Im Sommer 1912 feierte eine jüdische Familie im hessischen Gelnhausen silberne Hochzeit. Man stellte sich zum Familienfoto auf: Das Ehepaar Samuel und Auguste Scheuer, umrahmt von ihren sechs Kindern, vier Töchtern und zwei Söhnen. Das Foto im Garten ihres Hauses in der Burgstraße 34, ganz in der Nähe der alten Barbarossaburg, lässt nicht ahnen, welches Schicksal die Familie in der Folgezeit treffen sollte: Verfolgung, Enteignung und Ermordung, eine Tragödie mit Tätern und Opfern, mit Statisten, Handlangern, Erfüllungs-gehilfen und Profiteuren.
Samuel Scheuer war 1856 in Gelnhausen geboren worden. Er starb am 7. Dezember 1937 in Frankfurt am Main. Da war seine Familie schon aus der Stadt vertrieben, und die Burgstraße 34 gehörte ihm nicht mehr. Scheuer war Altproduktenhändler. Er kaufte und verkaufte Alteisen, Häute und Felle und betrieb sein Geschäft in seinem Haus. Mit 73 Jahren setzte er sich zur Ruhe. Seine beiden Söhne hatten eine kaufmännische Ausbildung absolviert, und so übergab er die Firma 1929 an den jüngsten Sohn Ludwig, der schon vorher im
väterlichen Geschäft mitgearbeitet hatte.
Aber die Zeiten waren schlecht. Die Weltwirtschaftskrise 1929 ruinierte viele kleine und mittelständische Unternehmen; auch mit dem Geschäft der Scheuers ging es bergab. Mehrere Hypotheken mussten aufgenommen werden, und im Dezember 1931 war es schließlich soweit:
Die Dresdner Bank erwirkte ein Versäumnisurteil gegen Ludwig Scheuer. Sie hatte nun die Möglichkeit, das Anwesen zu versteigern, aber die Bank ließ sich Zeit. Zeit, die für sie arbeitete, schließlich waren Zinsen zu zahlen. Bald aber kam ein günstiger Zeitpunkt für die Zwangsversteigerung. Denn gut ein Jahr
später waren die Nazis an der Macht, und damit wurde die jüdische Bevölkerung zunehmend rechtlos.
Antisemitischer Terror
Im Gegensatz zu den großen Städten, wo Juden noch anonym leben konnten – das Tragen des Judensterns wurde erst 1941 in Deutschland verpflichtend – herrschte auf dem Land schon vor der Pogromnacht 1938 vielfach Terror. Hier war häufig bekannt, wer Jude war. Hier häuften sich die Pöbeleien, die eingeschlagenen Fensterscheiben, die nächtlichen Überfälle der SA-Trupps, die von Nazis angezettelten Schlägereien. Kein Wunder, dass nach dem Beginn des Faschismus in Deutschland viele jüdische Menschen ihre ländliche Heimat verließen und in die größeren Städte zogen.
1935 spitzte sich die Lage zu:
In Gelnhausen und dem Umland herrschte im Sommer 1935 Pogrom-stimmung. Die gleichgeschaltete Presse machte dabei engagiert mit. Im Juni 1935 veröffentlichte der Hanauer Anzeiger in bekannter antisemitischer
Manier einen Hetzartikel über einen jüdischen Geschäftsinhaber aus Hanau und dessen »rassenschänderisches Treiben«.
Ein Jude namens Max Sonneberg aus Somborn fuhr in diesen Tagen mit der Kleinbahn, als der Hetzartikel in provokativer Absicht von Mitreisenden laut vorgelesen wurde. Sonneberg bemerkte daraufhin, dass Papier bekanntlich geduldig sei.
Es entspann sich ein Wortwechsel, der dramatische Folgen hatte. Der Gelnhäuser Anzeiger griff begierig das Thema auf und druckte ein Pamphlet, in dem die »unverschämten jüdischen Anmaßungen« des Max Sonneberg angeprangert wurden. Man drohte unverhohlen: »Es gibt Mittel und Wege
genug, um ihm sein freches Judenmaul zu stopfen.«¹ Damit war eine Lawine losgetreten. Eine nach Hunderten zählende Menschenmenge stand abends vor dem Haus Sonnebergs in der Hanauer Straße 4. SA-Männer drangen in das Gebäude ein, holten Sonneberg heraus und schlugen ihn vor aller Augen zusammen. Der 58jährige unbescholtene Mann wurde ins Gefängnis nach Gelnhausen eingeliefert und verbüßte dort 15 Tage »Schutzhaft«.
Nach weiteren Bedrohungen verließ die Familie ihren Heimatort Somborn fluchtartig und zog nach Frankfurt am Main. Sie überlebte den Holocaust
nicht.
Zur gleichen Zeit im Juni 1935 traf es auch den Viehhändler Julius Löwenthal aus Altenhaßlau. Er wurde auf offener Straße von SA-Männern zusammen-geschlagen, in den nahegelegenen Bach geworfen und später in »Schutzhaft« genommen.
Sowohl er als auch seine Frau und seine drei Söhne überlebten den Holocaust nicht.
Vergleichbare Berichte gibt es auch aus dem nahen Vogelsberg. In Lichenroth wurden im Sommer 1935 mehrere Häuser von Juden und »Judenknechten« – also Menschen, die noch mit Juden verkehrten – bei Nacht überfallen, die Einrichtungen demoliert, die Bewohner geschlagen, das alles unter Beteiligung des Ortsbauernführers und des Bürgermeisters.² Ähnliches spielte sich auf dem
Wächtersbacher Viehmarkt im Juli 1935 ab. Der Viehmarkt hatte zu dieser Zeit noch viele jüdische Händler, was die Gestapo in ihren Lageberichten beklagte: Die Bauern seien schwerlich davon abzubringen, ihre Geschäfte mit Juden abzuschließen, hieß es in einer Meldung aus dieser Zeit.³
So musste der Volkszorn in Szene gesetzt werden.
Ein gut organisierter Trupp drängte eines Tages auf den Viehmarkt und schlug wahllos auf die jüdischen Händler und ihr Vieh ein, trieb letzteres in den nahegelegenen Fluss und richtete überall Verwüstung an. Dabei wurde einem Juden ein Auge ausgestochen.⁴
Das Jahr 1935 war ein vorläufiger Höhepunkt der Judenverfolgung.
Viele Ortschaften entwickelten einen regelrechten Ehrgeiz, baldmöglichst »judenfrei« zu sein. Nicht selten konnte man an Ortseinfahrten Transparente lesen wie: »Juden und Judenknechte betreten die Stadt auf eigene Gefahr.«⁵
»Frisch und tatkräftig«
In den Lageberichten der Gestapo Kassel, die jeden Monat nach Berlin gingen, finden sich zahlreiche Hinweise auf gewalttätige Übergriffe auf Juden, stets mit dem Hinweis versehen, dass die Juden provozierend hervorgetreten seien. Für den Berichtsmonat Juni 1935 heißt es: »Der Antisemitismus im Volke hält sich erfreulicherweise frisch und tatkräftig. Es ist daher nicht zu vermeiden,
dass er sich in Ausschreitungen gegenüber Juden, besonders wenn diese sich anmaßend und herausfordernd benehmen, Luft macht. So kam es im Berichtsmonat wieder zu zahlreichen Zwischenfällen.«⁶
Für den Berichtsmonat August 1935 wurde notiert: »In einer begreiflichen Verbitterung und Erregung ist es auch zu einer Reihe von Exzessen wie Zertrümmerung von Fensterscheiben, Beschmierung jüdischer Geschäfte und Anwendung von unzulässigen Zwangsmaßnahmen gegen Juden gekommen.«⁷
Auch der jüngste Scheuer-Sohn Ludwig wurde 1935 Opfer eines brutalen Überfalls. Auf dem Nachhauseweg, 300 Meter vor seinem Haus, wurde der 35jährige von zwei SA- oder SS-Männern zusammengeschlagen, »so dass fast alle Zähne zersplittert ausgeschlagen, Kiefer, Lippen und Nase schwer verletzt wurden«, wie er später berichtete. Er konnte sich kaum ins Haus schleppen.
»Durch diese schweren Verletzungen verlor ich so viel Blut, dass, wie ich später erfuhr, der Weg von der Überfallstelle bis zu meiner Wohnung mit Blut
gezeichnet war«, erinnerte er sich.⁸
Etwa eine halbe Stunde nach diesem Überfall drang eine Rotte von 50 Männern in sein Haus ein. Ludwig Scheuer versteckte sich in der Dachkammer, wurde aber schließlich gefunden. Eine Zeugin erinnerte sich 1947 an den Vorfall: »Er
(Ludwig Scheuer) wurde an den Beinen gefasst und so umher gezerrt, dass er die Treppe abglitt und sich so blutende Wunden am Kopf zuzog. Bei
dieser Aktion hatte der damalige SA-Sturmführer Dudene die Befehlsgewalt, und er war es, der die Tätlichkeiten gegen den Juden Scheuer ohne weiteres einstellen konnte bzw. nicht dulden brauchte.
Er war aber mehr oder weniger mit dem Tun seiner Männer voll und ganz einverstanden, und die Handlungsweise, mit der der Jude Scheuer behandelt wurde, fand voll und ganz seine Billigung.«⁹
Ludwig Scheuer war für immer gezeichnet.
Gehen konnte er nicht mehr, so schleifte man ihn ins Gelnhäuser Gefängnis. »Mein Körper und Gesicht waren eine blutige Masse.«¹⁰
Der Gefängnisaufseher und seine Frau nahmen sich seiner an und versuchten, ihm so weit wie möglich zu helfen; auch ein Arzt wurde hinzugezogen. Nach etwa drei Wochen im Gefängnis wurde Ludwig Scheuer entlassen mit der
Auflage, Gelnhausen noch am gleichen Tag zu verlassen und das Stadtgebiet nie wieder zu betreten. Er zog nach Frankfurt am Main, musste, um operiert werden zu können, in ein künstliches Koma versetzt werden und blieb lange Zeit in chirurgischer und zahnärztlicher Behandlung.
Knapp 20 Jahre zuvor war er als 18jähriger zum kaiserlichen Militär eingezogen worden, um im Ersten Weltkrieg die vermeintlich bedrohte Heimat zu verteidigen – in Belgien und Frankreich. Dafür verlieh man ihm »im Namen des
Führers« Anfang 1935 noch das Ehrenkreuz für Kriegsteilnehmer.
Zieht man die darauffolgenden Jahre seines Lebens in Betracht, so hat ihm das Vaterland seinen Einsatz schlecht gedankt.
Auch Ludwig Scheuers Vater Samuel spielte der Nazistaat 1935 übel mit. Der 78jährige wurde wegen angeblichen unsittlichen Verhaltens vier Wochen in »Schutzhaft« genommen. Daraufhin verließen die Eltern noch vor ihrem Sohn Ludwig ihre Heimatstadt und zogen nach Frankfurt am Main. Sie wohnten noch kein Jahr dort, als die Mutter starb, eineinhalb Jahre später im Dezember
1937 starb auch Samuel Scheuer. Ihrem Sohn Ludwig gelang es noch zu emigrieren. Er hatte 1938 geheiratet und trat mit seiner Frau im August 1938 die
Ausreise nach Argentinien an, wo auch sein älterer Bruder Moritz lebte. Der hatte bereits zu Beginn des Faschismus Deutschland verlassen. Von den vier Schwestern war Else jung gestorben und 1927 auf dem Gelnhäuser jüdischen Friedhof begraben worden. Die anderen drei Schwestern wurden Opfer faschistischer Mordkommandos. Lina Karoline wurde als Patientin einer Heil- und Pflegeanstalt in Brandenburg mit Kohlendioxid vergiftet.¹¹
Flora und Regina wurden im Frühjahr 1942 in der Nähe von Lublin ermordet. Auch Moritz Scheuer erlebte das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht. Er beging
im Januar 1945 Suizid.
Seit 1935 gab es die Familie Scheuer in Gelnhausen nicht mehr. Auch alle anderen Juden verließen die Stadt. Die örtliche Zeitung Kinzig-Wacht konnte am 1. November 1938 triumphierend vermelden: »Gelnhausen ist judenfrei.«¹²
Erst 1939 entschloss sich die Dresdner Bank zur Zwangsversteigerung des Anwesens Burgstraße 34.
Was war inzwischen geschehen?
Die Dresdner Bank war in den Jahren des »Dritten Reiches« zu einer beherrschenden Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Sie hatte frühzeitig
von der Arisierungspolitik der Nazis profitiert und war zur führenden Geschäftsbank der SS geworden. Die Nazis sorgten dafür, dass jüdisches Eigentum reichsweit unter Preis verkauft wurde. Extra eingerichtete Gauwirtschaftsstellen wachten darüber, dass jüdischer Besitz zu Schleuder-preisen von »Ariern« erworben wurde. Im Februar 1939 ersteigerte die Stadt Gelnhausen das Haus Scheuer für 5.000 Reichsmark.¹³ …..
Vertrieben
und enteignet
Ein exemplarischer Fall.
Die Geschichte der Familie Scheuer aus Gelnhausen.
Von Christine Wittrock
… dem gegenüber standen die Hypothekenschulden von Beginn der 1930er Jahre, die im Grundbuch eingetragen waren: 8.863 Reichsmark. Dazu kam im
Lauf der Jahre ein Berg von Zinsen, Steuern und anderen Kosten.
Ohne jede Rechtsgrundlage
Zum Zeitpunkt der Zwangsversteigerung hatte Ludwig Scheuer Deutschland bereits den Rücken gekehrt. Seit er im Sommer 1935 Gelnhausen verlassen hatte, wusste er vermutlich nicht, was mit dem Haus geschah. Die national-sozialistischen Behörden indes ließen es nicht leer stehen:
Es wurde an die Firma Korbmacher & Seiter, die einen Handel für Rohprodukte, Öle und Fette betrieb, vermietet, offenbar ohne jede Rechtsgrundlage. Als die Stadt Gelnhausen das Anwesen 1939 ersteigerte und in Besitz nahm, sei es ausgeräumt gewesen, beteuerte 1950 der Anwalt der Stadt, Becker-Schaffner, der unter dem Naziregime als Amtsgerichtsrat in Gelnhausen amtierte. Wer hatte das Haus ausgeräumt? Möbel, Hausrat und ein Kassenschrank mit Wertpapieren im Wert von etwa 2.500 Reichsmark befanden sich nach
Ludwig Scheuers Angaben noch dort, als man ihn verjagte. Wer hatte das Geld an sich genommen?
War das Haus geplündert worden? Oder hatten
die Behörden es räumen lassen?
Die faschistischen Behörden auf Stadt- und Kreisebene werden gut mit der Filiale der Dresdner Bank zusammengearbeitet haben, denn alle leitenden Positionen bei Behörden und Banken waren mit Parteigenossen besetzt. Wenn Ludwig Scheuers Schulden tatsächlich den Wert seines Hauses überstiegen hätten, wie der Anwalt der Stadt Gelnhausen 1950 behauptete, hätte man
Scheuer nicht ausreisen lassen. Alle ausreisenden Juden wurden darüber hinaus mit einer »Reichsfluchtsteuer«, einer »Auswanderungsabgabe« und ähnlichem ausgeplündert. In den Verhandlungen um die Rückgabe der Burgstraße 34 griff
der Anwalt Becker-Schaffner zu einem Taschenspielertrick. Er argumentierte:
Der Einheitswert des Hauses Burgstraße 34 habe sich damals auf 10.200 Reichsmark belaufen. Die Schulden aber hätten den Einheitswert bereits um mehr als 3.000 Reichsmark überstiegen. Diese Relation allerdings sagt gar nichts, denn, wie jeder weiß, ist nur der Verkehrswert, nicht aber der Einheitswert aussagekräftig.¹⁴
Die Scheuers hatten es schwer, sich in Argentinien eine neue Existenz aufzubauen. Im November 1938 wurde ihre einzige Tochter Ana Augusta geboren. Die junge Familie lebte in bitterer Armut, denn Ludwig Scheuer war, seit ihn die Gelnhäuser Nazis halb totgeschlagen hatten, ein kranker Mann. Die Tochter berichtete später, dass die Familie zunächst in einem einzigen Zimmer
hauste, anschließend in einer Baracke unterkam und sie schon als Kind Heim-arbeit verrichten musste.¹⁵
Als die Nazis endlich den Krieg verloren hatten, drängten die Siegermächte auf die Rückerstattung von »arisiertem« Vermögen. Nach dem Gesetz Nr. 59 von 1947 konnten ehemalige jüdische Eigentümer die Rückgabe ihres Besitzes
beantragen. Die Schnäppchenjäger und Leichenfledderer der »Entjudung« wurden nun zur Kasse gebeten; die deutsche Beutegemeinschaft, die sich allerorten bereichert hatte, sollte endlich zur Ader gelassen werden.
In vielen Fällen hatten die alten Eigentümer allerdings den Holocaust nicht überlebt. Damit kamen zahlreiche Besitzstücke gar nicht erst zur Verhandlung. Aber in diesem Fall hatte die Stadt Gelnhausen Pech, denn Ludwig Scheuer lebte
noch. Er beantragte 1948 die Rückgabe seines Anwesens sowie die entgangenen Mieteinnahmen.
Die Stadt Gelnhausen aber dachte nicht daran, die Burgstraße 34 zurückzu-geben. Der ehemalige Amtsgerichtsrat von Nazis Gnaden, Becker-Schaffner, zog im Auftrag der Stadt Gelnhausen alle Register. Er berief sich zunächst darauf, dass Ludwig Scheuers Antrag auf Rückerstattung zu spät eingegangen sei. Scheuer hatte seinen Antrag am 20. Dezember 1948 in Buenos Aires abgesandt, fälschlicherweise ans Amtsgericht Gelnhausen. Die Frist endete am 31. Dezember 1948.
Außerdem habe ein vereidigter Ortsschätzer 1939 (!) das Anwesen auf nur
16.350 Reichsmark geschätzt, so der Anwalt. Der zynische Höhepunkt seiner Argumentation: »Der Stadt Gelnhausen ist nichts bekannt darüber, dass
der Rückerstattungsberechtigte aus Gelnhausen verwiesen worden ist.«¹⁶ Der ehemalige Amtsgerichtsrat und spätere Rechtsanwalt der Stadt wird doch wohl gewusst haben, was neben seinem Amtszimmer im Gerichtsgefängnis geschehen war. Eine einzige Befragung der beteiligten Beamten hätte ausgereicht, den Sachverhalt zu klären.
Ein lächerlicher Vergleich
Ludwig Scheuer musste sich einen Rechtsanwalt in Deutschland nehmen. Er beauftragte Werner Höhne aus Schwelm in Westfalen. Diesen ermächtigte er, auch etwaig zu schließende Vergleiche vorzunehmen. Aber das Verfahren zog sich hin. Ein Brief von Argentinien nach Deutschland brauchte damals mehrere Wochen. Um selbst seine Interessen in die Hand zu nehmen, hätte Ludwig Scheuer nach Deutschland kommen müssen, in das Land, das ihn vertrieben und schändlich behandelt hatte. Das kostete viel Geld, und die Strapazen einer Reise konnte er nicht mehr auf sich nehmen. Ein Jahr nach dem anderen
verging. Die Stadt Gelnhausen spielte auf Zeit.
Die Rückgabe des Hauses wurde immer unwahrscheinlicher. Dann – 1952 – schloss der Anwalt Höhne einen Vergleich ab: Die Stadt Gelnhausen behielt ihr auf übelste Art und Weise erworbenes Eigentum am Haus Scheuer. Ludwig Scheuer erhielt die lächerliche Summe von 2.150 DM zugesprochen.¹⁷ Der Betrag ging auf das Treuhandkonto von Höhne. Ob Ludwig Scheuer das Geld
je erhalten hat, ist zweifelhaft. Er starb 1967 in Argentinien. Seine Frau nahm sich einige Jahre später das Leben. So hat die Stadt Gelnhausen letztendlich doch noch von der Entjudungspolitik der Nazis profitiert:
Bis heute ist das Anwesen
Burgstraße 34 im Besitz der Stadt Gelnhausen.
Ana Augusta Stern, die Tochter Ludwig Scheuers, machte gegenüber der Stadt Gelnhausen mehrere Vorstöße, um das Haus ihres Vaters zurückzuerlangen. Die Stadt und ihr CDU-Bürgermeister Jürgen Michaelis hielten sie hin mit Vertröstungen. Schließlich stellte die Fraktion der Grünen im Januar 2003 im Stadtparlament den Antrag auf Rückgabe des Hauses. Dieser wurde von der konservativen Mehrheit abgelehnt. Statt dessen verschob man das Problem in eine »Ethikkommission«, bestehend aus Personen des öffentlichen Lebens. Sie sollte über eine »Geste der Wiedergutmachung« nachdenken. Vor diesem Gremium aus saturierten Bürgerinnen und Bürgern musste Ana Augusta Stern ihre Lebensgeschichte ausbreiten, eine Inszenierung, die ihr die Rolle der Bittstellerin zuwies und eine weitere Demütigung bedeutete. Was die Ethikkommission ihr anbot, empfand sie als Almosen:
Wohnen in einer städtischen Wohnung in Gelnhausen und 5.000 Euro Starthilfe, dazu eine Gedenktafel für ihren Vater. Auch der seit 2007 amtierende
SPD-Bürgermeister Thorsten Stolz hielt an diesem Kurs fest. Man hoffte, billig aus der Sache herauszukommen, wie so häufig in der bürgerlichen Gesellschaft: mit Mildtätigkeit das Unrecht übertünchen, die Empörung beschwichtigen, und
ansonsten Gras über die Sache wachsen lassen.
Ablehnung und Ignoranz
Ana Augusta Stern hat ihren Kampf um das Haus ihres Vaters nie aufgegeben. Sie starb darüber im Jahr 2008. Ihr Mann Günter Stern und ihre beiden
Söhne führten den Kampf um die Burgstraße 34 weiter.
Für die Stadt Gelnhausen bewährte sich das Totschweigen. Auf einen offenen Brief im Jahr 2008 reagierte Bürgermeister Stolz mit Ignoranz.
Das hat ihm nicht geschadet. Er ist heute Landrat des Main-Kinzig-Kreises.
Ironie der Geschichte:
Thorsten Stolz ist der Urenkel des SA-Sturmführers Heinrich Dudene, der 1935 den Überfall auf das Scheuer-Haus leitete und Ludwig Scheuer halb totschlagen ließ.
Als Historikerin kann man nicht Optimistin sein. »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden«, schrieb Karl Marx.¹⁸
Und so leben die Kinder und Kindeskinder der Täter, der Nutznießer und
der Opfer weiter mit den Altlasten, die ihnen von ihren Vorvätern überlassen wurden.
Anmerkungen:
1 Gelnhäuser Anzeiger, 3.7.1935
2 Hannelore Vietze: »Die Zukunft wird furchtbar werden …« Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus im Vogelsberg, Hanau 2005
3 Thomas Klein (Hg.): Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei
über die Provinz Hessen-Nassau 1933–1936, Köln/Wien 1986,
S. 310
4 Jürgen Ackermann: Als jüdische Händler geprügelt wurden, Gelnhäuser Tageblatt, 24.9.1983
5 Christine Wittrock: Kaisertreu und führergläubig. Impressionen
aus dem Altkreis Gelnhausen 1918–1950, Hanau 2006, S. 111
6 Klein, a. a. O., S. 283
7 Ebd., S. 309
8 Lebenslauf Ludwig Scheuer, etwa 1948 verfasst, Nachlass Ludwig
Scheuer
9 Aussage von Anna Kunkel, 17.2.1947, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Spruchkammerakte Heinrich Dudene
10 Lebenslauf Ludwig Scheuer, a. a. O.
11 Ausstellung der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasiemorde,
Brandenburg an der Havel
12 Christine Raedler: Der Terror der Nazis in Gelnhausen, Frankfurter
Rundschau, 9.11.2005
13 Aus einem Schreiben des Rechtsanwalts Becker-Schaffner vom
November 1950 geht hervor, dass der Erwerb die Stadt Gelnhausen insgesamt 15.200 Reichsmark gekostet hat, Hessisches
Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Abt. Z460 Nr. D 923
14 Wittrock, a. a. O., S. 117
15 Interview mit Ana Augusta Stern, geb. Scheuer, vom 12. März 2006
16 Schreiben des Rechtsanwalts Becker-Schaffner vom 21. November 1950, a. a. O.
17 Vergleich vom 7. April 1952 vor dem Landgericht Darmstadt,
2.Wiedergutmachungskammer in Offenbach, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Abt. Z 460 Nr. D 923, Abt. 519/A Nr. OF
1499 und 1499(1), Abt. 519/V Nr. 3111 – 421 Bd. 1 und 2
18 Karl Marx: Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8,
S. 115
Christine Wittrock ist Historikerin. Sie schrieb
an dieser Stelle zuletzt am 21. September 2022
über den KPD-Politiker Georg Zwilling und den
Widerstand der kommunistisch regierten Gemeinde Mörfelden gegen die Notverordnungen
der frühen 1930er Jahre.
Mittwoch, 7. Dezember 2022, Nr. 285 THEMA 13
Besonders im ländlichen Raum verstärkte sich nach 1933 der faschistische Terror gegen jüdische Menschen – Aufnahme aus einer Laubenkolonie am Berliner Stadtrand (o. D.)
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