Russen die Ukraine nicht angreifen werden. Auch der ukrainische Verteidigungsminister hat das immer wieder bestätigt. Ebenso bestätigte der Chef des ukrainischen Sicherheitsrats im Dezember und im Januar, dass es keine Anzeichen für einen russischen Angriff auf die Ukraine gebe.
War das ein Trick?
Nein, sie sagten das mehrmals, und ich bin sicher, dass Putin, der das übrigens auch wiederholt sagte, nicht angreifen wollte. Offenbar gab es Druck aus den USA.
Die USA haben an der Ukraine selbst wenig Interesse. Zum jetzigen Zeitpunkt wollten sie den Druck auf Deutschland erhöhen, North-Stream II abzustellen. Sie wollten, dass die Ukraine Russland provoziert und dass, wenn Russland darauf reagiert, North-Stream II auf Eis gelegt wird. Ein solches Szenario wurde anlässlich des Besuches von Olaf Scholz in Washington angetönt, und Scholz wollte klar nicht mitmachen. Das ist nicht nur meine Meinung, es gibt auch Amerikaner, die das so sehen: Das Ziel ist North-Stream II. Dabei darf man nicht vergessen, dass North-Stream II auf Anfrage der Deutschen gebaut worden ist. Es ist grundsätzlich ein deutsches Projekt. Denn Deutschland braucht mehr Gas, um seine Energie- und Klimaziele zu erreichen.
In einem Nuklear-Krieg wäre Europa das Schlachtfeld
Warum haben die USA darauf gedrängt?
Seit dem Zweiten Weltkrieg war es immer die Politik der USA, zu verhindern, dass Deutschland und Russland bzw. die UdSSR enger zusammenarbeiten. Das, obwohl die Deutschen eine historische Angst vor den Russen haben. Aber das sind die beiden grössten Mächte Europas. Historisch gesehen gab es immer wirtschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Das haben die USA immer versucht zu verhindern. Man darf nicht vergessen, dass in einem Nuklear-Krieg Europa das Schlachtfeld wäre. Das heisst, dass in so einem Fall die Interessen Europas und der Vereinigten Staaten nicht unbedingt dieselben wären. Das erklärt, warum in den 1980er Jahren die Sowjetunion pazifistische Bewegungen in Deutschland unterstützt hat. Eine engere Beziehung zwischen Deutschland und Russland würde die amerikanische Nuklearstrategie nutzlos machen.
Die USA haben immer die Energieabhängigkeit kritisiert?
Es ist eine Ironie, dass die USA die Energieabhängigkeit Deutschlands bzw. Europas von Russland kritisieren. Russland ist der zweitgrösste Öllieferant an die USA. Die USA kaufen ihr Öl hauptsächlich von Kanada, dann von Russland, gefolgt von Mexiko und Saudi-Arabien. Das heisst, die USA sind abhängig von Russland. Das gilt zum Beispiel auch für Raketenmotoren. Das stört die USA nicht. Aber es stört die USA, dass die Europäer von Russland abhängig sind.
Während des Kalten Krieges hat Russland, also die Sowjetunion, immer alle Gas-Verträge eingehalten. Die russische Denkweise ist diesbezüglich sehr ähnlich wie die schweizerische. Russland befolgt die Gesetze, es fühlt sich an die Regeln gebunden wie die Schweiz. Man ist zwar emotional, aber die Regeln gelten, und man setzt diese Regeln durch. Während des Kalten Krieges hat die Sowjetunion nie eine Verbindung zwischen Wirtschaft und Politik gemacht. Die Auseinandersetzung in der Ukraine ist eine rein politische Auseinandersetzung.
Die Theorie Brzezińskis, dass die Ukraine der Schlüssel zur Beherrschung Asiens sei, spielt hier auch eine Rolle?
Brzeziński war sicher ein grosser Denker und beeinflusst das strategische Denken der USA nach wie vor. Aber dieser Aspekt ist meiner Ansicht nach nicht so zentral in dieser Krise. Die Ukraine ist sicher wichtig. Aber die Frage, wer die Ukraine beherrscht oder kontrolliert, steht nicht im Zentrum. Die Russen verfolgen nicht das Ziel der Kontrolle der Ukraine. Das Problem für Russland mit der Ukraine ist wie auch für andere Länder ein militärstrategisches.
Was heisst das?
In der ganzen Diskussion, die im Moment überall geführt wird, wird Entscheidendes ausser Acht gelassen. Gewiss, man redet von Nuklearwaffen, aber etwa so wie in einem Film. Die Realität ist etwas anders. Die Russen wollen einen Abstand zwischen Nato und Russland. Das Kernelement der Nato ist die US-amerikanische Nuklearmacht. Das ist die Essenz der Nato. Als ich bei der Nato gearbeitet habe, hat Jens Stoltenberg – er war bereits mein Chef – immer gesagt: «Die Nato ist eine Nuklearmacht». Heute, wenn die USA in Polen und Rumänien Raketensysteme stationieren, dann sind das die sogenannten MK-41 Systeme.
Sind das Defensivwaffen?
Die USA sagen natürlich, sie seien rein defensiv. Man kann tatsächlich Defensivraketen von diesen Abschussrampen loslassen. Aber man kann mit dem gleichen System auch Nuklearraketen verwenden. Diese Rampen sind ein paar Minuten von Moskau entfernt. Wenn in einer Situation der erhöhten Spannung in Europa etwas passiert und die Russen aufgrund von Satellitenbildern merken, dass es bei den Abschussrampen Aktivitäten gibt und irgendetwas vorbereitet wird, werden sie dann abwarten, bis möglicherweise Atomraketen Richtung Moskau abgeschossen werden?
Wohl kaum…
…natürlich nicht. Sie würden sofort einen Präventivangriff starten. Die ganze Zuspitzung entstand, nachdem die USA aus dem ABM-Vertrag ausgetreten waren [Vertrag zur Begrenzung von Systemen zur Abwehr von ballistischen Raketen]. Unter der Gültigkeit des ABM-Vertrags hätten sie ein solches System nicht in Europa stationieren können. Wenn es um eine Auseinandersetzung geht, braucht man immer eine gewisse Reaktionszeit. Nur schon, weil Fehler passieren könnten.
So etwas haben wir während des Kalten Krieges auch gehabt. Je grösser die Distanz zu den Stationierungsorten ist, um so mehr Zeit hat man, um zu reagieren. Wenn die Raketen zu nahe am russischen Territorium stationiert sind, gibt es bei einem Angriff keine Zeit mehr, darauf zu reagieren und man läuft viel schneller Gefahr, in einen Atomkrieg zu geraten. Das betrifft alle Länder rundherum. Die Russen haben das natürlich realisiert, und auf Grund dessen den Warschauer Pakt gegründet.
Die Bedeutung der Nuklear-Waffen wird grösser
Zuerst war doch die Nato da…
Die Nato wurde 1949 gegründet und erst sechs Jahre später der Warschauer Pakt. Der Grund dafür war die Wiederbewaffnung der BRD und ihre Aufnahme in die Nato 1955. Wenn man die Karte von 1949 anschaut, dann sieht man einen sehr grossen Abstand zwischen der Nuklearmacht Nato und der UdSSR. Als die Nato durch den Beitritt Deutschlands weiter Richtung russische Grenze vorrückte, gründete Russland den Warschauer Pakt. Die osteuropäischen Staaten waren bereits alle kommunistisch, und die KP war in allen Ländern sehr stark. Fast schlimmer als in der UdSSR. Die UdSSR wollte einen Sicherheitsgürtel um sich herumhaben, deshalb kreierte sie den Warschauer Pakt. Sie wollte ein Vorfeld sicherstellen, um möglichst lang einen konventionellen Krieg führen zu können. Das war die Idee: so lange wie möglich im konventionellen Bereich zu bleiben und nicht unmittelbar in den nuklearen zu geraten.
Ist das heute auch noch so?
Nach dem Kalten Krieg hat man die Nuklearrüstung etwas vergessen. Sicherheit war nicht mehr eine Frage der Nuklearwaffen. Der Irak-Krieg, der Afghanistan-Krieg waren Kriege mit konventionellen Waffen, und die nukleare Dimension geriet etwas aus dem Blickfeld. Aber die Russen haben das nicht vergessen. Sie denken sehr strategisch. Ich besuchte seinerzeit in Moskau in der Woroschilowsk-Akademie den Generalstab. Dort konnte man sehen, wie die Menschen denken. Sie überlegen strategisch, so wie man in Kriegszeiten denken sollte.
Kann man das heute erkennen?
Das sieht man heute sehr genau. Putins Leute denken strategisch. Es gibt ein strategisches Denken, ein operatives und ein taktisches Denken. Die westlichen Länder, das hat man in Afghanistan oder im Irak gesehen, haben keine Strategie. Das ist genau das Problem, das die Franzosen in Mali haben. Mali hat hat nun verlangt, dass sie das Land verlassen, denn die Franzosen töten Menschen ohne Strategie und ohne Ziel. Bei den Russen ist das ganz anders, sie denken strategisch. Sie haben ein Ziel. So ist es auch bei Putin.
In unseren Medien wird immer wieder berichtet, dass Putin Atomwaffen ins Spiel gebracht habe. Haben Sie das auch gehört?
Ja, Wladimir Putin hat am 27. Februar seine Nuklearkräfte in den Alarmzustand Stufe 1 gesetzt. Das ist aber nur die Hälfte der Geschichte. Am 11./12. Februar fand die Sicherheitskonferenz in München statt. Selenskyj war dort. Er äusserte, dass er Nuklearwaffen beschaffen möchte. Das wurde als eine potenzielle Bedrohung interpretiert. Im Kreml ging natürlich die rote Lampe an. Um das zu verstehen, muss man das Abkommen von Budapest 1994 im Hinterkopf haben. Dabei ging es darum, die Atomraketen in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu vernichten und nur Russland als Atommacht bestehen zu lassen. Auch die Ukraine übergab die Atomwaffen an Russland, und Russland sicherte als Gegenleistung die Unverletzlichkeit der Grenzen zu. Als die Krim zurück an Russland ging, 2014, sagte die Ukraine, sie würde sich auch nicht mehr an das Abkommen von 1994 halten.
Zurück zu den Atomwaffen. Was hat Putin wirklich gesagt?
Falls Selenskyj Nuklearwaffen zurückhaben wollte, wäre das für Putin sicher ein inakzeptabler Weg. Wenn man direkt an der Grenze Nuklearwaffen hat, dann gibt es nur sehr wenig Vorwarnungszeit. Nach dem Besuch von Macron gab es eine Pressekonferenz, und Putin sagte dort unmissverständlich, dass wenn der Abstand zwischen der Nato und Russland zu gering sei, dies ungewollt zu Komplikationen führen könne. Aber das entscheidende Element lag am Anfang des Krieges gegen die Ukraine, als der französische Aussenminister Putin drohte, indem er betonte, dass die Nato eine Nuklearmacht sei. Darauf reagierte Putin und versetzte seine Atomstreitkräfte in eine erste Alarmbereitschaft. Die Presse erwähnte das natürlich nicht. Putin ist ein Realist, er ist bodenständig und zielgerichtet.
Was hat Putin veranlasst, jetzt militärisch einzugreifen?
Am 24. März 2021 hat Selenskyj das Dekret erlassen, das besagt, dass er die Krim zurückerobern werde. Er hat Vorbereitungen dazu getroffen. Ob das seine Absicht war oder nur ein politisches Manöver, das weiss man nicht. Was man aber gesehen hat, ist, dass er die ukrainische Armee im Donbas-Gebiet massiv verstärkt und im Süden Richtung Krim zusammengezogen hat. Den Russen ist das natürlich aufgefallen. Gleichzeitig hat die Nato im April letzten Jahres ein sehr grosses Manöver zwischen Baltikum und Schwarzem Meer durchgeführt. Das hat die Russen verständlicherweise aufgeschreckt. Sie haben im südlichen Militärbezirk Übungen abgehalten, um Präsenz zu markieren. Danach ist alles etwas ruhiger geworden, und im September hat Russland schon lange geplante «Zapad 21»-Übungen abgehalten. Diese Übungen werden alle vier Jahre durchgeführt. Am Ende des Manövers sind einige Truppenteile in der Nähe von Belarus geblieben. Das waren Truppen aus dem östlichen Militärbezirk. Es wurde vor allem Material dort zurückgelassen, denn es war auf Anfang dieses Jahres ein grosses Manöver mit Belarus geplant.
Wie hat der Westen darauf reagiert?
Europa und vor allem die USA interpretierten das als eine Verstärkung der Angriffskapazität auf die Ukraine. Unabhängige militärische Experten, aber auch der Chef des ukrainischen Sicherheitsrats sagten, dass keine Kriegsvorbereitungen im Gange seien. Russland liess das Material vom Oktober für die Übungen mit Belarus zurück – das war nicht geplant für einen Angriff. Sogenannte westliche Militärexperten vor allem aus Frankreich bezeichneten das sofort als Kriegsvorbereitung und stellten Putin als verrückten Diktator hin. Das ist die ganze Entwicklung, die es von Ende Oktober 2021 bis Anfang dieses Jahres gegeben hat. Die Kommunikation der USA und der Ukraine zu diesem Thema war sehr widersprüchlich. Die einen sprachen von geplantem Angriff, die anderen dementierten. Es war ein ständiges Hin und Her im Sinne von ja und nein.
Die OSZE berichtet schweren Beschuss der Volksrepubliken Lugansk und Donezk im Februar durch die Ukraine
Was geschah im Februar?
Ende Januar scheint sich die Situation zu ändern und es scheint, dass die USA mit Selenskyj gesprochen haben, denn dann gab es eine Veränderung. Ab Anfang Februar haben die USA immer wieder gesagt, die Russen stünden unmittelbar davor, anzugreifen. Sie haben Szenarien von einem Angriff verbreitet. So hat Antony Blinken vor dem Uno-Sicherheitsrat gesprochen und dargelegt, wie sich der Angriff der Russen abspielen wird. Er wisse das von den Nachrichtendiensten. Das erinnert an die Situation 2002/2003 vor dem Angriff auf den Irak. Auch hier hat man sich angeblich auf die Analyse der Geheimdienste abgestützt. Das stimmte auch damals nicht. Denn die CIA war nicht überzeugt von der Präsenz von Massenvernichtungswaffen im Irak. Rumsfeld stützte sich also nicht auf die CIA ab, sondern auf eine kleine vertrauliche Gruppe innerhalb des Verteidigungsministeriums, die eigens für diese Situation kreiert worden war, um so die Analysen der CIA zu umgehen.
Wo kommen denn heute die Informationen her?
Im Zusammenhang mit der Ukraine hat Blinken genau das Gleiche getan. Man kann es daran feststellen, dass sich niemand aus der CIA dazu geäussert hat. US-amerikanische Analytiker haben gemerkt, dass die Nachrichtendienste in diesem Zusammenhang nicht in Erscheinung getreten sind. Alles, was Blinken erzählte, kam aus einer Gruppe, die er selbst zusammengerufen hatte, innerhalb seines Departements – ein sogenanntes Tiger-Team. Diese Szenarien, die man uns vorgelegt hat, kommen nicht aus nachrichtendienstlichen Erkenntnissen. Sogenannte Experten haben also ein gewisses Szenario mit einer politischen Agenda erfunden. So entstand das Gerücht, die Russen würden angreifen. Joe Biden sagte also, er wisse, dass die Russen am 16. Februar angreifen würden. Als er gefragt wurde, woher er das wisse, antwortete er, dass die USA gute nachrichtendienstliche Kapazitäten hätten. Er erwähnte weder die CIA noch den nationalen Nachrichtendienst.
Ist denn am 16. Februar etwas geschehen?
Ja, an diesem Tag sehen wir eine extreme Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen durch das ukrainische Militär entlang der Waffenstillstandslinie, der sogenannten Kontaktlinie. Es gab in den letzten acht Jahren immer wieder Verletzungen, aber seit dem 12. Februar hatten wir eine extreme Zunahme, und zwar an Explosionen besonders im Gebiet von Donezk und Lugansk. Das ist nur bekannt, weil alles von der OSZE-Mission im Donbas protokolliert wurde. Man kann diese Protokolle in den «Daily reports» der OSZE nachlesen.
Was wollte das ukrainische Militär damit erreichen?
Es handelte sich sicher um den Anfang einer Offensive gegen den Donbas. Als der Artilleriebeschuss immer stärker wurde, begannen die Behörden der beiden Republiken, die Zivilbevölkerung zu evakuieren und nach Russland zu bringen. Sergej Lawrow sprach in einem Interview von 100 000 Geflüchteten. In Russland sah man die Anzeichen einer grossangelegten Operation.
Was waren die Folgen?
Dieses Vorgehen des ukrainischen Militärs hat im Grunde genommen alles ausgelöst. Zu diesem Zeitpunkt war für Putin klar, dass die Ukraine eine Offensive gegen die beiden Republiken durchführen will. Am 15. Februar hatte das russische Parlament, die Duma, eine Resolution angenommen, die vorschlägt, die beiden Republiken anzuerkennen. Putin reagierte zunächst nicht darauf, doch als die Angriffe immer stärker wurden, entschied er sich am 21. Februar, die Forderung der parlamentarischen Resolution umzusetzen.
Ursachen des Rechtsextremismus in der Ukraine
Warum hat Putin diesen Schritt vollzogen?
In dieser Situation hatte er kaum eine andere Wahl, als das zu tun, weil die russische Bevölkerung kaum verstanden hätte, wenn er nichts zum Schutz der russischstämmigen Bevölkerung im Donbas getan hätte. Für Putin war klar, dass, wenn er darauf reagiert und interveniert, der Westen mit massiven Sanktionen reagieren wird, ganz unabhängig davon, ob er nur den Republiken hilft oder die ganze Ukraine angreift. Im ersten Schritt anerkannte er die Unabhängigkeit der beiden Republiken. Am gleichen Tag schloss er mit den beiden Republiken ein Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit ab. Dadurch hat er gemäss Kapitel 51 der Uno-Charta im Sinne der kollektiven Verteidigung und der Selbstverteidigung das Recht, den beiden Republiken zu helfen. Damit schuf er die rechtliche Grundlage, mit militärischen Mitteln den beiden Republiken zu Hilfe zu kommen.
Aber er hat nicht nur den Republiken geholfen, sondern die ganze Ukraine angegriffen…
Putin hatte zwei Möglichkeiten: Erstens mit der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas zusammen gegen die Angreifer, also die ukrainische Armee, zu kämpfen; zweitens an mehreren Stellen die Ukraine anzugreifen, um die ukrainischen Militärkapazitäten zu schwächen. Putin hat auch einkalkuliert, dass es, egal was er macht, Sanktionen hageln wird. Deshalb hat er sich sicher für die Maximalvariante entschieden, wobei man ganz klar sagen muss, dass Putin nie davon gesprochen hat, die Ukraine in Besitz nehmen zu wollen. Seine Zielsetzung ist klar und deutlich: Entmilitarisierung und Entnazifizierung.
Was ist der Hintergrund dieser Zielsetzung?
Die Entmilitarisierung ist verständlich, denn die Ukraine hatte die ganze Armee im Süden zwischen Donbas und Krim zusammengezogen. Das heisst, mit einer schnellen Operation könnte er die Truppen einkesseln. Ein grosser Teil der ukrainischen Armee ist im Bereich Donbas, Mariupol und Saporoshje in einem grossen Kessel. Die Russen haben die Armee eingekreist und damit neutralisiert. Bleibt noch die Entnazifizierung. Wenn die Russen so etwas sagen, dann ist es meistens nicht einfach eine Erfindung. Es gibt starke Verbände von Rechtsradikalen. Neben der ukrainischen Armee, die sehr unzuverlässig ist, wurden seit 2014 starke paramilitärische Kräfte ausgebaut, dazu gehört zum Beispiel das bekannte Asow-Regiment. Aber es sind noch viel mehr. Es gibt sehr viele dieser Gruppen, die zwar unter ukrainischem Kommando stehen, aber nicht nur aus Ukrainern bestehen. Das Asow-Regiment besteht aus 19 Nationalitäten, darunter sind Franzosen, sogar Schweizer etc. Das ist eine Fremdenlegion. Insgesamt sind diese rechtsextremen Gruppen ungefähr 100 000 Kämpfer stark, laut Reuters.
Warum gibt es so viele paramilitärische Organisationen?
In den Jahren 2015/2016 war ich mit der Nato in der Ukraine. Die Ukraine hatte ein grosses Problem, sie hatte zu wenig Soldaten, denn die ukrainische Armee hat eine der höchsten Selbstmordraten. Die meisten Toten hatte sie wegen Selbstmord und Alkoholproblemen. Sie hatte Mühe, Rekruten zu finden. Ich wurde wegen meiner Erfahrung an der Uno angefragt, dort mitzuhelfen. In diesem Zusammenhang war ich mehrmals in der Ukraine. Der Hauptpunkt war, dass die Armee in der Bevölkerung nicht glaubwürdig ist und auch militärisch keine Glaubwürdigkeit besitzt. Deshalb förderte die Ukraine die paramilitärischen Kräfte immer stärker und baute sie aus. Das sind Fanatiker mit einem starken Rechtsextremismus.
Woher kommt der Rechtsextremismus?
Dessen Entstehung geht auf die 1930er Jahre zurück. Nach den extremen Hungerjahren, die als Holodomor in die Geschichte eingingen, bildete sich ein Widerstand gegen die sowjetische Macht. Um die Modernisierung der UdSSR zu finanzieren, hatte Stalin die Ernten konfisziert und so eine nie dagewesene Hungersnot provoziert. Es war der NKWD, der Vorgänger des KGB [sowjetischer Geheimdienst], der diese Politik umsetzte. Der NKWD war territorial organisiert und in der Ukraine hatten zahlreiche Juden hohe Kommandoposten inne. Dadurch vermischten sich die Dinge miteinander: der Hass auf die Kommunisten, der Hass auf die Russen und der Hass auf die Juden. Die ersten rechtsextremen Gruppen stammen aus dieser Zeit, und es gibt sie immer noch. Während des Zweiten Weltkriegs brauchten die Deutschen diese Rechtsextremisten wie die OUN von Stepan Bandera, die ukrainische Aufstandsarmee, und andere, um sie als Guerilla gegen die Sowjets einzusetzen. Damals betrachtete man die Streitkräfte des 3. Reiches als Befreier, so wird zum Beispiel die 2. Panzerdivision der SS, «Das Reich», die Charkow 1943 von den Sowjets befreit hatte, heute noch verehrt in der Ukraine. Das geografische Zentrum des rechtsextremen Widerstands war in Lwow, heute Lwiw, das ist in Galizien. Diese Region hatte sogar ihre eigene 14. SS-Panzergrenadierdivision «Galizien», eine SS-Division, die ausschliesslich aus Ukrainern bestand.
Die OUN ist während des Zweiten Weltkriegs entstanden und hat die Zeit der Sowjetunion überlebt?
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Feind immer noch die Sowjetunion. Der Sowjetunion ist es nicht gelungen, diese antisowjetischen Bewegungen vollständig zu eliminieren. Die USA, Frankreich und Grossbritannien realisierten, dass die OUN nützlich sein konnte und unterstützten sie im Kampf gegen die Sowjetunion mittels Sabotage und mit Waffen. Bis anfangs der 60er Jahre wurden diese Organisationen vom Westen her unterstützt. Insbesondere durch die Operationen Aerodynamic, Valuable, Minos, Capacho, und andere. Seit dieser Zeit gab es in der Ukraine immer Kräfte, die einen engen Bezug zum Westen und zur Nato hatten. Heute ist es die Schwäche der ukrainischen Armee, die dazu geführt hat, dass man auf diese fanatischen Gruppierungen zurückgreift. Sie als Neonazis zu bezeichnen, stimmt für mich nicht ganz. Sie sympathisieren mit dem Gedankengut, sie haben die Abzeichen, aber sie haben weder eine politische Doktrin noch einen politischen Plan.
Nach 2014 wurden zwei Abkommen vereinbart, um die Situation in der Ukraine zu befrieden. Welche Bedeutung haben die Abkommen im Zusammenhang mit der jetzigen Auseinandersetzung?
Ja, das ist wichtig zu verstehen, denn die Nichterfüllung dieser beiden Abkommen hat im Grunde genommen zum Krieg geführt. Seit 2014 gäbe es eine Lösung für den Konflikt, das Minsker Abkommen. Im September 2014 war offensichtlich, dass die ukrainische Armee eine sehr schlechte Kriegsführung hatte, obwohl sie von der Nato beraten wurde. Sie hatte ständig Misserfolge. Deshalb musste sie in das Minsker Abkommen I im September 2014 einwilligen. Es war ein Vertrag zwischen der ukrainischen Regierung und den Vertretern der beiden selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk mit den europäischen und russischen Garantiemächten.
Doppelspiel der EU und der USA
Wie kam es damals zu der Gründung dieser beiden Republiken?
Um das zu verstehen, müssen wir in der Geschichte noch etwas zurückgehen. Im Herbst 2013 wollte die EU ein Handels- und Wirtschaftsabkommen mit der Ukraine abschliessen. Die EU bot für die Ukraine eine Garantie für Entwicklung mit Subventionen, mit Export und Import etc. Die ukrainischen Behörden wollten das Abkommen abschliessen. Doch es war nicht ganz unproblematisch, denn die ukrainische Industrie und die Landwirtschaft waren bezüglich Qualität und Produkte auf Russland ausgerichtet. Die Ukrainer haben Motoren für russische Flugzeuge entwickelt, nicht für europäische oder amerikanische. Die allgemeine Ausrichtung der Industrie war Richtung Osten und nicht nach Westen. Qualitativ konnte die Ukraine im Wettbewerb mit dem europäischen Markt schwer bestehen. Deshalb wollten die Behörden mit der EU kooperieren und gleichzeitig die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland aufrechterhalten.
Wäre das möglich gewesen?
Russland hatte seinerseits kein Problem mit den Plänen der Ukraine. Aber Russland wollte seine Wirtschaftsbeziehungen zur Ukraine behalten. Deshalb schlug es, mit einer trilateralen Arbeitsgruppe zwei Abkommen zu erstellen: eines zwischen der Ukraine und der EU und eines zwischen der Ukraine und Russland. Ziel war es, die Interessen von allen Beteiligten abzudecken. Es war die Europäische Union, in der Person von Barroso , die von der Ukraine verlangt hat, sich zwischen Russland und der EU zu entscheiden. Die Ukraine hat sich daraufhin Bedenkzeit ausbedungen und eine Pause im ganzen Prozess verlangt. Danach spielten die EU und die USA kein ehrliches Spiel.
Warum?
Die westliche Presse titelte: «Russland übt Druck auf die Ukraine aus, um den Vertrag mit der EU zu verhindern». Das war falsch. Das war nicht der Fall. Die Regierung der Ukraine bekundete weiterhin Interesse an dem Vertrag mit der EU, aber sie wollte noch mehr Bedenkzeit und die Lösungen für diese komplexe Situation genau prüfen. Aber das sagte die Presse in Europa nicht. Am nächsten Tag tauchten Rechtsextreme aus dem Westen des Landes auf dem Maidan in Kiew auf. Was sich dort alles mit Billigung und Unterstützung des Westens abgespielt hat, ist grausig. Aber das alles aufzurollen, würde unseren Rahmen sprengen.
Was geschah, nachdem Janukowitsch, der demokratisch gewählte Präsident, gestürzt worden war?
Die neue provisorische Regierung – hervorgegangen aus der nationalistischen extremen Rechten – hat sofort, als erste Amtshandlung, das Gesetz über die offizielle Sprache in der Ukraine geändert. Das beweist auch, dass dieser Umsturz nichts mit Demokratie zu tun hatte, sondern es waren Nationalisten, und zwar Hardliner, die den Aufstand organisiert hatten. Diese Gesetzesänderung löste in den russischsprachigen Gebieten einen Sturm aus. Man organisierte in allen Städten des Südens, in Odessa, in Mariupol, in Donezk, in Lugansk, auf der Krim etc. grosse Demonstrationen gegen das Sprachgesetz. Darauf reagierten die ukrainischen Behörden sehr massiv und brutal, und zwar mit der Armee. Kurzfristig wurden autonome Republiken ausgerufen, in Odessa, Charkow, Dnjepropetrowsk, Lugansk, Donezk und weitere. Diese wurden äusserst brutal bekämpft. Zwei sind geblieben, Donezk und Lugansk, die sich zu autonomen Republiken erklärt haben.
Wie haben sie ihren Status legitimiert?
Sie haben im Mai 2014 ein Referendum durchgeführt. Sie wollten Autonomie, und das ist sehr, sehr wichtig. Wenn sie in die Medien der letzten Monate schauen, hat man immer von Separatisten gesprochen. Aber damit kolportierte man seit acht Jahren eine totale Lüge. Man sprach immer von Separatisten, – das ist völlig falsch, denn das Referendum hat ganz klar und deutlich immer von einer Autonomie innerhalb der Ukraine gesprochen, sie wollten sozusagen eine Schweizer Lösung. Sie waren also autonom und baten um die Anerkennung der Republiken durch Russland, aber die russische Regierung unter Putin lehnte das ab.
Der Unabhängigkeitskampf der Krim
Die Entwicklung auf der Krim steht doch auch in diesem Zusammenhang?
Man vergisst, dass sich die Krim für unabhängig erklärt hat, bevor die Ukraine unabhängig wurde. Im Januar 1991, also noch während der Zeit der Sowjetunion, hat die Krim ein Referendum durchgeführt, um zu Moskau zu gehören und nicht mehr zu Kiew. So ist sie eine autonome sozialistische Sowjetrepublik geworden. Die Ukraine hatte erst 6 Monate später ein Referendum durchgeführt, im August 1991. Zu diesem Zeitpunkt betrachtete die Krim sich nicht als Teil der Ukraine. Aber die Ukraine akzeptierte dies nicht. Zwischen 1991 und 2014 war es ein ständiges Tauziehen zwischen den beiden Einheiten. Die Krim hatte ihre eigene Verfassung mit ihren eigenen Behörden. 1995, ermutigt durch das Memorandum von Budapest, stürzte die Ukraine die Regierung der Krim mit Spezialeinheiten und erklärte ihre Verfassung für ungültig. Aber das wird nie erwähnt, denn es würde die heutige Entwicklung in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen.
Was wollten die Menschen auf der Krim?
Sie verstanden sich tatsächlich immer als unabhängig. Ab 1995 wurde die Krim per Dekret von Kiew aus regiert. Das stand im völligen Widerspruch zum Referendum von 1991 und erklärt, warum die Krim 2014, nachdem durch den illegalen Putsch eine neue ultra-nationalistische Regierung, die total antirussisch war, in der Ukraine an die Macht gekommen war, ein erneutes Referendum abhielt. Das Resultat war sehr ähnlich wie 30 Jahre zuvor. Nach dem Referendum fragte die Krim an, ob sie in die Russische Föderation eintreten könne. Es war nicht Russland, das die Krim erobert hat, sondern die Bevölkerung hat die Behörden ermächtigt, Russland um die Aufnahme zu bitten. Es gab 1997 auch ein Freundschaftsabkommen zwischen Russland und der Ukraine, in dem die Ukraine die kulturelle Vielfalt der Minderheiten im Land gewährleistet. Als im Februar 2014 die russische Sprache verboten wurde, war das eine Verletzung dieses Vertrags.
Jetzt wird klar, dass man, wenn man das alles nicht kennt, Gefahr läuft, die Situation falsch einzuschätzen.
Zurück zum Minsker Abkommen. Es waren neben der Ukraine und den autonomen Republiken auch Garantiemächte anwesend wie Deutschland und Frankreich auf der Seite der Ukraine und Russland auf der Seite der Republiken. Deutschland, Frankreich und Russland haben das als Vertreter der OSZE gemacht. Die EU war daran nicht beteiligt, das war eine reine Angelegenheit der OSZE. Direkt nach dem Minsk I Abkommen löste die Ukraine eine Antiterroroperation gegen die beiden autonomen Republiken aus. Die Regierung ignorierte das Abkommen also vollständig und führte diese Operation durch. Aber es gab wieder eine totale Niederlage der ukrainischen Armee in Debaltsewo. Es war ein Debakel.
Fand dies auch mit Unterstützung der Nato statt?
Ja, und man muss sich schon fragen, was die Militärberater der NATO dort eigentlich gemacht haben, denn die Streitkräfte der Republiken haben die ukrainische Armee völlig besiegt.
Das führte zu einem zweiten Abkommen, Minsk II, das im Februar 2015 unterzeichnet wurde. Es diente als Grundlage für eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats. Damit ist dieses Abkommen völkerrechtlich verpflichtend: Es muss umgesetzt werden.
Hat man das auch von der Uno her kontrolliert?
Nein, niemand kümmerte sich darum, und ausser Russland verlangte niemand die Einhaltung des Minsk II Abkommens. Man sprach plötzlich nur noch vom Normandie-Format. Aber das ist völlig unbedeutend. Das kam zustande an der Feier des D-Day im Juni 2014. Die Veteranen des Krieges, die Staatsoberhäupter der Alliierten waren eingeladen sowie Deutschland, die Ukraine und die Vertreter anderer Staaten. Im Normandie-Format waren nur die Staatschefs vertreten, die autonomen Republiken sind dort natürlich nicht dabei. Die Ukraine will nicht mit den Vertretern von Lugansk und Donezk reden. Wenn man aber die Minsker Abkommen anschaut, dann muss es eine Absprache zwischen der ukrainischen Regierung und den Republiken geben, damit die ukrainische Verfassung angepasst werden kann. Das ist ein Prozess, der innerhalb des Landes geschieht, aber das wollte die ukrainische Regierung nicht.
Aber die Ukrainer haben das Abkommen ebenfalls unterschrieben…
… ja, aber die Ukraine wollte das Problem immer Russland zuschieben. Die Ukrainer behaupteten, Russland habe die Ukraine angegriffen, und deshalb gebe es diese Probleme. Aber das war klar, es war ein internes Problem. Seit 2014 haben OSZE-Beobachter nie irgendwelche russischen Militäreinheiten gesehen. In beiden Abkommen ist ganz klar und deutlich formuliert: Die Lösung muss innerhalb der Ukraine gefunden werden. Es geht um eine gewisse Autonomie innerhalb des Landes, und das kann nur die Ukraine lösen. Das hat mit Russland nichts zu tun.
Dazu braucht es die festgelegte Anpassung der Verfassung.
Ja, genau, aber die wurde nicht gemacht. Die Ukraine hat keinen Schritt getan. Auch die Mitglieder des Uno-Sicherheitsrats setzten sich nicht dafür ein, im Gegenteil. Die Lage verbesserte sich überhaupt nicht.
Wie hat sich Russland verhalten?
Die Position von Russland war immer dieselbe. Es wollte, dass die Minsker Abkommen umgesetzt werden. Diese Position hat es während acht Jahren nie geändert. Während dieser acht Jahre gab es natürlich verschiedene Grenzverletzungen, Artilleriebeschuss usw., aber das Abkommen hat Russland nie in Frage gestellt.
Wie ist die Ukraine weiter vorgegangen?
Die Ukraine hat anfangs Juli letzten Jahres ein Gesetz erlassen. Es war ein Gesetz, das besagte, dass die Leute je nach Abstammung andere Rechte haben. Es erinnert sehr an die Nürnberger Rassengesetze von 1935. Nur die richtigen Ukrainer sind im Besitz aller Rechte, alle übrigen haben nur eingeschränkte Rechte. Daraufhin hat Putin einen Artikel geschrieben, indem er die historische Entstehung der Ukraine erklärt. Er hat kritisiert, dass man zwischen Ukrainern und Russen unterscheidet usw. Seinen Artikel schrieb er als Antwort auf dieses Gesetz. Aber in Europa interpretierte man das so, dass er die Ukraine als Staat nicht anerkennt. Das sei ein Artikel, um eine mögliche Annexion der Ukraine zu rechtfertigen. Im Westen wird das alles geglaubt, obwohl niemand weiss, weder warum Putin den Artikel geschrieben hat, noch was wirklich darinsteht. Es ist offensichtlich, dass im Westen das Ziel bestand, ein möglichst negatives Bild von Putin zu zeichnen. Ich habe den Artikel gelesen, er ist absolut sinnvoll.
Hätten die Russen nicht auch von ihm erwartet, dass er dazu Stellung nimmt?
Natürlich, es gibt so viele Russen in der Ukraine. Er musste etwas machen. Es wäre den Leuten gegenüber (aber auch völkerrechtlich, mit der Verantwortung zu schützen) nicht richtig gewesen, wenn man das stillschweigend akzeptiert hätte. Alle diese kleinen Details gehören unbedingt dazu, sonst versteht man nicht, was sich abspielt. Man kann das Verhalten Putins nur so einordnen, und man sieht, dass der Krieg immer mehr provoziert wurde. Ich kann nicht sagen, ob Putin gut oder schlecht ist. Aber so, wie er im Westen beurteilt wird, ist es falsch.
Schweiz verlässt den Status der Neutralität
Wie beurteilen Sie die Reaktion der Schweiz vom letzten Wochenende?
Es ist furchtbar, es ist eine Katastrophe. Russland hat eine Liste mit 48 «unfreundlichen Staaten» erstellt, und stellen Sie sich vor, die Schweiz ist auch darauf. Das ist jetzt wirklich eine Zeitenwende, die die Schweiz aber selbst zu verantworten hat. Die Schweiz war immer «the man in the middle». Wir haben mit allen Staaten den Dialog geführt und haben den Mut gehabt, in der Mitte zu stehen. Das ist eine Hysterie bezüglich der Sanktionen. Russland ist auf diese Situation sehr gut vorbereitet, es wird darunter leiden, aber es ist darauf eingestellt. Das Prinzip der Sanktionen ist aber völlig falsch. Heute haben die Sanktionen die Funktion der Diplomatie ersetzt. Das hat man bei Venezuela gesehen, bei Kuba, beim Irak, beim Iran etc. Die Staaten haben nichts getan, aber ihre Politik gefällt den USA nicht. Das ist ihr Fehler. Als ich gesehen habe, dass man die Behindertensportler bei den Para-Olympics gesperrt hat, fehlten mir tatsächlich die Worte. Das ist so inadäquat. Das trifft einzelne Menschen, das ist einfach gemein. Das gehört in die gleiche Kategorie, wenn der französische Aussenminister sagt, das russische Volk soll unter den Sanktionen leiden. Wer so etwas sagt, der hat für mich keine Ehre. Es ist nichts Positives, einen Krieg anzufangen, aber so zu reagieren, ist schlicht schändlich.
Wie sehen Sie das, dass die Menschen auf die Strasse gehen gegen den Krieg in der Ukraine?
Ich frage mich natürlich: Was macht den Krieg gegen die Ukraine schlimmer als den Krieg gegen den Irak, gegen Jemen, gegen Syrien oder Libyen? Hier gab es bekanntlich keine Sanktionen gegen den Aggressor, die USA oder diejenigen, die Waffen lieferten, die gegen die Zivilbevölkerung verwendet wurden. Ich frage mich: Wer macht Demonstrationen für den Jemen? Wer hat für Libyen demonstriert, wer hat für Afghanistan demonstriert? Man weiss nicht, warum die USA in Afghanistan waren. Ich weiss aus nachrichtendienstlichen Quellen, dass nie irgendwelche Hinweise existiert haben, dass Afghanistan oder Osama bin Laden an den Anschlägen des 11. Septembers 2001 beteiligt waren, aber man hat trotzdem Krieg in Afghanistan geführt.
Warum?
Am 12. September 2001, am Tag nach den Anschlägen, wollten die USA Vergeltung üben und haben entschieden, Afghanistan zu bombardieren. Der Generalstabschef der US-Luftwaffe sagte, dass es nicht genügend Ziele in Afghanistan gebe. Daraufhin meinte der Verteidigungsminister: «Wenn wir nicht genügend Ziele in Afghanistan haben, dann bombardieren wir den Irak.» Das ist nicht von mir erfunden, es gibt Quellen, Dokumente und Menschen, die dabei waren. So sieht die Realität aus, aber wir werden mit Propaganda und Manipulation auf die «richtige» Seite gezogen.
Wenn ich nach diesem Gespräch resümieren darf, dann wurde durch Ihre Antworten klar, dass der Westen schon längere Zeit immer wieder Öl ins Feuer gegossen und Russland provoziert hat. Diese Provokationen finden aber in unseren Medien selten Niederschlag, doch die Antworten Putins werden nur teilweise oder verfälscht wiedergegeben, um möglichst das Bild des Kriegstreibers und Unmenschen aufrecht zu erhalten.
Mein Grossvater war Franzose, er war als Soldat im Ersten Weltkrieg und hat mir oft davon erzählt. Und ich muss feststellen, die Hysterie und die Manipulation sowie das unreflektierte Verhalten der westlichen Politiker erinnert mich heute sehr daran, und das macht mir tatsächlich grosse Sorgen. Wenn ich sehe, wie unser neutrales Land nicht mehr in der Lage ist, eine von der EU und den USA unabhängige Position einzunehmen, dann schäme ich mich. Es braucht einen klaren Kopf und die Fakten, die hinter der ganzen Entwicklung stehen. Nur so kann die Schweiz eine vernünftige Friedenspolitik betreiben.
Herr Baud, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser^
«Die beste Lösung für die Ukrainer wäre, sich unilateral als neutral zu erklären»
«Es braucht jetzt ganz dringend vertrauensbildende Massnahmen»
Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger
Zeitgeschehen im Fokus Nahezu die ganze Welt scheint sich einig, Russland unter Wladimir Putin sei – wie früher die Sowjetunion – die Inkarnation des Bösen. Es habe nach 77 Jahren, so der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis, den Krieg zurück nach Europa gebracht und das Völkerecht gebrochen. Was sagen Sie als Völkerrechtler dazu?
Prof. Dr. Alfred de Zayas Als Neu-Schweizer seit 2017 bedauere ich diese undifferenzierte und falsche Haltung, die unser Aussenminister an den Tag legt. Noch bedauerlicher finde ich den Bruch mit der Tradition der Schweizer Neutralität.
Nein, was Cassis gesagt hat, stimmt so nicht, und das, was dem Wortlaut nach richtig erscheinen mag, muss man genauer betrachten. Völlig falsch ist, und es ist mehr als peinlich, dass ein Mann wie Bundesrat Cassis als Bundespräsident und Vorsteher des Departementes für auswärtige Angelegenheiten so eine Geschichtslosigkeit in einer offiziellen Verlautbarung formulieren kann. Er behauptete, dass der Angriff auf die Ukraine nach 77 Jahren der erste Angriffskrieg in Europa sei. Die Aussage ist zum einen erschreckend, weil sie seine Unkenntnis über die jüngere Geschichte offenbart, zum anderen gehört sie natürlich in die ganze antirussische Propaganda, die schon seit Jahren eine Stimmung gegen das Land aufbaut, die jetzt unverblümt und ungehemmt zum Ausdruck kommt. Das ist gefährlich. Im übrigen verletzt diese Russophobie den Artikel 20 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der sowohl Kriegspropaganda als auch Hetze gegen andere Völker verbietet.
Können Sie erklären, worin Cassis‘ geschichtliche Unkenntnis liegt?
Es gab bereits in den 90er Jahren Kriege zwischen Slowenen und Serben, zwischen Kroaten und Serben, zwischen Bosniern und Serben. Die waren wohl in Europa, und alle Seiten haben Kriegsverbrechen begangen. Es kam aber schlimmer. Im März 1999 begannen die USA und die Nato einen Angriffskrieg gegen Serbien, ebenso auf der Basis von Fake News und vulgärer antiserbischer Propaganda. Natürlich ohne ein Uno-Mandat.
Aus völkerrechtlicher Sicht war die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar genauso eine Verletzung des Artikels 2(4) der Uno-Charta. Im Januar 1999 stellte die Nato ein Ultimatum, das für Serbien wie auch für jeden anderen Staat unannehmbar gewesen wäre. Die sogenannte Konferenz von Rambouillet in Frankreich formulierte keine Lösung der Spannungen zwischen Serbien und der sogenannten Kosovo Liberation Army (UČK). In Rambouillet verlangte die Nato das Recht, nicht nur im Kosovo, sondern auch in ganz Serbien «den Frieden zu sichern und die Sicherheit zu gewährleisten». Mit anderen Worten, Serbien hätte seine Souveränität an die Nato abgeben müssen, was kein souveräner Staat getan hätte. Als Serbien dies zurückwies, begann ein mehr als zweimonatiges Bombardement, das Serbien nach Aussagen der Nato in die «Steinzeit» zurückbefördern sollte. Das war ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland beteiligte. Niemand beklagte die vielen zivilen Opfer, keiner verlangte Sanktionen gegen die Aggressoren, niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Damals war ich Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses. Ich entsinne mich der Atmosphäre des Hasses gegen Jugoslawien und persönlich gegen Milošević. Die Dämonisierung Putins heute erinnert mich an die Enthumanisierung von Milošević. Es war obszön, was man im Fernsehen, vor allem im CNN konstatieren konnte.
Lässt sich das mit der Ukraine vergleichen?
Was den Bruch des Völkerrechts angeht sehr wohl. Was die Situation als solche anbetrifft, so war der Grund für den Angriff auf Serbien reine Machtpolitik der USA. Es gab keinen Konflikt zwischen Serbien und einem Nato-Land, sondern eine innerstaatliche Auseinandersetzung zwischen der UČK, der militärischen Organisation der Kosovaren, und der serbischen Armee. Die Nato hat dabei sowohl gegen die eigene Doktrin als auch gegen das Völkerrecht verstossen. Wo waren die Proteste und die Solidaritätsbekundungen mit der serbischen Bevölkerung? Als Verantwortlicher für Petitionen im Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte erhielt ich alle Beschwerden über den Konflikt zwischen den Serben und der UČK. Es gab auf beiden Seiten Verbrechen, mehr oder weniger im selben Ausmass. Es gab Terrorismus durch die UČK, die etliche Serben tötete, und es gab auch Repression gegen Albaner durch Serbien. Der Konflikt hielt sich aber in Massen, die Toten in der Periode 1989-98 waren ungefähr 1000 auf beiden Seiten.Schlimm, aber kein Grund für eine ausländische Intervention, die noch viel mehr Menschen töten würde. Mit Russland bestand seit 2014 ein mehr oder weniger offener Konflikt. Beide Länder (Ukraine und Russland) waren in die Auseinandersetzungen involviert. Die Schwarz-Weiss-Malerei in der Berichtserstattung über die Ukraine widerspiegelt die gleiche Desinformation und die Übertreibung wie im Falle des Krieges gegen Serbien.
Was war das Ziel der USA?
Die Intervention 1999 hatte nichts mit Menschenrechten zu tun – obwohl sie als sogenannt «humanitäre Intervention» getarnt wurde. Sie war aber rein geopolitisch. Die USA wollten Serbien als Verbündeter Russlands schwächen und im Kosovo – übrigens auf serbischem Territorium, ein weiterer Verstoss gegen das Völkerrecht – eine Luftwaffenbasis errichten, was sie auch getan haben. Das Camp Bondsteel hat eine Grösse von ungefähr 400 ha und stellt de facto die Besetzung des Gebiets dar.
Warum ist das alles vergessen?
Es ist nicht unbedingt vergessen. Man weiss es schlicht nicht, weil unsere Medien über (Kriegs-)Verbrechen der USA oder auch der Europäer kaum berichten und wenn, dann nur beschönigend.
War das der einzige Völkerrechtsbruch der westlichen Allianz?
Nein, 2003 haben die USA mit der Koalition der Willigen, übrigens mit sehr vielen ukrainischen Söldnern, völkerrechtswidrig den Irak angegriffen. Es gab kein Uno-Mandat, und es war ein Angriffskrieg auf einen souveränen Staat – wie der Einmarsch in die Ukraine ein schwerwiegender Verstoss gegen die Uno-Charta und damit gegen das Völkerrecht. Ich bezeichne die Aggression gegen den Irak geradezu als eine Revolte gegen die Uno-Charta, gegen die Nürnberger Prinzipien, gegen die Westfälische Ordnung. Es war eine brutale Vergewaltigung des Völkerrechts, die ein Land zerstörte und inzwischen mehr als eine Million Menschen das Leben gekostet hat. Es war ein Verbrechen gegen die Menschheit, das vom Internationalen Strafgerichtshof hätte unter Artikel 7 des Statuts von Rom untersucht und verurteilt werden müssen.
Wurden wegen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf den Irak Sanktionen gegen die Aggressoren verhängt?
Nein, nichts dergleichen. Deutschland und Frankreich, die zumindest offiziell sich geweigert hatten, am Krieg teilzunehmen, wurden von Bush geächtet. Er sprach nur noch vom «alten Europa», und es war eine gehässige Stimmung gegen beide Länder. «French fries» wurden z.B. in «freedom fries» umbenannt. Das ist zwar nur ein Detail, aber es zeigt die Stimmung, und dass die europäischen Staaten nicht wirklich unabhängig von den USA ihre Entscheidungen treffen können. Deutschland hat nämlich trotzdem den Überflug über sein Territorium erlaubt, und deutsche Soldaten haben sogar die US-Militäreinrichtungen in Deutschland bewacht, während US-Soldaten im Irak kämpften.
Wie haben die Menschen der kriegführenden Länder darauf reagiert?
In London und Manchester, Rom und Mailand, Madrid und Barcelona ging die Bevölkerung zu Millionen auf die Strasse und demonstrierte gegen den Krieg, auch in Berlin, Frankfurt und München gingen die Menschen auf die Strasse.
Kann man sagen, dass sich die demokratisch gewählten Regierungen dieser Länder an den Forderungen des Volks orientierten?
Nein, im Gegenteil. Die Regierungen scherten sich einen Dreck um den Volkswillen bzw. um die Demokratie. Jene Bürger, die nicht mitmachen wollten, wurden schnell als «unpatriotisch» abgestempelt oder gar als Verräter diffamiert. Die Entfaltung der Macht der Nato und der «Koalition» war total. Sie führten den totalen Krieg gegen den Irak – militärisch, psychologisch und propagandistisch. Kein Mensch wurde zur Rechenschaft gezogen. Mit Recht nannte der seinerzeitige Uno-Generalsekretär Kofi Annan diese Invasion «an illegal war».
Was war eigentlich mit Libyen 2011?
Hier gab es zwar eine Resolution des Sicherheitsrates (Nr. 1973) und ein Uno-Mandat zur humanitären Hilfe. Es klang nach Hilfe, aber was kam, hatte nichts mit der Resolution zu tun. Fünf Staaten hatten sich der Stimme enthalten, darunter China und Russland. Wenn sie geahnt hätten, was dann geschah, hätten sie sicherlich ihr Veto eingelegt. So wurde die Resolution angenommen. Sie wurde aber nicht dem Wortlaut entsprechend umgesetzt, sondern aus dem Errichten einer Flugverbotszone wurde ein vollständiger Krieg, der die Beseitigung der Regierung Gaddafi zum Ziel hatte und das Land bis heute, 11 Jahre danach, in ein völliges Chaos getrieben hat.
Wo waren damals die Proteste, und wer weiss das heute noch?
Darüber spricht heute kein Mensch mehr, aber man müsste die beteiligten Nato-Staaten alle zur Rechenschaft ziehen. In diesem Sinne muss man fragen, ob die Nato überhaupt eine «defensive» Allianz ist oder ein Instrument der Aggression. Wenn man sich die Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit vor Augen führt, die im Namen der Nato begangen worden sind, muss man fragen, ob diese Organisation in die Kategorie des Artikels 9 des Statuts des Nürnberger Tribunals gehört – nämlich als «kriminelle Organisation».
Kommen wir auf die militärische Intervention Russlands in der Ukraine zu sprechen. Sie bestätigten den Völkerrechtsbruch.
Ja, es ist ein eindeutiger Verstoss gegen Artikel 2(4) der Uno-Charta, der einen militärischen Angriff auf ein anderes Land untersagt. Nur unter Kapitel VII ist es dem Sicherheitsrat erlaubt, einen militärischen Angriff völkerrechtlich zu legitimieren. Insofern ist das Vorgehen Russlands ein Völkerrechtsbruch. Aber – und das darf man nicht einfach unter den Tisch kehren – die Nato als Militärbündnis, das seine ursprüngliche Intention, nämlich als reines Verteidigungsbündnis zu fungieren, spätestens 1999 verlassen hat, kreist Russland immer weiter ein.
Gibt es dazu eine völkerrechtliche Bestimmung?
Dazu muss ich daran erinnern, dass Artikel 2(4)der Uno-Charta nicht nur den Angriff verbietet, sondern auch die Androhung. Der Text lautet: «Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.» Seit den 90er Jahren tut die Nato nichts ausser bedrohen. Die Expansion der Nato bis an die Grenze Russlands war und bleibt reine Androhung, brachiale Machtpolitik, imperiale Arroganz.
Wann begann dieser Prozess?
Bereits 1999, mit der Aufnahme der ehemaligen Verbündeten der UdSSR wie Polen, Ungarn und Tschechien. 2002 kamen dann weitere Ostblockstaaten und ehemalige Sowjetrepubliken wie z.B. die baltischen Staaten hinzu. Das steht alles im Widerspruch zum Versprechen, das die USA 1990 gegeben hatten. Es war zwischen dem US-Präsidenten George H. Bush und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow vereinbart worden, dass es keine Ausdehnung der Nato nach Osten gebe. Die Worte des amerikanischen Aussenministers James Baker waren deutlich: «not an inch» nach Osten. Auch der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher bestätigte eine solche Abmachung.
Joe Biden negiert dieses Versprechen wie auch Antony Blinken.
Ja, das ist klar, das passt natürlich nicht in ihr Konzept. Sie wollen die Ukraine in die Nato bringen und somit weiter Richtung Russland vorrücken. Das ist genau das Bedrohungsszenario, das Putin wohl veranlasst hat, die Reissleine zu ziehen. Die Uno-Charta verbietet eben auch, dass ein Staat einen anderen bedroht. Und wenn wir uns die Landkarte anschauen, dann sehen wir an der Westgrenze Russlands eine systematische Einkreisung.
Wird das nicht in unseren Medien verharmlost und die Nato als «Wertegemeinschaft» dargestellt?
Wir haben nicht nur eine Lügenpresse. Wir haben eine Lückenpresse. Man stelle sich einmal vor, Mexiko schlösse ein Militärbündnis zusammen mit Russland und Kuba, und begänne damit, Raketen zu stationieren, die Ziele in den USA erreichen könnten. Wissen Sie, was dann passieren würde? Was Kuba anbetrifft, haben wir ein konkretes Beispiel aus der Geschichte: Die USA hat mit einem Atomkrieg gedroht, bis Chruschtschow damals einlenkte und sich aus Kuba zurückzog und die USA den Abzug der Raketen in der Türkei versprach, die direkt russische Städte bedrohten. Kleines Detail der Geschichte, US-Raketen in der Türkei stehen immer noch dort. Ein anderes Szenario könnte die Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung in Alaska durch Russland sein. Russland würde Geld geben und NGOs unterstützen, die Demonstrationen organisierten und auf eine Sezession Alaskas hinwirkten. In der Folge könnte sich Alaska für unabhängig erklären und ein Verteidigungsbündnis mit Russland abschliessen. Was würde wohl geschehen?
Nach der ungeheuren Medienwalze, der Schärfe des Tons und den enormen Sanktionen, die international ergriffen wurden, scheint Russland vollständig isoliert.
Nicht ganz. Es gibt noch Staaten, die sich weiterhin mit Russland verbunden fühlen, aber die Mehrheit der Staaten schliesst sich den USA an. Bemerkenswerterweise unterstützt der Präsident Mexikos Andrés Manuel López Obrador die Sanktionen gegen Russland nicht, um, wie er sagte, alle Gesprächskanäle offen zu behalten. Diese entscheidende Möglichkeit hat die Schweiz achtlos verspielt, indem sie die Sanktionen der EU ebenfalls mitträgt. Es ist ein riesiger Schaden, der für die Schweiz, aber auch in der Konfliktbeilegung angerichtet ist.
War es nicht nötig, dass die Schweiz hier Flagge zeigt?
Flagge zeigen schon, aber für die Neutralität, nicht für die Ukraine. Wo bleibt die Glaubwürdigkeit? Was denken sich die Politiker? Sie zerstören mit einem Handstreich ein über Jahrhunderte gewachsenes Gut, ohne sich über die langfristigen Konsequenzen Gedanken zu machen. Der Druck auf die Schweiz von Seiten der EU war hoch, aber das ist auch nichts Neues. In Ihrer Zeitung habe ich gelesen, dass 95% der Bevölkerung der Schweiz für die Erhaltung der Neutralität sind. Warum nimmt die Politik mehr Rücksicht auf andere Staaten als auf die eigene Bevölkerung? Die Schweiz ist als Neutraler immer einem Druck ausgesetzt. Das muss man aushalten, sonst kann man ein neutrales Land nicht vertreten. Es ist einfacher, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. So hat man die Kritik nur von einer Seite. Als Neutraler muss man es aushalten, wenn zwei unzufrieden sind. Aber ich stelle fest, die heutigen Verantwortlichen wollen gefallen und in der grossen Welt ankommen. Das kommt einer Verluderung der eigenen Grundsätze gleich.
Was müsste jetzt in der Ukraine geschehen?
Die Kämpfe sollten sofort eingestellt werden. Es gibt nur den Verhandlungstisch. Alles andere führt ins Verderben. Waffenstillstand und gemeinsames Ringen um eine verbindliche und tragfähige Friedensordnung. Die Waffen müssen schweigen. Der Irrsinn muss ein Ende haben. Russland zieht sich zurück, und die Nato gibt verbindliche Garantien, dass die Ukraine als neutraler Staat akzeptiert wird. Niemand erhebt Anspruch auf das Land. Die Vorschläge der Russen im Januar, die von der westlichen Allianz achtlos vom Tisch gewischt wurden, müssen ausdiskutiert werden. Es braucht jetzt ganz dringend vertrauensbildende Massnahmen. Nur so kann es einen dauerhaften Frieden geben. Das Provozieren des Westens muss ein Ende haben und das Völkerrecht muss wieder oberste Priorität geniessen.
Kann die Schweiz dazu etwas beitragen?
Ob die Schweiz als Mediator nach ihrem Verlassen der Neutralität noch in Frage kommt, werden die Konfliktparteien entscheiden müssen. Hoffen wir, dass die Schweiz auf den Pfad der Neutralität zurückfindet. Die Ukraine müsste auch einsehen, dass sie von den USA und der Nato instrumentalisiert wird. Die beste Lösung für die Ukrainer wäre, sich unilateral als neutral zu erklären, so dass sie künftig mit dem Westen und dem Osten in Frieden leben kann. Es geht nicht allein um die Sicherheit der Ukrainer oder gar Mitteleuropas – es geht um den Frieden in der ganzen Welt.
Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser^
«Wann wurde jemals ein Krieg durch Sanktionen beendet?»
«Die Schweiz hätte den Weg der Verhandlungen gehen müssen»
Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann
Zeitgeschehen im Fokus Nach dem Entscheid des Bundesrats trägt die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland mit. Was bedeutet das für unser Land?
Nationalrätin Yvette Estermann Es verletzt die Neutralität, aber es stellt sich auch die Frage, wann wurde jemals ein Krieg durch Sanktionen beendet. Wen betreffen diese Sanktionen? Doch vor allem die Bevölkerung auf beiden Seiten. Sie betreffen sicher nicht die Mächtigen, auch nicht diejenigen, die die Sanktionen verhängt haben. Die bestehenden Probleme werden nicht angegangen, aber Menschen werden unter Druck gesetzt mit dem Ziel, gegen ihre Regierungen aufzustehen. Aber zuerst leidet die Zivilbevölkerung, deshalb bin ich nicht erfreut, dass der Bundesrat die Sanktionen beschlossen hat.
Warum sehen Sie keinen Sinn in den Sanktionen?
Weil die Sanktionen gegen die Bevölkerung gerichtet sind, sie verlieren z. B. ihre Arbeitsstellen. Aus humanitären Gründen bin ich dagegen. Besteht die Bevölkerung in Russland nicht aus Menschen? Wo ist die Solidarität mit der russischen Bevölkerung? Sind nur die Ukrainer Menschen, denen man helfen muss? Sehr viele Menschen werden in Russland unter den Sanktionen leiden, auch hier in der Schweiz. Es werden Arbeitsplätze in der Schweiz verlorengehen, und man fragt sich natürlich, ob das nicht noch mehr den Krieg befeuert.
Ist das Vorgehen des Bundesrats mit der Neutralität vereinbar?
Vor ein paar Jahren, als Bundesrätin Calmy-Rey den Begriff der aktiven Neutralität prägte, regte ich mich etwas auf. Inzwischen muss ich feststellen, dass das ganz harmlos war im Gegensatz zu dem, was wir heute von unseren Politikern hören. Die Schweiz muss sich bewusst sein, dass die Neutralität im Zweiten Weltkrieg ganz entscheidend für unser Land war. Wir verdanken diese unter anderem dem russischen Zaren, der in Frédéric-César de La Harpe einen Mentor und Lehrer aus der Schweiz hatte. Durch ihn fühlte sich der Zar zeit seines Lebens mit der Schweiz verbunden und setzte sich vor über 200 Jahren auf dem Wiener Kongress 1815 massgeblich für die völkerrechtliche Anerkennung der Schweizer Neutralität ein. Manchmal frage ich mich, wo das Bewusstsein darüber geblieben ist. Vielleicht muss die Neutralität erst verloren gehen, bevor man ihren Wert schätzen kann. Aber dann ist es in der Regel zu spät.
Was hätte die Schweiz tun sollen?
Sie hätte den Weg der Verhandlungen gehen müssen und nicht die Sanktionen des Westens übernehmen, die nichts anderes als eine Provokation darstellen. Anstatt sich mit den Konfliktparteien an einen Tisch zu setzen, hat man Sanktionen ergriffen. Sind diese tatsächlich das Mittel, um diesen Krieg zu beenden, um auf diesen Krieg zu reagieren? Giesst man damit nicht noch mehr Öl ins Feuer?
Der französische Aussenminister sagte, dass das russische Volk unter den Sanktionen leiden müsse. Was sagen Sie zu dieser Aussage?
Das ist die Strategie, die man verfolgt. Vor ein paar Jahren war ich in Moskau an einem Gesundheitskongress und habe mit den Menschen gesprochen. Ich bin sicher, dass viele Staatschefs hier im Westen Putin um die Unterstützung durch seine Bevölkerung beneiden. Ich habe nicht mit Politikern gesprochen, sondern mit der Bevölkerung. Sie alle zeigten Bewunderung für Putin, und das soll mit den Sanktionen geändert werden. Man will, dass die Menschen, die gestern noch zu ihm gestanden sind, sich heute gegen ihn auflehnen. Ein US-amerikanischer Senator hat dazu aufgerufen, Putin umzubringen, damit tue man Gutes für die Menschheit. Wenn so eine Stimmung herrscht, dass man dazu aufruft, Menschen zu töten, wohin soll das führen! So wird man keinen Krieg beenden.
Warum hat der Bundesrat diesen Schritt getan und den Weg der Neutralität verlassen?
Ich denke, dass der Bundesrat ein Opfer des Friedens und des Wohlstands ist. Wenn man immer auf der sonnigen Seite steht, sich nie dem kalten eisigen Wind entgegenstellen muss, knickt man beim ersten Sturm ein. Aber es ist nicht allein der Bundesrat. Schauen Sie sich das Parlament und grosse Teile der Bevölkerung an. Die Menschen sind zu wenig gewappnet für Krisensituationen.
Bei der älteren Generation ist das anders…
Ja, die älteren Menschen, die Entbehrungen und Not noch erlebt haben, zeigen eine gewisse Robustheit, auch einmal schwierige Zeiten zu durchleben. Das ist auch der Unterschied zwischen Ost und West. Dort waren die Menschen gewohnt, dem kalten Wind ausgesetzt zu sein. Hier im Westen ging es lange gut. Es fehlt die Erfahrung, mit einer Krise fertigzuwerden. Das haben wir bei Corona erlebt und jetzt bei der kriegerischen Auseinandersetzung. Auch dürfen wir die Medien nicht vergessen, die eine extreme Stimmung gegen Russland erzeugt haben. Der Westen hat sehr viel falsch gemacht.
Inwiefern?
Die Provokationen gegenüber Russland in den letzten Jahren und das Ignorieren der russischen Bemühungen für mehr Frieden und Zusammenarbeit hat jetzt zu Opfern auf beiden Seiten geführt. Das geht auch auf das Konto des Westens, insbesondere der Nato. Es ist nicht nur der Aggressor Putin, sondern der Westen ist schuld dran, dass es so weit gekommen ist.
Beim letzten Sicherheitsbericht der ETH finden 95 % der Bevölkerung die Neutralität äusserst wichtig. Warum haben die Menschen nicht darauf reagiert, als der Bundesrat die Sanktionen der EU übernommen hat und damit den Weg der Neutralität verlassen hat? Er selbst sprach ja sogar von einer Wende.
Die Menschen sehen die Konsequenzen nicht. Die Medien haben das gefordert und sekundiert. Die Menschen kennen die Geschichte zu wenig. Ich wünsche mir mehr geschichtliches Bewusstsein auch hier im Parlament. Wer kann in der aktuellen Situation jetzt noch Verhandlungen anbieten, und wer kann für Frieden sorgen?
Passt es nicht zum schleichenden Abbau der Neutralität?
Ja, ich kann mich erinnern, als ich noch zur Schule ging, dass die Schweiz immer wieder erwähnt wurde als ein Ort, an dem Friedensgespräche geführt wurden. Genf stand immer im Vordergrund. Das ist in den letzten Jahren weniger geworden. Das darf doch nicht sein, dass wir den grössten Schatz, den wir haben, um Menschen zu verbinden und für den Frieden zu wirken mit einem Handstreich weggeben, nur weil es Druck vom Ausland und den Medien gab. Ich möchte gerne wissen, wer jetzt bereit ist, Friedensgespräche zu führen, die auch von den Konfliktparteien akzeptiert werden. Die Schweiz ist schon weggefallen. Haben wir mit diesem Schritt den Krieg beendet und das Leid der Menschen gemildert? Nein, das haben wir nicht. Aber wir haben die Möglichkeit, für den Frieden zu wirken, achtlos verspielt.
Frau Nationalrätin Estermann, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser^
«Die Neutralität ist ein Friedenskonzept»
«Ein Schritt Richtung Nato wäre völlig falsch und verheerend»
Interview mit Nationalrat Lukas Reimann
Zeitgeschehen im Fokus Welche Auswirkungen hat die Übernahme der EU-Sanktionen auf die Schweiz?
Nationalrat Lukas Reimann Es ist ein Bruch mit der bisherigen Aussenpolitik. Neutralität ist mehr, als sich nicht auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Die Neutralität ist ein Friedenskonzept. Man beteiligt sich nicht an Kriegen, schickt die eigenen Söhne nicht in den Tod. Dafür bietet man einen Ort, eine Plattform an, bei der sich die Konfliktparteien an einen Tisch setzen können, um zu verhandeln. Es muss einen Platz auf dieser Welt geben, der neutral ist und wo man sich treffen kann, um Zwistigkeiten zu verhandeln und schliesslich beizulegen. Es ist sicher kein Zufall, dass sich Biden und Putin vor einigen Monaten in Genf getroffen haben. Das nächste Treffen, soweit es eines geben sollte, wird kaum in der Schweiz stattfinden.
Warum nicht?
Weil wir seit der vollständigen Übernahme der EU-Sanktionen nicht mehr als neutraler Staat angesehen werden, weder von der Seite, auf die wir uns geschlagen haben, noch von der anderen Seite. Dabei geht es nicht darum, mit der Neutralität Geld zu verdienen, indem andere Länder mit Hilfe der Schweiz die Sanktionen umgehen können. Das würde ich auch nicht unterstützen. Aber es heisst auch nicht, dass man selbst Sanktionen ergreift. Letztlich war es ein Entscheid der EU, Sanktionen zu ergreifen, über deren Nutzen auch zu diskutieren ist, und nicht ein Entscheid der Schweiz.
Die Frage stellt sich natürlich, was und wem die Sanktionen nützen.
Ja, wenn man sich die Sanktionen, die gegenüber anderen Ländern ergriffen worden sind, anschaut, dann leidet am meisten die Zivilbevölkerung, und zwar immer die Ärmsten. Das sieht man in Syrien, im Iran, in Venezuela etc. Ich war während der Sanktionen im Iran. Die Menschen sagten, sie könnten alles kaufen, aber zu horrenden Preisen. Der Handel läuft über andere Staaten z. B. Dubai, und die wollen auch noch Geld damit verdienen. Aber, ob das dazu führt, den Konflikt zu verringern, ist fraglich. Es hat den Konflikt eher verschärft und im Falle von Iran die radikalen Kräfte gestärkt.
Die Idee mit Sanktionen die Bevölkerung gegen die eigene Regierung aufzubringen ist ein angelsächsisches Prinzip, das nicht einmal im Zweiten Weltkrieg funktioniert hat.
Wenn man meint, man könne Russland mit Sanktionen in Bedrängnis bringen, müsste die USA wohl erst einmal selbst von russischem Öl unabhängig werden. Sanktionen dort zu verhängen, wo es vor allem andere Länder trifft und die eigenen Bedürfnisse weiter gestillt werden können, ist doch äusserst fragwürdig.
Welche Rolle könnte die Schweiz jetzt einnehmen? Müsste man nicht aus den Sanktionen wieder aussteigen?
Der Schaden ist angerichtet. Ich weiss auch nicht, wie man da wieder herauskommt. Bei der Krim-Krise 2014 war die Position der Schweiz nicht schlecht. Wir hatten den OSZE-Vorsitz und versuchten, die Leute an einen Tisch zu bringen und zu verhandeln. Ich sehe die Schweiz nicht mehr als neutralen Verhandlungspartner. Es werden Staaten, die nicht auf der Liste der «unfreundlichen Staaten» aufgeführt sind, im Vordergrund stehen wie Israel, die Türkei oder gar Saudi-Arabien.
Was hat den Bundesrat dazu getrieben, diesen Weg zu gehen?
Cassis hat gesagt, wir wollen ein verlässlicher Partner für die westlichen Mächte bleiben. Man wird die Schweiz unter Druck gesetzt haben, ob von Brüssel oder Washington, von irgendwo kam der Druck. Dazu kommt noch die Mehrheit im Parlament. Am Anfang hat der Bundesrat noch gesagt: Wir bleiben neutral. Aber im Parlament war so eine Stimmung für die Übernahme der Sanktionen, dass der Bundesrat dem zuvorkommen wollte und bereits am Sonntag den Schritt vollzogen hat. Das Parlament trägt hier eine grosse Verantwortung für diese Entwicklung.
Damit ist der Uno-Sicherheitsratssitz wahrscheinlich noch weniger in Frage gestellt?
Für mich bleibt er ein Problem. Wegen der Frage der Neutralität war ich schon 2002 gegen einen Uno-Beitritt, obwohl man uns seitens des Bundesrats weisgemacht hat, dass es mit der Neutralität kein Problem sei und dass wir auf keinen Fall einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat anstrebten. Wir haben noch all die Aussagen und Dokumente, die diese Versprechungen belegen. Heute schert sich niemand mehr darum. Er geht davon aus, dass das Volk «so dumm sei» und das schon längst vergessen habe. Die Abstimmung war damals ganz knapp zu Gunsten eines Uno-Beitritts ausgegangen, und es war die dritte Abstimmung seit der Gründung der Uno 1945. Zweimal hatte das Volk bereits Nein gesagt.
Ein weiterer Punkt ist, dass SP-Nationalrätin Seiler-Graf, die sich gegen den US-Kampfjet engagiert, wieder einmal eine Annäherung an das Kriegsbündnis Nato verlangt.
Ich muss sagen, in der heutigen Stimmung halte ich nichts mehr für ausgeschlossen. Ein solcher Schritt Richtung Nato wäre völlig falsch und verheerend. Neutralität hat zwei positive Aspekte: Erstens man wird nicht zur Konfliktpartei und gefährdet dadurch nicht die Sicherheit der Schweiz. Zweitens, man bietet die Guten Dienste an. Es ist sicher kein Zufall, dass der Hauptsitz des IKRK in der Schweiz ist sowie andere internationale Hilfsorganisationen wie die Uno etc. in unserem Land beheimatet sind. Es war klar, dass die Schweiz allen Opfern eines Konflikts hilft, unabhängig davon, ob das ein verletzter ukrainischer oder russischer Soldat ist. Die Schweiz muss sich jetzt überlegen, von welchem Land aus sie operieren will und schadet damit den leidenden Menschen vor Ort.
Herr Nationalrat Reimann, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser^
Die Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich.
von Dr. Christian Müller*
Die sieben Mitglieder der Schweizer Regierung – der Bundesrat, wie die Regierung in der Schweiz heisst – haben es am 28. Februar 2022 geschafft, in den Schweizer Geschichtsbüchern der Zukunft namentlich aufgeführt zu werden: Sie haben die 173 Jahre alte verfassungsmässige Neutralität der Schweiz beerdigt und Genf als international hochgeschätzten politischen Konferenzort liquidiert. Der EU wollte die Schweiz noch nie beitreten, sie bevorzugte immer bilaterale Abkommen oder, wie gerade jetzt wieder, Probleme auszusitzen und Distanz zu halten. Ihr Interesse galt immer nur dem Marktzugang zur EU. Und sogar die neuen Kampfjets für die Armee sollen nicht von einem Unternehmen in der EU, sondern von den USA gekauft werden.
Jetzt aber, am vergangenen Montag, hat der Schweizer Bundesrat beschlossen, die EU-Sanktionen gegen Russland vollständig zu übernehmen. Ausgerechnet die Sanktionen der EU, um der einen Seite des Konflikts massiv zu schaden.
Wie stolz war doch die Schweiz – seit 1848 verfassungsmässig ein neutraler Bundesstaat – in all den Zeiten auf ihre humanitäre Tradition, nachdem der Genfer Bürger Henry Dunant im Jahr 1863 das Rote Kreuz – das IKRK, wie es heute heisst – gegründet hatte. Wie stolz durfte die Schweiz darauf sein, zwischen international verfeindeten Ländern als Vermittler eingesetzt zu werden, USA/Kuba, USA/Iran, oder auch bis heute als militärischer Grenzwächter zwischen Nord- und Südkorea. Aber ausgerechnet jetzt, wo die russische Regierung aufgrund der von Russland geforderten und von den USA und der Nato verweigerten Sicherheitsgarantien – leider! – mit dem Angriff auf die Ukraine den USA und der Nato zu zeigen versucht, dass sie die weltweite Hegemonie der USA nicht akzeptiert und nicht akzeptiert, dass Länder an Russlands Grenzen von den USA gesteuert werden, wie es im Falle der Ukraine seit dem Euromaidan und dem Regime Change im Jahr 2014 der Fall ist – inklusive enge militärische Zusammenarbeit USA/Ukraine und inklusive massive Waffenlieferungen der westlichen Staaten an die Ukraine – ausgerechnet jetzt übernimmt die Schweiz pauschal alle EU-Sanktionen gegen Russland.
Genau in diesen schweren Tagen wäre nichts so dringlich erforderlich wie Vermittler, die keiner Seite zugehören. Die Schweiz wäre nach 2014 prädestiniert gewesen, der Ukraine zu zeigen, wie man auch mehrsprachig und mit unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen friedlich zusammenleben kann. Die damalige «Schweiz» wurde 1815 vom Wiener Kongress verpflichtet, neutral zu sein, damit die Alpenübergänge nicht in die Hände einer Grossmacht fallen. Die Schweiz hätte – der eigenen Geschichte Folge leistend – der Ukraine zeigen können, wie man als neutraler Brückenstaat zwischen den Grossmächten sogar sehr erfolgreich leben und wirtschaften kann. Sie hat es nicht gemacht. Aber jetzt, wo ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei Grossmächten in nächster Nähe stattfindet, vergisst man die Erfolgsgeschichte des neutralen Staates und übernimmt die Sanktionen der EU gegen Russland vollständig. Selbst der russische Aussenminister Lawrow darf nicht mehr nach Genf zu Verhandlungen reisen. China, Indien (!), Afrika und ganz Lateinamerika haben begriffen, dass es in der Ukraine nicht um die Ukraine geht, sondern um einen Krieg gegen den Anspruch der USA, die ganze Welt zu beherrschen. Sie alle haben deshalb keine Sanktionen gegen Russland ergriffen, weil auch sie keine Weltherrschaft der USA befürworten.
Ich bin studierter Historiker und habe die West-Ost-Konflikte der letzten 30 Jahre als Journalist aufmerksam verfolgt. In Bern hat man das offensichtlich nicht gemacht. Heute schäme ich mich für meinen roten Pass.
* Christian Müller, freier Journalist und Mitglied der Redaktionsleitung der Schweizer Internetzeitung «Infosperber». Anfang März kündigte Infosperber die langjährige Zusammenarbeit mit ihm auf, weil er «keine Kritik an Putin» geäussert habe.
Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.
Quelle: www.nachdenkseiten.de/?p=81474^
«Kriegslogik durch Friedenslogik ersetzen»
Unverteidigte Städte im Ukraine-Krieg – eine Chance für den Frieden
von Prof. Dr. Norman Paech*
Niemand weiss, wie der Krieg weitergehen wird. Ob und wann er mit einem Friedensabkommen beendet werden kann, ist ebenso ungewiss. Bis dahin aber, und darüber gibt es keine Zweifel, werden die Kämpfe stärker, die Opfer an Menschen zahlreicher und die Zerstörungen immer furchtbarer. Es wird zwar über die Einrichtungen humanitärer Korridore aus den Städten gesprochen, aber sie schützen nicht vor der Zerstörung der Städte.
Es wird auf oberer und oberster politischer Ebene untereinander und mit Vermittlern gesprochen, aber wir wissen nicht worüber. Nur eines ist sicher. Die ökonomische und politische Konfrontation soll mit noch härteren Sanktionen verschärft werden, und der Widerstand gegen die russische militärische Übermacht, d. h. der Krieg, soll mit der Lieferung neuer und wirksamerer Waffen gestärkt und verlängert werden. Die Voraussetzungen für einen strategischen Kompromiss zwischen USA/Nato und Russland sind offensichtlich noch nicht gegeben. Die Ukraine liefert in diesem nach dem Untergang des Ostblocks 1989/1990 neuen kalten Krieg nur das bedauerliche heisse Schlachtfeld, welches allerdings im «Grossen Schachbrett» von Zbigniew Brzeziński schon vor 25 Jahren vorausgesagt worden war.
In der Friedensbewegung wird gefordert, die Kriegslogik durch eine Friedenslogik zu ersetzen: «Deeskalation, Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, Rückzug der Waffen, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas.» Alles alte Mahnungen, ein Reden gegen die Wand.
Es fragt sich doch: Gibt es für die Menschen auf diesem Schlachtfeld keine andere Alternative, als in dem blutigen Kampf um die strategische Oberhoheit im mehr oder weniger heroischen Widerstand unterzugehen? Die Vorstellung vom möglichen Frieden ist offensichtlich immer noch so sehr militarisiert, dass in ihnen Überlegungen einer Kapitulation oder der Erklärung zu «unverteidigten Städten» als blanker Defätismus undenkbar sind. Eine Kapitulation ist ein offensichtliches no go, auch weil der ehemalige ukrainische und moskaunahe Präsident Viktor Janukowitsch das vom gegenwärtigen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj gefordert hat. Wäre es aber nicht möglich, die Waffenstillstandsverhandlungen dadurch zu beschleunigen, dass die derzeit belagerten und am meisten gefährdeten Städte Kiew, Mariupol und Charkow, aber auch Odessa und andere Orte sich zu «unverteidigten Stätten» erklären? Die Haager Landkriegsordnung von 1907 hat diese Möglichkeit zum ersten Mal in Artikel 25 definiert: «Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschiessen.» So allgemein und unscharf dieser Ausweg formuliert ist, er ist während des Zweiten Weltkriegs von zahlreichen Städten in der Angst vor der brutalen Kriegsführung der Nazi gewählt worden: Rotterdam 1940, Paris, Brüssel, Belgrad 1941, Rom 1943, Orvieto, Florenz, Athen 1944 etc. Nicht immer hat diese Erklärung die Städte vor der brutalen Zerstörung durch die deutsche Armee bewahrt. So wurden Rotterdam und Belgrad von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Noch kurz vor Kriegsende im April 1945 konnten sich zwei deutsche Städte, Ahlen und Gotha, erfolgreich vor den Angriffen der Alliierten durch ihre Erklärung zu «offenen Städten» schützen. Magdeburg hingegen erklärte sich am 7. April 1945 nicht zur «offenen Stadt» sondern zur Festung, die sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würde. Nach einem schweren Luftangriff 12 Tage später wurde die Stadt nahezu dem Erdboden gleichgemacht und von den Amerikanern besetzt. 1977 wurde das Konzept vom 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 in Art. 59 fast wortgleich übernommen. Es wurden nur einige Voraussetzungen für die Erklärung in Absatz zwei hinzugefügt: So müssen alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung verlegt worden sein. Militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden. Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen. Schliesslich darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden.
In den Kriegen der Nachkriegszeit, vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis zu den Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien spielten «unverteidigte Städte» als effektiver Schutz vor Zerstörung und Vernichtung faktisch keine Rolle. Das humanitäre Völkerrecht der Haager und Genfer Konventionen ging in den Kampfhandlungen regelmässig unter. Die zahlreichen Kriegsverbrechen wurden nur im Jugoslawienkrieg und dort vorwiegend nur gegen Serben, Kroaten, Kosovo-Albaner und Bosnier verfolgt. Die Seite der Angreifer, der Nato, blieb ungeschoren. Es war schliesslich ihr Gericht.
Das Konzept der «unverteidigten Orte» ist aus dem humanitären Völkerrecht nicht getilgt worden. Es ist vergessen worden. Was spricht dagegen, es jetzt wieder hervorzuholen? Die Vereinbarung eines Waffenstillstandes ist ungewiss und mag noch lange auf sich warten lassen. Die Opfer und das Leiden, Flucht oder Tod sind das Einzige, was die Menschen in den belagerten Städten mit Sicherheit erreichen werden. Sie haben faktisch nur die Wahl zwischen einer russischen Besatzung in einer halbwegs noch intakten oder weitgehend zerstörten Stadt. In der Kriegslogik mag die Übergabe der «offenen Stadt» als Feigheit vor dem Feind gelten, in der Friedenslogik ist es die Klugheit vor einem Gegner, mit dem man sich in einer verträglichen Form auch nach dem Krieg arrangieren muss – um der Menschen willen.
* Norman Paech, studierte Geschichte und Jura und war u. a. Professor für Politische Wissenschaft und Öffentliches Recht. Von 2005-2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestags und aussenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.
Quelle: www.norman-paech.de^
Syrien: «Das Land wird regelrecht ausgeplündert»
Interview mit Karin Leukefeld*
Zeitgeschehen im Fokus Inwieweit hat sich die Lage in Syrien beruhigt? Was haben Sie nach Ihren beiden letzten Reisen dorthin für einen Eindruck gewonnen?
Karin Leukefeld Es gibt weiterhin militärische Auseinandersetzungen in Idlib, über die ab und zu berichtet wird. Auch die türkische Armee führt Angriffe im Norden und Nordosten des Landes durch, vor allem gegen Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die von den Kurden geführt werden. Vor kurzem hatten wir in Idlib auch einen gezielten Angriff der US-Armee auf einen Anführer von Al-Kaida, der dabei getötet wurde und mit ihm seine gesamte Familie und weitere Zivilisten. Die Uno hat diesen Vorfall kritisch kommentiert. Das sind die Frontlinien, die es aktuell gibt.
Karin Leukefeld (Bild zvg)
Die Truppen der Türkei sind immer noch auf syrischem Boden aktiv und verletzten damit die syrische Souveränität?
Ja, die Situation hat sich von Seiten der Türkei sogar verschärft. Sie hat sowohl den Norden Idlibs als auch das Gebiet westlich von Aleppo, Afrin, unter Kontrolle. Ein Gebiet, das zu etwa 80 % von Kurden bewohnt war und 2018 von der Türkei besetzt wurde. Heute leben dort dschihadistische Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden.
Wie sieht das im Norden an der syrischen Grenze aus?
Nördlich von Aleppo gibt es einen Streifen entlang der Grenze, in dem die Türkei versucht, eine Pufferzone 30 Kilometer tief in das syrische Territorium hinein einzurichten. Das macht sie zum Teil mit dem Bau einer Mauer. Nördlich von Aleppo, an der Autobahn, die von Aleppo in die Türkei führt, liegt der Ort Azaz. Dort verläuft zudem eine wichtige Schmuggelroute vom Nordosten nach Idlib. Die Türkei hat südlich der Stadt teilweise eine Mauer gebaut. Menschen, die dorthin geflohen sind, kommen kaum mehr aus dieser Stadt heraus.
Wie begründet die Türkei diesen illegalen Schritt?
Sie sagt, es sei, um die Menschen vor den syrischen Kurden zu schützen, aber de facto ist es eine illegale Landnahme durch die Türkei. Es ist ein sehr fruchtbares Gebiet, in dem es sehr viel Landwirtschaft und vor allem Olivenhaine gibt. Olivenöl und Oliven sind ein wichtiger Bestandteil der syrischen Landwirtschaft und der Agrarindustrie. In den Gebieten, die die Türkei kontrolliert – das heisst, sie ist dort entweder militärisch präsent oder mit Gruppen vertreten, die sie militärisch oder wirtschaftlich unterstützt – versucht sie, in den Schulen die türkische Sprache durchzusetzen. Es soll die türkische Fahne gehisst und die türkische Währung eingesetzt werden. Es gibt Postämter, in denen türkische Briefmarken verkauft werden. Es ist wie eine Kolonialisierung.
Hier liegt ganz offensichtlich eine Verletzung der territorialen Integrität Syriens durch einen Nato-Mitgliedstaat vor. Wo wird das thematisiert?
Die syrische Seite bringt das immer wieder auf, auch die Russen haben das im Uno-Sicherheitsrat thematisiert. Aber in der Uno ist der Einfluss des Westens so gross, dass bestimmte Themen nicht an die Öffentlichkeit dringen. Die Türkei als Nato-Mitglied macht das natürlich auch mit der Rückendeckung des Westens. Der sieht nicht nur zu, sondern die EU nutzt diese Territorien, um Hilfsorganisationen dort zu unterstützen und so Einfluss zu nehmen.
Diese doppelten Standards, die teilweise in der Uno herrschen, sind unglaublich…
Ich hatte mit dem syrischen Aussenminister ein Gespräch, der auch auf diese Vorgänge aufmerksam machte. Er hob hervor, dass selbst Vereinbarungen, die man mit dem Westen treffe, nicht umgesetzt werden könnten. Das geschieht selbst bei der Uno-Sicherheitsratsresolution 2585, die im Sommer 2021 verabschiedet wurde und die die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe nach Idlib regelt, die es aus der Türkei immer noch gibt. In dieser Resolution ist aber auch festgehalten, dass es humanitäre Hilfe aus Syrien in die Gebiete geben soll, die von der Türkei kontrolliert und besetzt gehalten werden. Die Türkei verweigert das aber. Wenn diese Resolutionen, die zeitlich begrenzt sind, verlängert werden sollen, gibt es immer ein riesiges Medienspektakel. Und meistens heisst es dann, Syrien weigere sich, die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe zuzulassen und hungere das eigene Volk aus. De facto ist es aber so, dass diese Hilfe, die in Gebiete unter der Kontrolle der Türkei kommt oder auch zu den Kräften im Nordosten des Landes, von politischen Akteuren genutzt wird. Diese Hilfe wird teilweise verkauft.
Wie geschieht das?
Die bewaffneten Gruppen in Idlib eignen sich diese Güter an, kontrollieren diese und verkaufen sie nachher an die notleidende Bevölkerung. Es gibt Berichte von den USA, die das untersucht haben und deswegen Lieferungen teilweise eingestellt haben, aber die EU ändert nichts an ihrer Praxis.
Es gab doch den Vorschlag, dass die Türkei gemeinsam mit Russland Patrouillen durchführen sollte. Wird das gemacht?
Ja, diese Patrouillen gibt es tatsächlich entlang der Autobahn von Aleppo nach Mosul. Das ist eine strategisch wichtige Verbindung. In Idlib gibt es die Patrouillen ebenfalls. Auch hier verläuft eine Autobahnverbindung zwischen Aleppo und Latakia. Das ist die grosse Hafenstadt im Westen des Landes. Diese Vereinbarung wird immer wieder durch Angriffe unterminiert, vor allem auf den russischen Teil der Patrouillen. Das sind Dschihadisten, die diese Angriffe durchführen.
Können die Patrouillen so ihre Aufgabe überhaupt wahrnehmen?
Das ist ein ständiges Hin und Her. Die Patrouillen werden nicht akzeptiert und darum immer wieder zur Zielscheibe. Es ist schwierig und mit ständigen Hindernissen verbunden, aber für Russland ist es eine Möglichkeit, die Türkei einzubinden. Die Politik Russlands in Syrien ist eine Gratwanderung.
Wie stellt sich das Leben für die Menschen in Syrien nach nahezu 11 Jahren Krieg dar?
Die Lage der Bevölkerung ist schlecht, besonders die Versorgungslage. Die Inflation ist sehr hoch, die Preise für Grundnahrungsmittel steigen fast täglich. Es ist schwierig, Arbeit zu finden. Manche Personen haben drei oder vier Jobs am Tag. Sie nehmen alles, auch wenn sie nur etwas austragen, um ein bisschen Geld zu verdienen, damit sie die Familie ernähren können. Durch die Inflation ist vieles sehr teuer geworden.
Wie steht es denn um die Energieversorgung im Land?
Die Versorgung mit Strom, Heizöl, Gas – damit wird in Syrien gekocht – ist ausserordentlich schlecht. Die Energieträger sind teuer. Bisher hat die Bevölkerung eigentlich – und das nahezu seit der Gründung der Syrischen-Arabischen Republik – die Grundnahrungsmittel, aber auch Benzin subventioniert bekommen. Das heisst, es gab feste Preise. Dafür brauchte es früher ein Familienbuch, jetzt hat man eine Smartcard eingeführt. Diese Unterstützung hat der Staat gerade jetzt beendet. Er kann das nicht mehr finanzieren.
Ist das ein Resultat der ganzen widrigen Umstände?
Um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, muss der Staat die Grundnahrungsmittel sowie Öl und Gas importieren und dafür bezahlen.
Warum das?
Weil dem Staat der Zugriff auf die eigenen Ressourcen verwehrt bleibt. Syrien hat genug Weizen, Syrien hat genug Gas, aber diese Gebiete liegen im Nordosten des Landes und werden von den SDF, den Kurden und den USA besetzt gehalten und kontrolliert.
Die grössten Ölfelder in Rmeilan und das Omari-Ölfeld sind ausgedehnte Gebiete, in denen Öl zu finden ist. Dort befinden sich US-amerikanisches und kurdisches Militär, genauer gesagt die kurdisch geführten SDF. Die grossen Weizengebiete nördlich des Euphrat in Hassakeh und in Raqqah werden von den gleichen Kräften kontrolliert. Die Öl-Ressourcen, die lange Zeit wild geplündert wurden, haben zu einer immensen Umweltverschmutzung geführt, über die niemand bei uns berichtet. Im Jahr 2020 hat ein US-amerikanisches Unternehmen mit den SDF einen Vertrag ausgehandelt, um dort in Rmeilan eine Raffinerie aufzubauen. Sie sollen dort Öl fördern, es säubern sowie raffinieren, um es anschliessend zu verkaufen. Es ist aber eine syrische nationale Ressource.
Heisst das, das Land verfügt nicht mehr über seine überlebenswichtigen Ressourcen?
Ja, das Land wird regelrecht ausgeplündert. Die einzigen, die das immer wieder thematisieren und auf das Unrecht hinweisen, sind Syrien selbst und die Russische Föderation. Es gibt zumindest einen Bericht von US-Aid, die staatliche Entwicklungshilfeorganisation des US-Aussenministeriums, die ganz klar sagt, dass die Sanktionen dazu führen, dass eine immense Inflation besteht und auf der anderen Seite der Schwarzmarkt und der Schmuggel gefördert werden.
Was geschieht mit dem geplünderten Öl?
Hier haben wir den gleichen Vorgang wie mit dem Weizen. Das Öl wird verkauft. Es gelangt zunächst über die Nordost-Grenze in den Nordirak und von dort in die Türkei. Diejenigen, die das Öl befördern, sind kurdische oder amerikanische Geschäftsleute, die dafür sorgen, dass es sichere Transportwege gibt, damit es mit Tanklastwagen herausgebracht werden kann. Das Öl wird z. B. auch nach Idlib geliefert sowie in die von der Türkei gehaltenen Gebiete westlich und nördlich von Aleppo.
Wie kommt nun der Staat, der der rechtmässige Besitzer des Öls ist, zu seinem benötigten Erdöl?
Syrien importiert Öl aus dem Iran, was auch schon behindert wurde. Erinnern wir uns an die Festsetzung des iranischen Öltankers Grace 1 durch britische Sondereinheiten vor Gibraltar im Sommer 2019. Das geschah auf Anordnung der USA. Das Schiff wurde 6 Wochen lang festgehalten, bis ein Gericht dieses Piratenstück für illegal erklärte.
Und wie ist es mit dem eigenen Öl?
Ein syrischer Geschäftsmann kauft dort im Nordosten Öl ein und verkauft es dann an die syrische Regierung. Der Staat muss also für sein eigenes Öl bezahlen. Ich habe diese Transporte mit eigenen Augen gesehen. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, traute ich meinen Augen kaum. An der Grenze bei Manbij standen über 100 Tanklastwagen. Es kam einem vor wie eine Fata Morgana. Heute ist das formalisiert. Die LKWs fahren auf bestimmten Wegen, die bekannt sind. Auf diese Weise versuchen alle, von diesem Öl, das – wie gesagt – dem Staat Syrien gehört, zu profitieren. Die Geschäftsleute, die diesen Handel betreiben, können Einfluss auf die politischen Akteure nehmen. Die syrische Regierung ist de facto auf diese Geschäftsleute angewiesen, die das Öl einkaufen und an die Regierung weiterverkaufen.
Als der IS das Gebiet besetzt gehalten hatte, so erzählte mir ein türkisch-kurdischer Journalist vor einiger Zeit, hätten sie das Öl ausgebeutet und mit Tanklastwagen an die türkische Grenze gebracht und dort verkauft…
Ja, genau so war es. Als ich 2012, zu Beginn des Krieges, in Syrien war, traf ich Ingenieure, die in diesem Gebiet auf den Ölfeldern gearbeitet hatten. Dort gab es eine gut ausgebaute Infrastruktur für die Ingenieure und ihre Familien: Wohnanlagen, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten usw. Die Ölfelder waren vor dem Krieg in den Jahren bis 2010/11 von internationalen Ölfirmen komplett renoviert worden. Die syrische Bevölkerung, die dort gelebt und gearbeitet hatte, wurde von der «Freien Syrischen Armee» (FSA) vertrieben. Sie waren also Binnenflüchtlinge, die ich in der Nähe von Damaskus in einem Fussballstadion traf, in dem sie untergebracht waren. Nach der FSA hat die Nusra-Front die Ölfelder besetzt und 2014 kam der IS und hat das Öl gefördert. Die USA bombardierten mit Kriegsschiffen vom Persischen Golf aus die Ölanlagen mit der Begründung, dort sitze der IS und den müsse man jetzt vertreiben. Die Anlagen waren danach natürlich zerstört und die Umwelt massiv in Mitleidenschaft gezogen. In der Folge kamen die Kurden zusammen mit den USA in diese Region. Seitdem sind die Ölanlagen unter der Kontrolle der SDF, der Kurden und der USA.
Von diesem Vorgang und den ganzen Folgeschäden für Mensch und Umwelt spricht niemand.
Das ist leider so. Ich habe bei meinem letzten Besuch von einem Ingenieur, der die Umweltverschmutzung fotografiert hat, Fotos erhalten. Es ist verheerend. Wenn der Staat wieder die Kontrolle über diese Gebiete übernehmen kann, wird es eine grosse Anstrengung brauchen, diese Verschmutzung zu beseitigen, und das kostet viel Geld. Die Auswirkungen sieht man auch in Damaskus. Es gibt unzählige Personen, die schwer an Krebs erkrankt sind. Sie kommen vornehmlich aus Hassakah und Deir ez-Zor nach Damaskus, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Die gesundheitlichen Folgen dieser Verschmutzung sind enorm.
Hat sich trotz dieser Umstände das Leben der Menschen etwas «konsolidiert»?
In gewisser Weise schon, aber auf einem unerträglich niedrigen Niveau. Die Menschen können sich bewegen, sie sind nicht mehr in Gefahr durch kriegerische Auseinandersetzung, aber die Armut ist sehr hoch. Es gab Proteste, als der Staat die Subventionierung für die meisten Menschen in Syrien eingestellt hatte. Auch in den Medien und den sozialen Medien gab es Interviews, bei denen die Empörung darüber deutlich wurde. Aber auf der anderen Seite weiss die Bevölkerung auch, in was für einer schwierigen Lage die Regierung sich befindet.
Gibt es einen Aufbau von ziviler Infrastruktur?
Bereits nach 2016, als Aleppo wieder unter der Kontrolle der Regierung stand, hat man Strassen, Brücken, die Wasserversorgungssysteme, die Elektrizität und Krankenhäuser wieder hergestellt. Aber das geht natürlich alles sehr langsam, weil wenig Geld zur Verfügung steht. Gerade bei Krankenhäusern ist es sehr schwierig, die nötigen Gerätschaften zu besorgen, weil Syrien auch nicht die nötigen Devisen besitzt, und das alles zusätzlich zu den bestehenden Sanktionen. Auffällig ist auch, dass sehr wenig Wohnraum wieder hergestellt worden ist. Die Zerstörungen in Homs, in Damaskus und Aleppo sind weiterhin vorhanden.
Woran liegt das?
Es hat damit zu tun, dass es sehr viel privaten Wohnraum gibt von Menschen, die geflohen sind. Von der Gesetzeslage ist es schwierig, dort tätig zu werden. Ausserdem fehlt das Geld. Der Staat will, dass der Westen hilft oder auch die Golfstaaten, die durch die Unterstützung der bewaffneten Gruppen massgeblich zur Zerstörung beigetragen haben. Man sieht privaten Aufbau. Das geschieht durch Privatpersonen, die Geld haben und Häuser wieder errichten oder Geschäfte wiederherstellen, aber nur sehr wenige. Auffällig ist, dass Teile der Altstadt von Aleppo restauriert werden: Moscheen und Kirchen. Dafür scheint Geld vorhanden zu sein, das von aussen kommt. Wenn man die Situation der Bevölkerung sieht, fragt man sich natürlich, warum Moscheen wieder aufgebaut werden, aber nicht die Wohnhäuser. Es ist eine ganz schwierige Lage. Dazu muss man sagen, dass Gebiete mit Hilfsgeldern und Aufbauprojekten unterstützt werden, die nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen.
Wer ist daran beteiligt?
Die EU, Deutschland, die USA haben mit einigen Golfstaaten Fonds aufgelegt, um in diesen Gebieten die zivile Infrastruktur wieder aufzubauen. Das gilt aber nur für die Gebiete, die nicht von Syrien kontrolliert werden. Im kurdischen Gebiet werden z. B. Krankenhäuser gebaut oder Gas- und Stromleitungen gelegt, Strassen wiederhergestellt etc. Die ökonomische Lage in den kurdischen Gebieten, die auch nicht durchgehend kurdisch sind, wird von der Bevölkerung als sehr viel besser beschrieben als in dem Rest des Landes, weil sie, gelinde gesagt, mehr Geld zur Verfügung haben und z. B. das Öl viel billiger bekommen. Viele arbeiten auch für die USA oder für ausländische NGOs oder die SDF. Da werden ganz andere Gehälter bezahlt.
Aufgrund Ihrer eindrücklichen Schilderungen scheint mir die Lage wenig aussichtsreich. Gibt es nirgends kleine Fortschritte?
Doch, es gibt einen kleinen Lichtblick. 1,2 Millionen Menschen sind auch aus den Nachbarländern nach Syrien zurückgekehrt. Dazu zählen die Binnenflüchtlinge, die innerhalb von Syrien vertrieben wurden. 800 000 im eigenen Land Vertriebene konnten wieder in ihre Heimat zurückkehren. Es gibt grosses Interesse von Flüchtlingen in der Türkei, in Ägypten, in Jordanien, im Libanon wieder zurückkehren zu können. Diese Rückkehrwelle wurde gebremst durch das Corona-Virus. Sie konnten nicht aus- oder einreisen. Sie mussten sich testen lassen, das kostet alles sehr viel Geld. Das wurde nicht unterstützt, und so ist diese Rückkehrwelle seit 2020 gebremst. Die syrische Regierung sowie Oppositionelle in Syrien aber auch die Regierungen in Jordanien und Libanon wünschen sich mehr internationale Unterstützung für die Rückkehr der Menschen.
Die Länder um Syrien sind auch schwer von den Flüchtlingen belastet…
Der Libanon hat öfters gesagt, er würde die Rückkehr der Menschen unterstützen, weil es für das kleine Land ein Riesenproblem ist. Aber die Uno, die in der Regel Rückkehrwillige unterstützt, tut es in diesem Fall nicht, weil die Geberländer für diese Uno-Rückkehrprogramme in Europa oder den USA das Geld dafür nicht freigeben. Wenn sie Geld für die Flüchtlinge spenden, dann nur, wenn sie in den Lagern bleiben, aber nicht als Unterstützung für die Heimkehr der Syrer in ihr Land.
Wenn man das alles so hört, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Land Syrien weiterhin attackiert wird, aber auf einer anderen Ebene. Wenn man Geld für Moscheen hat, das von aussen kommt, aber den Menschen in ihrer schwierigen Situation nicht hilft, dann sind doch andere Mechanismen im Spiel.
Ja, das Geld für die Moscheen ist privat gesammelt worden. Die grosse Umayyaden-Moschee in Aleppo wird von einer Stiftung aus Tschetschenien finanziert. Die Restaurierung der Altstadt von Aleppo übernimmt die Aga-Khan-Stiftung. Es sind ausländische Stiftungen, die sich nur darauf konzentrieren.
Führt das nicht zu Unmut in der Bevölkerung?
Die syrische Mentalität spielt hier eine grosse Rolle. Die Menschen sind gläubig, und sie sind sehr gelassen. Sie ergeben sich in dieses Schicksal und versuchen, für sich das Beste daraus zu machen. Man hört von manchem zornige Reden, aber es ist nicht so, dass die Bevölkerung jetzt massiv auf die Strasse geht, um zu protestieren. Sie sagen: «Wir haben keine Zeit zu protestieren. Unser Leben verlangt von uns, dass wir das Beste daraus machen, schauen wir, wie wir über die Runden kommen.» Es gibt sicher Spannungen auch unter den Syrern, z. B. zwischen denjenigen, die für ausländische Hilfsorganisationen arbeiten, auch für die Uno – die verdienen gutes Geld und gleichzeitig entsteht eine neue Elite – und denjenigen, die keinen Zugang zu solchen Jobs haben. Häufig sind das Nachbarn und man weiss, wer einen guten Job bei der Uno hat. Insgesamt kann man nicht sagen, dass sie auf die Barrikaden gehen. Man arrangiert sich mit der Situation.
Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
* Karin Leukefeld, geboren 1954, Studien der Ethnologie, Geschichte, Islam- und Politikwissenschaften. Berichtet seit 2000 als freie Korrespondentin aus dem Nahen und Mittleren Osten für deutschsprachige Tages- und Wochenzeitungen, Hörfunk und Fernsehen. Seit 2010 ist die Journalistin in Syrien akkreditiert.^
Mit Vernunft Chaos und Krisen Grenzen setzen
von Reinhard Koradi
Die Lektüre des Buches «Die Krise hält sich nicht an Regeln» von Max Otte¹ gab mir die Anregung zu diesem Beitrag. Es wird keine Rezension sein, sondern ich greife seine Ausführungen zu den aktuellen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Krisenherden auf, die ich aufgrund meiner Beobachtungen und Erfahrungen beschreiben respektive kommentieren werde. Dabei versuche ich, neben Fakten auch Auswege oder zumindest eine Abfederung der erheblichen Gefahren zu entwickeln, die uns bedrohen. Wenn es mir gelingt, durch meine Gedanken, zu einem interdisziplinären Dialog anzuregen, dann hätte ich mein Ziel als Verfasser dieses Beitrages erreicht.
Spätestens seit der Finanzkrise 2008 taumelt die Welt von einer Krise in die nächste. Die momentane Spitze dürfte die Corona-Pandemie sein, gefolgt vom Krieg in der Ukraine. Beunruhigend ist, dass das Krisenmanagement der Eliten² die Welt bis anhin immer weiter ins Chaos stürzt oder neue Krisenherde hervorbringt (Ukraine). Problematisch ist, dass die Krisenmanager in der Regel die Gewinner der alten und neu geschaffenen chaotischen Zustände sind. An diesen Zuständen wird sich nur etwas ändern, wenn die Menschen zusammenstehen und dem bisher eingeschlagenen Weg den Riegel schieben. Einerseits sollten wir endlich mit den alten Lügen über den Segen des Neoliberalismus, der Globalisierung und des Nutzens eines sogenannt freien Marktes aufräumen, andererseits drängt sich die Rückbesinnung auf die alten traditionellen Werte auf.
Gefordert ist auch der Widerstand gegen die umfassende Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche. Sie ist zu grossen Teilen der Treiber für eine neue, zentralistische und antidemokratische (Welt-) Ordnung. Krisen kennen keine Regeln, schreibt Max Otte in seinem Buch. Richtig, Krisen und Chaos sind durch die masslose Deregulierung und die Entmachtung der Nationalstaaten durch die Globalisierung entstanden. Allerdings steht eine Regel fest wie der Fels in der Brandung: Es gibt in jeder Krise viele Verlierer und nur wenige Profiteure. Auf welcher Seite die «Gewinnler» stehen, kann sich wohl jeder selbst vorstellen.
Die verlorene Orientierung
Die Kumulation von Krisen hat eine einschneidende Destabilisierung der bisherigen Weltordnung eingeleitet. Der Kampf zwischen dem bisherigen Dominator der Weltpolitik (USA) und der aufstrebenden Macht Chinas dürfte letztlich zu einem Systemwechsel führen. Noch versuchen die altgedienten Eliten, ihr System aufrecht zu erhalten. Allerdings zu einem sehr hohen Preis für die Völker. Begleitet wird dieser Prozess durch politische und ökonomische Krisen, die zu teilweise chaotischen Zuständen und Kriegshandlungen führten. Euro-Krise, arabischer Frühling, der Syrien-Konflikt, Aufstände in Hongkong, Gelbwesten in Frankreich, Rassismus, «Fridays for Future», «Black Lives Matter», Ukraine usw. Mit der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine dürfte vorläufig die Spitze von Ausnahmezuständen erreicht worden sein. Es wäre jedoch ein fataler Irrtum, wenn man glaubt, es würde nun wieder etwas Ruhe einkehren. Zu viele Baustellen wurden eröffnet. Weltherrschaftspläne (China/USA), Handelskriege, Sanktionen als Stellvertreter von Waffengängen, Kampf um die Rohstoffe, und die weitverbreitete Orientierungslosigkeit sind Gefahrenherde, die uns noch lange beunruhigen werden.
Die Anhäufung von chaotischen Zuständen nährt die Vermutung, dass es sich wohl kaum um «natürliche Erscheinungen» und auch nicht um Einzelfälle handeln kann. Schon eher beobachten wir eine Kette von einschneidenden Zwängen, die auf eine Erschütterung der bisherigen Ordnung und Machtverhältnisse und damit auch auf die in der Gesellschaft verankerten Grundwerte hinweisen. Die Menschen verlieren ihre Orientierung respektive werden durch perfide Kommunikation und Propaganda bewusst desinformiert oder auch manipuliert. Immer mehr wird die psychologische Manipulation eingesetzt, um die Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Gruppenzwang, (Corona-Pandemie), Angst schüren, Zweifel an den eigenen Wahrnehmungen streuen, leichte Stupser durch gezielte Informationen geben, damit Menschen das tun, was der Zielerreichung der Manipulatoren nützt. Beunruhigen muss uns auch die sich immer weiter ausdehnende Meinungsdiktatur. Andersdenkende (sich gegen die veröffentlichte Meinung stellen) werden umgehend stigmatisiert und ausgegrenzt. Diese tiefgreifenden Interventionen in die Meinungs- und Redefreiheit zerstören Grundlagen innerhalb unserer Gesellschaft und verhindern Dialog- und Kompromissbereitschaft. Der Verdacht liegt nahe, dass die Covid-Pandemie primär als globales Testfeld für Techniken zur Disziplinierung und Einstimmung der Menschen auf eine Einheits-Doktrin geschaffen wurde.
Solche «Aktivitäten» haben das Potenzial, Menschen in die für die Drahtzieher gewünschte Bahn zu lenken (Impfen, Klima, Ernährung usw.) Sie spalten aber auch die Gesellschaft und lösen dadurch den inneren Zusammenhalt auf nationaler Ebene auf.
Könnte die Ausgrenzung der Menschen nicht Teil einer Strategie sein, die zur Auflösung der Nationalstaaten und damit einen Schritt näher zur globalen Diktatur führt?
Gesellschaftspolitisch relevant ist auch die fortschreitende Digitalisierung unseres Lebens. Durch die Corona-Pandemie zusätzlich beschleunigt, wird das digitale Umfeld unser Leben in Zukunft massiv verändern. Homeschooling und Homeoffice zeigen auch, in welche Richtung es gehen soll. Es werden Abhängigkeiten geschaffen und die menschliche Entfremdung so weit vorangetrieben, dass Menschen immer mehr isoliert werden. Wird hier ein neues Aktionsfeld für die Entsolidarisierung und eine weitere Ökonomisierung des Lebens vorbereitet?
Die aufgelöste abendländische Bildung
Mittels Bildung werden kulturelle und nationale Gepflogenheiten an die nächsten Generationen weitergegeben. Diese generationenübergreifende Pflege bewährter Tugenden und Werte wurde in den vergangenen Jahren durch einen massiven Umbau im Bildungswesen aufgelöst. Pisa und Bologna leiteten eine Nivellierung ein, die zerstörerische Spuren im europäischen Bildungswesen hinterliess. Mit dem von der OECD in Gang gebrachten Angriff auf die abendländische Bildungskultur wurde bewusst eine Schwächung der europäischen Identität und Schaffenskraft lanciert. Vielfalt, Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der europäischen Unternehmen erlitten durch den Bildungsabbau einen nachhaltigen Dämpfer. Unter dem Druck der OECD und durch Selbstverschulden manövrierten viele Staaten ihre Bildungspolitik in eine Sackgasse, die uns heute den Ausweg aus den Krisen verbaut.
Wollen wir respektive unsere Nachkommen den Herausforderungen gewachsen sein, die uns in Zukunft bedrängen werden, dann gilt es schleunigst, die Weichen neu zu stellen. Eine auf die nationalen Bedürfnisse abgestimmte Bildungspolitik ist Bedingung, um die notwendigen Voraussetzungen für den Wettbewerb unter den Nationen, die Vielfalt und die Selbstbestimmung zu fördern.
Wir haben uns zu lange durch Schlagwörter wie Digitalisierung, Globalisierung und Ökonomisierung blenden und in die Irre führen lassen. Es wurden völlig falsche Schlussfolgerungen bezüglich der Bildung unserer Jugend gezogen. Wenn wir aufrüsten wollen, um im sich anbahnenden neuen System bestehen zu können dann sollten wir in unseren Schulen wieder lesen und schreiben (Handschrift) sowie rechnen lernen. Zu den notwendigen Grundfertigkeiten gehört auch die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Wer seine Herkunft und die Geschichte seines Vaterlandes, Europas und der Welt nicht kennt, wird nicht fähig sein, sich ein eigenständiges Bild von der heutigen Situation zu machen. Mit anderen Worten, die Menschen können sehr leicht manipuliert und letztlich auch regiert werden. Solange wir nur noch sofort nutzbares technisches und ökonomisches Wissen fördern, werden den Menschen die Grundlagen fehlen, um gesellschaftspolitische Entwicklungen und Zusammenhänge richtig einzuordnen und zu beurteilen.
Demokratie durch Konzernherrschaft bedroht
Nach der Finanzkrise 2008 hätte eigentlich eine schwere Wirtschaftskrise folgen müssen. Die Notenbanken und Regierungen versuchten jedoch mit sämtlichen, auch umstrittenen Massnahmen, einen Einbruch der Wirtschaft zu verhindern. Um ein in die Jahre gekommenes marodes System am Leben zu erhalten, wurden bis anhin geltende Abkommen, Regeln und wirtschafts- und finanzwissenschaftliche Standpunkte völlig übergangen.
Deregulierung und Globalisierung haben die nationalen Volkswirtschaften in Abhängigkeiten getrieben und deren Handlungsspielraum weitgehend zunichte gemacht. Eine unselige Allianz der Mächtigen aus Wirtschaft und Politik haben das Diktat übernommen und eine neoliberale, global ausgerichtete Wirtschaftsdoktrin durchgesetzt. Weil die Märkte unbeschränkt und grenzenlos sind, entstanden riesige Konglomerate. Sie versetzen die Nationalstaaten in Zugzwang und konkurrenzieren sich heute in einem durch Monopole beherrschten Markt. Eine Marktkonstellation, die gigantische Gewinne auf Kosten der Mehrheit erlaubt. Wir beobachten einen erbitterten Konkurrenzkampf um Marktanteile, der mit einem echten Leistungswettbewerb nichts zu tun hat. Anstelle von Innovation, wettbewerbsfähigen Preisen und Qualität beherrschen Finanzkraft und Marktmacht die Märkte. Regionale und nationale Unternehmen werden aufgekauft und gehen in der Regel in transnationalen Konzernen unter. Für die nationalen Volkswirtschaften ein unseliger Prozess, der die Mittelschicht auflöst und der Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Standortattraktivität durch Ausgliederung, Standardisierung und Nivellierung Schaden zufügt.
Durch die Diskriminierung des Staates als Wirtschaftsfaktor (Privatisierung) und die neoliberale Wende wurde das bis anhin äusserst erfolgreiche Wirtschaftssystem (soziale Marktwirtschaft und ausgewogene Finanz- und Haushaltspolitik) destabilisiert. Zusätzlich zur Abkehr von der sozialen Marktwirtschaft in Europa wurde das europäische Bankenwesen immer weiter amerikanisiert. Das europäische Bankensystem orientierte sich an einer traditionell abendländischen Banken-Philosophie. Durch die Übernahme angelsächsischer Gepflogenheiten verrieten die Banken – vor allem in Deutschland und in der Schweiz – ihre auf Stabilität, nachhaltige Entwicklung und Sicherheit ausgerichtete Geschäftspolitik und schlossen sich der vorherrschenden Casinomentalität auf den globalen Finanzmärkten an. Der Finanzkapitalismus hat der Welt auf vielfältiger Weise grossen Schaden zugefügt. Entgegen der neoliberalen Wirtschaftstheorie ist die globale Deregulierung der Finanzmärkte kein Stabilitätsfaktor, sondern ein gefährlicher Risikofaktor und damit Auslöser der aktuellen chaotischen Zustände im Finanz- und Wirtschaftsbereich.
Unter dem Deckmantel eines «demokratischen» Staatensystems und einer vorgetäuschten global liberalisierten Welt werden wir heute durch Konzerne beherrscht.
Die Macht der alten Konzerne hat durch die fortschreitende Digitalisierung noch zusätzlich Schwung aufgenommen. Beunruhigen muss uns die Digitalisierung in der Schule aber auch in der Berufsarbeit durch Homeoffice. Unsere Abhängigkeit von der Technik wächst und damit setzen wir uns einer vermehrt kontrollierten Beeinflussung aus.
Die Dominanz der Wirtschaft über die Politik hat in den letzten Jahren aussergewöhnliche Dimensionen erreicht. Mag sein, dass diese Herrschaft der Finanzaristokratie langsam wankt. So scheint in jüngster Zeit die globale Ordnung etwas aus den Fugen zu geraten, da die Pandemie und die verschärften Krisensymptome die Menschen aufrütteln und die Regierungen sich gezwungen sehen, das Heft wieder etwas mehr in die eigene Hand zu nehmen und die Globalisierung zurückzubinden.
Überstaatliche Organisationen als Totengräber der Demokratie?
Die Politik hat sich im Verlauf der Zeit von ihrer ursprünglichen Zielsetzung, Diener des Volkes zu sein, verabschiedet und sich immer mehr zentralistische Machtbefugnisse zugestanden. Eine Entwicklung, die wohl am ehesten durch die Einflussnahme internationaler Organisationen und global agierender Konzerne auf die inneren Angelegenheiten der Staaten zu erklären ist. Die fortschreitende Zentralisierung und die Herrschaft der Konzerne, teilweise gefördert und gestützt durch transnationale Organisationen Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) zerstörten sowohl die Autonomie der nationalen Staaten als auch nationale Infrastrukturen. Gefördert wird der Verlust der Selbstbestimmung ebenso durch zwischenstaatliche Bündnisse wie EU oder Nato. Die Demokratie ist in jedem Fall die Verliererin der fortschreitenden Zentralisierung durch die Einbindung und Unterwerfung der Nationalstaaten in transnationale Organisationen.
Die Geldpolitik der EZB ist auch eine Gefahr für die Länder ausserhalb der Eurozone
Der Euro ist eine Fehlkonstruktion, der enorme systemische Mängel anhaften. Die Einheitswährung raubt den Staaten innerhalb der Eurozone den dringend notwendigen währungspolitischen Spielraum und unterstellt die Mitgliedstaaten einer risikoreichen Geiselhaft, die allerdings über die Grenzen der Eurozone hinausgreift. Draghis (ehemaliger EZB-Direktor) hyperinflationsträchtige Geldpolitik zog zum Beispiel auch die Schweizer Nationalbank (SNB) mit in den geld- und währungspolitischen Strudel. Auf Grund der internationalen Wettbewerbsfähigkeit musste die SNB durch Aufkäufe von Euros ihre Geldmenge enorm ausweiten und verliess daher ebenfalls die bis anhin gültigen Stabilitätsziele.
Zur Fehlkonstruktion kommt die Manipulation der Zutrittskriterien vor allem durch die südlichen Staaten (Griechenland). Inzwischen werden auch die sogenannten Richtlinien nicht mehr durchgesetzt. Zum Beispiel die Forderung, dass der Verschuldungsgrad einer Nation nicht mehr als 60 % des Bruttoinlandsproduktes betragen darf. Durch die Schuldenkrise und die expansive Geldpolitik der Europäischen Notenbank staut sich in und rund um die Eurozone eine explosive Blase auf, die das Potenzial zu einer dramatischen wirtschaftlichen und politischen Krise beinhaltet. Die Griechenland-Krise, aber auch Zypern hat uns klar aufgezeigt, wer die Folgen der Zahlungsunfähigkeit eines Staates zu tragen hat. Gerettet werden die Geldgeber (Finanzindustrie) auf Kosten des verschuldeten Staates, dessen Bürger und der Bürger der in Geiselhaft genommenen Euro-Mitgliedsländer.
Das gesamte geldpolitische Desaster erhält zudem durch die von den USA gepuschten Dollarschwemme zusätzlichen Sprengstoff. Die Geldmärkte sind derart mit Dollars und Euros überschwemmt, dass eine sogenannt sanfte Bereinigung des angerichteten Unheils kaum mehr möglich sein wird.
Täuschung und Diebstahl am Bürger
Die unverantwortliche Überflutung der Finanzmärkte mit Notenbankgeldern kann im besten Falle noch mit einem Spielkasino verglichen werden. Die durch die masslose Anhäufung der Geldmengen mit Dollars, Euros und Schweizerfranken aufgestaute Spekulationsblase kann jederzeit in sich zusammenbrechen und die Welt in Turbulenzen bringen, deren Auswirkungen sehr einschneidend sein können. Ursprünglich als Ausweg aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gedacht, entpuppt sich die Öffnung des Geldhahns der Notenbanken als ebenso gefährlicher Krisenherd. Irgendwann müssen die Schuldenberge wieder abgebaut werden. Zu hoch sind die Risiken in den überschuldeten Staaten und der aufgeblähten Geldmenge. Zahlungsunfähigkeit, gepaart mit einer enormen Inflationsgefahr, muss gebändigt werden. Dabei wird der Griff auf die Vermögen der Bürger und die Erhöhung von Steuern und Abgaben der erste Ansatz zum Schuldenabbau sein, dem allerdings aufgrund der enormen Ausmasse ein Schuldenschnitt (Halbierung der angehäuften Schulden) und im allerschlimmsten Fall ein Krieg folgen könnten.
Es mag düster erscheinen, aber wir haben ja bereits eine rasch ansteigende Inflationsrate, die unsere Ersparnisse wegfrisst, wir haben Negativzinsen, die unsere Sparguthaben reduzieren. Mit dem Angriff auf das noch frei zirkulierende Bargeld leiten der Finanzwelt nahestehende Lobbyisten die Enteignung der Bürger ein. Liegen einmal unsere Vermögen statt in Noten und Münzen in unseren Portemonnaies nur noch als virtuelle Guthaben auf den Bankkonten, gibt es kaum mehr eine Barriere gegen den hoheitlichen Zugriff auf unsere Vermögen. Mancherorts zeichnen sich auch Steuererhöhungen ab. Und selbst ein Krieg ist bereits im Gange. Durch den Ukrainekrieg wurden Milliardenbeträge an den Börsen auf einen Schlag vernichtet. Vermutlich weitgehend auf Kosten der Sparer (Renten), denn die Reichen werden Wege gefunden haben, um ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Dazu kommt, dass durch die kriegerischen Handlungen ein zusätzlicher Inflationsschub ausgelöst wurde (Erdöl, Getreide, Nahrungsmittel usw.). Könnten hinter den Profiteuren der Ukrainekrise nicht dieselben Kreise stecken, die das ganze angezettelt haben?
Wie begegnen wir dem sich anbahnenden Ungemach?
Wir können den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass die Gefahren sich irgendwann von selbst auflösen, oder wir werden aktiv, um die Risiken zu bändigen und vor allem einen Ausweg aus der gegenwärtig verfahrenen Situation zu entwickeln. In der Regel befreit man sich am erfolgreichsten, wenn man auf der falschen Fährte wieder etwas zurück geht. Auch in der heute beinahe ausweglosen Situation scheint ein Rückwärtsgehen sehr sinnvoll zu sein. So traditionell es auch klingt, die Rückbesinnung auf die ehemals gültigen Werte und deren Reaktivierung ist Teil der Problemlösung. Eine aktive Friedenspolitik drängt sich auf. Die Schweiz müsste ihre auf dem Altar der Globalisierung verschacherte Identität zurückgewinnen und den angerichteten Vertrauensverlust durch friedensfördernde Aktivitäten wieder wett machen.
Der Neutralität wieder Leben einhauchen
Die staatstragenden Elemente und kulturellen Werte sind verfassungskonform aufzugreifen und durch entsprechendes Handeln zu festigen. Für unser Land bedeutet dies, die demokratischen Grundregeln zu achten und zu pflegen, den Kampf um die Selbstbestimmung aufzugreifen und zu führen und der zentralistischen Bewegung durch den Föderalismus und die Gemeindeautonomie entgegenzuwirken.
Zurück zur alten Stärke wird die Schweiz finden, wenn sie sich vom Zwang der Globalisierung befreit, den neoliberalen Geist gegen die Aufwertung des inneren Zusammenhaltes eintauscht und die Politik sich vom Einfluss der Konzerne löst und das Volk als Auftraggeber respektiert.
Wie im Artikel bereits aufgezeigt, braucht unser Bildungswesen, aber auch die Wissenschaft, einen kräftigen Aufrüttler. Der Umdeutung von Theorien und historischen Ereignissen, um den Eliten zu dienen, muss endlich der Riegel geschoben werden. Irreführung ist strafbar. Das gilt sowohl für die Lehre, die Politik und die Berichterstattung. Orientieren wir uns doch wieder an Fakten und pflegen eine Kultur der auf der Wahrheit und ehrlichen Gesinnung beruhenden freien Meinungsäusserung. Nur auf der Ebene der Gleichwertigkeit und der Objektivität können wir dem anbahnenden Chaos die Stirne bieten.
¹ Max Otte: Die Krise hält sich nicht an Regeln. Berlin 2021. ISNB 978-3-95972-460-9
² Finanzaristokratie, Konzerne, transnationale Organisationen, Regierungen, Zentralbanken