Einar Schlereth über das Schwedische Protesttheater – vor fast 50 Jahren im NDR – Wer sich nicht erinnert, verirrt sich beim Vorwärtsgehen.

Wer sich nicht erinnert, verirrt sich beim Vorwärtsgehen. Den anderen Strindberg von Jan Myrdal in Deiner Übersetzung habe ich immer noch nicht gelesen . Ich hoffe, ich schaffe es, bevor wir uns wiedersehen. (HaBE)

Hier will ich einen Teil meiner Programme vom NDR aus der Steinzeit (vor der Digitalisierung) auflegen. Einige habe ich übersetzt, die hier in Schweden großen Anklang fanden. Viele Freunde haben mich auch immer wieder gedrängt, sie zu veröffentlichen. Außerdem werde ich auch Lesefrüchte weiterreichen (wie diesen ersten Post mit einem Text von Friedrich Engels), die ich für wichtig halte.

Mittwoch, 12. Juni 2013

SCHWEDISCHES PROTESTTHEATER

Meine Güte, das ist genau 40 Jahre her. Ich denke, es ist wichtig, jüngere Menschen an dem teilnehmen zu lassen, was damals möglich war und geschaffen wurde, bevor alles von der neo-liberalen und konservativen Walze plattgemacht wurde.  Das Pro- Theater hat sich recht lange halten können. Dann haben einige der Mitlgieder auch an anderen Projekten mitgearbeitet, etwa an dem ‚Zeltprojekt‘, wo eine Gruppe ein altes Zirkuszelt erstanden hatte und mit der ‚Geschichte des schwedischen Volkes‘ durch das ganze Land reiste, was ein sensationeller Erfolg war.
Gesendet am 2. Mai 1973, im NDR, Journal 3

Einar Schlereth

SCHWEDISCHES PROTESTTHEATER

Während in Deutschland wie gewöhnlich noch theoretische Diskussionen über Sinn, Funktionen- und Zielgruppen des Theaters stattfinden, ob neben, gegen oder für die breiten Schichten gespielt werden sollte und phantastische Mitbestimmungsmodelle entworfen werden, ist man in Schweden längst aus diesem Stadium heraus.

Sicherlich auch in Schweden wurde diskutiert, auch dort gab es wirklichkeitsfremde Träumereien, aber mit einem entscheidenden Unterschied. Man ließ der Theorie sehr bald die Praxis folgen, die dann wiederum der Theorie auf die Sprünge half. Bei diesem lebendigen Prozeß ging manche Illusion, manches theoretische und theatralische Windei sang-und klanglos über Bord, das hierzulande über Jahre hinweg die Gemüter zu verwirren vermag, nur weil sich niemand findet, der es mit der spitzen Nadel der Praxis zum Platzen bringt.

Es begann eigentlich relativ harmlos. Eine Arbeitsgruppe vom Dra­matischen Theater Stockholm ging 1969 nach Luleå, wo sich Norrbottens Jämverk NJA, Schwedens größter Stahlkocher, befindet, um in Zusammenarbeit mit den Arbeitern über deren Situation ein Theaterstück zu schreiben. Ein erster, folgenschwerer Schritt. Im Frühjahr und Sommer machte die NJA-Gruppe hunderte Interviews mit Arbeitern, Gewerkschaftsführern, Regierungsbeamten. Gründe, weshalb man dieses Stahlwerk wählte, waren nach eigenen Angaben der Gruppe die folgenden: 1. ist NJA ein typischer Betrieb der Schwerindustrie, wo die Löhne weder überdurchschnittlich hoch, noch besonders niedrig sind. 2. befindet sich NJA von Anfang an im Besitz des Staates. Man hatte also die Möglichkeit, zu untersuchen, wie die sozialdemokratiscne Arbeiterregierung ihre Parolen von Gleichheit und Sicherheit verwirklicht. Außerdem sitzt Åke Nilsson, Vorsitzender der Metallgewerkschaft, im Vorstand und hat folglich die Möglichkeit, die Interessen der Arbeiter wahrzunehmen. Die Arbeitsgruppe stieß auf große Herzlichkeit und eine positive Einstellung von Seiten der Arbeiter, dagegen auf eine negative Einstellung seitens der Betriebsführung, Gewerkschafts-und Regierungsbeamten. Dieses Schema wiederholte sich bei jedem weiteren Stück.

Nur wenige Monate später brach bei LKAB, der größten Erzgrube des Landes, ein wochenlanger wilder Streik aus, dem viele andere folgen sollten. Das mit so viel Sorgfalt erstellte schwedische Gemälde von Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit erhielt seine ersten häßlichen Flecken. Dort nun, inmitten der Streikenden, spielte die NJA-Gruppe, gegen den Willen der Direktion des Dramaten-Theaters, ihr Stück, das enthusiastisch aufgenommen wurde. Und in Stockholm war ihr Erfolg so ungeheuer, daß die Gruppe aufgelöst wurde. Ein Teil ging zum progressiven Norr- botten-Theater, ein anderer Teil zum Protheater, das seit 1967 als bestes Ensemble des schwedischen Reichstheaters galt.

Diese beiden Gruppen brachten 1970 drei weitere brisante Theaterstücke heraus. Das Protheater schuf  ‚Streik bei Volvo‘ und ‚Atom blau-gelb‘, eine Satire über das schwedische Prestigeprojekt eines Kernkraftwerkes, wodurch Milliarden Kronen verpulvert wurden. Die Stücke entstanden wieder in engster Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Gleichzeitig arbeitete die Norrbotten-Gruppe in Luleå mit der Bevölkerung das ‚Stück von Norrbotten‘ aus, das die knochenharte Politik der Entvölkerung der Regierung in den Nordprovinzen zum Thema hat. Wieder war der Erfolg beim Publikum außerordentlich. Und wieder reagierte der Staat mit Zwangsmaßnahmen. Das Protheater wurde Anfang 71 vom Reichstheater aufgelöst, dem Theater in Luleå wurde verboten, das Stück außerhalb der Grenzen Norrbottens zu spielen.

Aber das Protheater tat konsequent den zweiten Schritt. Das Freie Protheater wurde in Form einer Stiftung gegründet und erhält praktisch keinerlei staatliche, gewerkschaftliche oder kommunale Unterstützung.

Die Gruppe besteht heute aus 22 Mitgliedern und verläßt sich allein auf ihr eigenes Einkommen. Unterstützung erhält sie in der Hauptsache durch Folkets Kultur, eine Organisation mit 25 Vereinigungen im ganzen Land. Diese parteipolitisch ungebundenen Vereinigungen haben sich zumeist im Anschluß an Theateraufführungen spontan gebildet. Sie entfalten eine breite kulturelle Tätigkeit, deren nicht geringster Bestandteil es ist, den Boykott bürgerlicher Kulturinstitutionen bezüglich Ankündigungen, Aufführungsräumen etc. zu durchbrechen.

Weshalb der Boykott ? Weshalb solch ungezügelte Äußerungen wie die von Staatsminister Palme, die Mitglieder des Freien Protheaters seien Faschisten ? Weil diese Theatergruppen gefährlich sind. Nicht wegen der Themen, denn die Themen an sich wurden häufig genug akademisch und auch auf der Bühne abgehandelt, sondern weil die Themen aus dem Volk kommen, ins Volk und vom Volk getragen werden. Das ist unverzeihlich. Hier gelingt es dem oft totgesagten Theater hunderttausende, nicht Bildungsbürger, sondern Arbeiter, Lehrlinge, junge Intellektuelle auf die Beine zu bringen, gelingt es, den Kampf des Volkes gegen Monopolkapital, Staat und Gewerkschaftsbürokratie lebendig zu schildern, in seiner eigenen klaren Sprache. Ein Aspekt, der in Schweden selbst noch viel zu wenig Beachtung fand. Denn die Hochsprache, die Sprache der Herrschenden, allein ist schon immer und gerade auf der Bühne, eine unüberwindliche Barriere für das Volk gewesen. Andererseits ist die Sprache das Einzige, was dem Volk noch geblieben ist, seit durch den aufkommenden Kapitalismus das Volkstheater, die Volksmalerei, die Volksmusik systematisch zerstört wurden. Es ist das Verdienst dieser Theatergruppen, der Sprache des Volkes wieder ihre Geltung zu verschaffen.

Dies zum einen. Zum ändern ist dieses Theater nicht integrierbar.

Es nennt die Ereignisse, die beteiligten Personen, die Betriebe, dokumentarisch , nachprüfbar, beim Namen. Mehr noch. Die Zustände werden nicht nur geschildert. Sie werden durch die Handlung, mosaikartig zusammengesetzt aus Sketches, Berichten, Kommentaren, Songs, zu Erfahrungen verdichtet, die sich in Kampfparolen niederschlagen. Gegen Ausbeutung, EWG, Monopolinteressen, für die Einheit und Solidarität des Volkes.

Es wäre jedoch völlig verfehlt, dieses Theater als plumpe Agitprop-Stücke abzutun. Dagegen sprechen die komplexen Inhalte, die Qualität der Musik, die Songtexte, die neue Maßstäbe für moderne Lyrik setzen, das außerordentliche Können der Schauspieler und der umwerfende Witz und Humor.

Allerdings hat es nicht an Kritik auch aus den Reihen der Linken gefehlt, die wohl lieber handfesten Agitprop hätte und die beispielsweise der Musik ‚ihren amerikanischen, kommerziellen Stil‘ vorwarf.

Mit Recht wurde diese Kritik, die schon deshalb einseitig ist, weil z.B. auch Elemente schwedischer Volksmusik aufgegriffen werden, als formal zurückgewiesen, mit einem deutlichen Hinweis auf die Fehler in der Kulturpolitik des revolutionären Rußlands der 2o-er Jahre und auf die ‚Hundert Blumen‘-Politik der Chinesen, die dem Künstler wohl das Recht auf freie Entfaltung in der Form gibt, ihm aber eine Form losgelöst von jedem Inhalt oder als Mantel für reaktionäre Inhalte nicht zugesteht.

Hiermit wird ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen. Das neue schwedische Theater steht nicht außerhalb der Tradition. Ich greife hier drei Namen heraus, die hier für einunddieselbe Sache stehen. Sara Lidman, Sergej Tretjakow und Mao Tse-tung. Sara Lidman, die 1968 den aufsehenerregenden Band ‚Gruvan‘ (das Bergwerk) herausbrachte, der auf Diskussionen mit schwedischen Kumpels fußte. Sergej Tretjakow, der lange vor Mao dessen Satz ‚in die Massen gehen, von den Massen lernen‘ mit seinen Romanen in die Praxis umsetzte. Hätte nicht sein Wort ‚Das Alte ist nur Dünger, nicht die Speise‘ ein Wahlspruch der Großen Proletarischen Kulturrevolution sein können? Derselbe Tretjakow, für Brecht ‚der große, freundliche Lehrer‘, der später ein Opfer von Stalin’s falscher Kulturpolitik wurde. Und vor allem Mao Tse-tung, der schon 1942 in der ‚Aussprache über Literatur und Kunst‘ in Yenan vom Künstler forderte, Lehrer der Massen zu werden, was er jedoch nur werden könne, wenn er zuerst zum Schüler der Massen werde, eine Forderung, mit der erst seit der Kulturrevolution wirklich Ernst gemacht wurde. Überspitzt läßt sich sagen, daß ohne eine gründliche Rezeption der Kulturrevolution das Freie Protheater wohl nicht denkbar wäre.

Abschließend sei darauf hingewiesen, daß kürzlich einige Stücke des Protheaters in der DDR beim Verlag Volk und Welt unter dem Titel ‚Schwedische Proteststücke‘ zusammen mit zwei Stücken von Sara Lidman und Birger Norman erschienen sind. So lobenswert die Absicht, muß dazu gesagt werden, daß die Übersetzung schlecht ist, was besonders bei den Gedichten spürbar wird, wo obendrein auf Biegen und Brechen gereimt wird. Aber das wäre noch zu ertragen, wenn nicht durchgehend verniedlicht und vielem die Spitze abgebrochen worden wäre. Und infam wird es, wenn der Herausgeber im Vorwort behauptet, bei den Stücken ginge es um ‚Mitbestimmung‘, was wohl nur als Verbeugung vor der DKP verstanden werden kann. Die DDR-Kulturbürokraten dokumentieren damit nur ihr Unverständnis für eine Kritik, die bei ihnen nicht entfernt denkbar wäre. Zugegeben, dies Unverständnis ist nicht böse Absicht. Es hat objektive Ursachen. 1. Die Aufgabe der Dialektik, insbesondere der von Überbau und Basis und 2. die Leugnung des marxistischen Satzes, daß das Volk die Geschichte macht.

Fest steht, daß zwei große Deutsche, auf die die DDR den Alleinvertretungsanspruch erhebt, diese Stücke nicht nur verstanden, sondern auch ihre Freude daran gehabt hätten. Der eine heißt Brecht, der andere Marx.Eingestellt von einartysken um 11:22Diesen Post per E-Mail versendenBlogThis!In Twitter freigebenIn Facebook freigebenAuf Pinterest teilen

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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