«In diesem Krieg geht es um Deutschland», sagt der französische Historiker Emmanuel Todd im Gespräch mit der Schweizer WELTWOCHE

«In diesem Krieg geht es um Deutschland»

Der französische Historiker Emmanuel Todd sagte den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Heute sieht er die USA im Niedergang. Frankreich werde ausgelacht, die Briten handelten kopflos. Am schlimmsten stehe es um die Deutschen, die zur Zielscheibe der Amerikaner geworden seien. Russland hingegen gehe es besser, als viele westliche Beobachter meinen.

Weltwoche: Vielen Dank, lieber Emmanuel, für die Bereitschaft zu diesem Gespräch. Sie haben sich in letzter Zeit in der Öffentlichkeit nicht geäussert.

Emmanuel Todd: Ich war in Japan, wo ein Buch von mir erschienen ist. Es ist ein Bestseller, von dem es keine französische Originalausgabe gibt. Sein Thema ist der Krieg in der Ukraine. In Frankreich habe ich mich nicht in die Debatten eingemischt. Ihnen gebe ich das erste Interview, denn Sie schreiben auf Deutsch. In diesem Krieg geht es um Deutschland.

Weltwoche: Bevor wir über den Ukraine-Krieg sprechen, interessiert mich Ihre Einschätzung zu einer Nachricht, die jüngst die Runde machte: Die Weltbevölkerung hat die Marke von acht Milliarden Menschen überschritten. Was sagt der Demograf zu dieser Zahl?

Todd: Sie macht mir keine Angst. Beunruhigend ist die Tatsache, dass die Geburtenzahlen in allen entwickelten Ländern zurückgehen. In Deutschland und Japan sind sie seit langem unterdurchschnittlich: 1,4 und 1,5 Kinder pro Frau. Für die Erneuerung der Bevölkerung reicht das nicht. Jetzt sind die anderen Länder auch auf dieses Niveau zurückgefallen. In den USA hatte eine Frau zwei Kinder, inzwischen sind es 1,6; in China 1,3.

Weltwoche: Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung.

Todd: Wir haben eine schwierige Zeit mit vielleicht zehn Milliarden Menschen vor uns. Aber sie wird nicht lange dauern. Wirklich gravierend ist die demograsche Depression. Taiwan und Korea produzieren die meisten Halbleiter auf der Welt. In Südkorea bringen die Frauen 0,8 Kinder zur Welt. In den produktivsten Industrieländern bricht die arbeitende Bevölkerung zusammen. In China, der Fabrik der Welt, geht in den nächsten zwanzig Jahren die Zahl der Arbeitskräfte um 35 Prozent zurück. Das ist einer der Gründe für die Inflation.

Weltwoche: Und die Bevölkerungsexplosion in Afrika?

Todd: Vielleicht wird man in Kürze ganz froh sein, dass es afrikanische Arbeitskräfte gibt.

Weltwoche: 1976 prophezeiten Sie den Zusammenbruch der Sowjetunion aufgrund der demografischen Entwicklung. Welche Rolle spielt die Demograe im Krieg in der Ukraine?

Todd: Wie in den ersten beiden Weltkriegen geht es um das Gleichgewicht zwischen den Grossmächten. Der Unterschied: Damals hatten wir es mit einer demografischen Expansion zu tun, heute mit einer Depression. Ein Jahrhundert lang hatten die Bevölkerungszahlen zugenommen: um 110 Prozent in Grossbritannien, 160 Prozent in Deutschland, 166 Prozent in Russland und 525 Prozent in den USA. In Frankreich beschränkte sich das Wachstum auf 16 Prozent. Das Land war im Bereich des Automobils, des Baus von Flugzeugen, in der Film- und Atomindustrie führend.

Weltwoche: Worauf bezog sich Ihre Gewissheit, dass die Sowjetunion zusammenbrechen würde?

Todd: Auf die Zunahme der Kindersterblichkeit. Ich war damals 25. Heute benutze ich die gleichen Parameter. Als Putin an die Macht kam, ging die Kindersterblichkeit rapide zurück. Heute ist die Kindersterblichkeit in den Vereinigten Staaten höher als in Russland. Nicht Russland – Amerika steckt in der Krise.

Weltwoche: Diesen Niedergang beschrieben Sie 2002 in «Weltmacht USA: Ein Nachruf».

«Der Westen hat die Russen völlig unterschätzt, sein intellektuelles Defizit ist erschreckend.»

Todd: Er hat sich bestätigt. Die USA zogen sich aus Afghanistan und dem Irak zurück. Den Aufstieg des Iran konnten sie nicht stoppen. Genauso wenig wie jenen Chinas. Die Saudis nehmen die USA nicht mehr ernst. In Amerika steigt die Sterblichkeit, die Lebenserwartung sinkt. Alle Zeitungen schreiben: Der Westen ist normal und Putin geisteskrank. Die Russen sind blutrünstige Monster. Die Demografie sagt etwas anderes: Russland ist stabiler und seine Gesellschaft zivilisierter geworden. Was in Russland passiert, ist mir völlig klar. Ich verstehe Putins Denken und Handeln und kann es in drei Minuten erklären. Die Russen sind brutal und rational, sogar ihre Lügen sind quasi vernünftig. Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich völlig anders denke und fühle als meine Zeitgenossen. Darum habe ich mich nicht mehr geäussert.

Weltwoche: Sie sprachen vor ein paar Tagen, als Sie auch dieses Interview absagen wollten, ziemlich verzweifelt von der «westlichen Irrationalität».

Todd: Das Verhalten des Westens ist für mich ein einziges Rätsel. Die Implosion der Sowjetunion konnte ich damals nur verstehen, weil ich ein leidenschaftlicher Leser von Science-Fiction-Romanen bin. Jetzt, in diesem Krieg, kommt es mir vor wie in Philip K. Dicks «Ubik»: Man weiss nie, wo man ist. Die Zeitungen erzählen uns, wie die Russen auf Gefängnisse schiessen, die sie besetzt haben. Dass sie Atomkraftwerke beschiessen, die sie vor Ort kontrollieren. Dass sie Pipelines in die Luft jagen, die sie selber gebaut haben.

Weltwoche: Wer ist für die Sabotage von Nord Stream verantwortlich?

Todd: Natürlich die Amerikaner. Aber das ist völlig unwichtig. Es ist normal. Wichtig ist die Frage: Wie kann eine Gesellschaft glauben, dass es die Russen gewesen sein könnten? Wir haben es hier mit einer Umkehrung der möglichen Realität zu tun. Das ist viel schlimmer. Das Studium einer solchen Gesellschaft ist faszinierend. Darüber schreibe ich jetzt ein Buch. Es wird mein letztes sein. Meine Tätigkeit als Autor begann mit dem Essay über den Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich will sie mit einem Werk der Vernunft über den dritten Weltkrieg abschliessen. Ich verweigere mich dem herrschenden Realitätsverlust, unter dem vor allem die Europäer leiden, und will versuchen, ihn zu verstehen. Eine meiner Hypothesen ist der Zusammenbruch der protestantischen Welt.

Weltwoche: Der Realitätsverlust unterscheidet Europa von den Russen?

Todd: Auch von den Amerikanern, die sehr wohl wissen, was sie tun. Ihre Vorstellung von Macht ist klar und zynisch. Zur Durchsetzung ihrer Interessen haben sie immer wieder Kriege geführt – auch angezettelt. Sie können Putin sehr wohl verstehen. Auch die Russen sprechen von Machtverhältnissen, aber ihre Sprache ist defensiv. Die Europäer schwadronieren von Frieden und der Verbreitung ihrer humanistischen Werte ohne Armee. Das geopolitische Denken ist ihnen abhandengekommen. Zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen befinden sich die Europäer in einem atemberaubenden Zustand der geistigen Verwirrung. Das gilt ganz besonders für Deutschland.

Weltwoche: Wie erklären Sie sich ihre Verwirrung? Mit Schuldgefühlen und dem Bemühen, in diesem dritten Weltkrieg auf der guten Seite zu stehen?

Todd: Nein. Nein! Ganz und gar nicht. Ich habe sehr viel Mitgefühl mit den Deutschen. Frankreich spielt in diesem Krieg keine Rolle. Sein Gewicht ist null. Macron redet, Macron reist – alle lachen über Macron. Er ist nicht der Schlimmste, denn er ist bei weitem nicht der Russenfeindlichste. Deutschland ist ein Land, das sich vom Krieg losgesagt hat. Ein Land praktisch ohne Armee. Das so wenig Kinder zeugt, dass seine hauptsächlichste Sorge darin besteht, Arbeitskräfte für die Erhaltung seiner Industrie ins Land zu holen. Es befand sich in der gleichen Lage wie Japan. Aber Japan hat sich anders entschieden. Japan will keine Einwanderer, Japan will Japan bleiben. Dafür war es bereit, viel Macht zu verlieren und seine Industrie nach China auszulagern. Deutschland hingegen hat seine Industrie aufrechterhalten. Es interessiert sich nur für die Wirtschaft. Seine Logik war: Russland liefert Gas, unsere beiden Länder sind komplementär. Und seit 1945 sorgt Amerika in einer Welt, für die wir keine Bedrohung mehr sein wollen, für unsere Sicherheit. Aus dieser durch und durch rationalen Überlegung heraus entstand das Projekt Nord Stream. Es ging darum, die von der Ukraine und Polen erhobenen Abgaben zu umgehen. Deutschlands Tragödie besteht darin, dass es noch immer daran glaubte, von den Vereinigten Staaten beschützt zu werden.

Weltwoche: Und das ist nicht mehr der Fall?

Todd: Zbigniew Brzezinski hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in «Die einzige Weltmacht» Eurasien als neues «grosses Schachbrett» der Weltpolitik bezeichnet. Die russischen Nationalisten und Ideologen wie Alexander Dugin träumen tatsächlich von Eurasien. Auf diesem «Schachbrett» muss Amerika seine Vorherrschaft verteidigen – das ist die Doktrin Brzezinskis. Also die Annäherung von Russland und China verhindern. Die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gemacht, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa wurde und damit auch ein Rivale der USA. Bis 1989 war es politisch ein Zwerg. Nun liess Berlin seine Bereitschaft erkennen, sich mit den Russen einzulassen. Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie. Dass sie das Gasabkommen torpedieren wollten, hatten die USA stets deutlich gesagt. Der Ausbau der Nato in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Russland gerichtet, sondern gegen Deutschland. Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner. Ich empfinde sehr viel Mitgefühl für Deutschland. Es leidet an diesem Trauma des Verrats durch den beschützenden Freund – der 1945 auch ein Befreier war.

Weltwoche: Und Putin hatte keine andere Wahl, als die Ukraine zu überfallen!?

Todd: Der Westen hat Russland provoziert. Der amerikanische Politologe John Mearsheimer hat nüchtern festgehalten, dass die Zusammenarbeit der Briten und Amerikaner mit seiner Armee die Ukraine faktisch zum Nato- Mitglied machte. Sie wurde aufgerüstet, um Russland anzugreifen. Putins Angriff war eine defensive Invasion. Er hatte diese Reaktion angekündigt und mit Krieg gedroht. «Russlands Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Kein Mensch kann das erklären.»

Weltwoche: Und so ist es gekommen?

Todd: Mearsheimer argumentierte, dass die Ukraine für Russland von existenzieller Wichtigkeit sei. Den Sieg Putins hielt er für eine Gewissheit. Er dachte aber auch, dass die USA die Ukraine aufgeben würden. In diesem zweiten Punkt irrte er sich. Dieser Krieg ist auch für sie von existenzieller Wichtigkeit: Falls Russland gewinnt, bricht das imperiale System der Vereinigten Staaten zusammen. Ihre Verschuldung ist phänomenal. Zur Erhaltung ihres Wohlstands sind die USA auf den Tribut der anderen Länder angewiesen.

Weltwoche: Aber plante die Ukraine wirklich einen Angriff auf Russland?

Todd: Er war in Vorbereitung. Zusammen mit Amerika, Grossbritannien und Polen wollte die Ukraine die russischen – wirklich russischen! – Gebiete im Donbass zurückerobern. Auch die Krim.

Weltwoche: Der Donbass und die Krim waren Teile des souveränen Staats Ukraine.

Todd: Lassen Sie mich ausreden.

Weltwoche: Bitte! Wir kommen auf die Frage zurück.

Todd: Ich leide wegen der Ukraine, es ist schrecklich, was ihr angetan wird. Sie war nie wirklich das Problem. Am Anfang ging es darum, die europäische Wiedervereinigung unter deutscher Vorherrschaft zu vereiteln. Die geostrategischen Beziehungen belegen es. Die Wahrheit der Nato sieht so aus: Sie besteht aus der Achse Washington–London–Warschau–Kiew. Deutschland und Frankreich sind ihre Juniorpartner, mit ihrer vorherrschenden Stellung in Europa ist es vorbei. Die Polen und die Ukrainer beschimpfen und beleidigen permanent die Deutschen. Für sie ist das unerträglich. Die Macht, die sie zu beschützen vorgab, hat nichts unversucht gelassen, um die vorherrschende Stellung Deutschlands in Europa zu zerschlagen. Deutschland bendet sich in einer Lage, die es in kognitiver Hinsicht überfordert.

Weltwoche: Wie meinen Sie das?

Todd: Die Deutschen wollten nicht in den Krieg. Scholz, der mir ein sehr vernünftiger Mensch zu sein scheint, wurde kritisiert, weil er sich nicht engagieren wollte. Krieg ist grauenhaft, scheusslich, ekelhaft, schrecklich. Die Deutschen wissen nur zu genau, dass Nord Stream von den Amerikanern zerstört wurde. Durch eine gemeinsame militärische Aktion der Amerikaner, Briten und Polen. Gegen Deutschland. Aber sie können es nicht sagen. In Tat und Wahrheit sind die Deutschen von den Amerikanern angegriffen worden. Man wollte sie vom russischen Gas abkoppeln. Immerhin – Deutschland hat nicht völlig kapituliert: Scholz reiste nach Peking. Deutschland verweigert den Amerikanern die Abnabelung von China.

Weltwoche: Das klingt ziemlich verrückt.

Todd: Nur so – rational – kann man die bizarren und widersprüchlichen Verhaltensweisen in diesem Krieg verstehen. Einerseits ist das Zusammenspannen der chinesischen und deutschen Wirtschaft vernünftig. Und weil China langfristig ein Verbündeter der Russen bleiben wird, bedeutet es auch, dass Deutschland nicht vollständig im westlichen Lager aufgeht. Gleichzeitig wird diese provozierende Reise nach China durch die Anerkennung des Holodomor als Genozid kompensiert. Das ist grotesk. Im Kontext eines beginnenden dritten Weltkriegs will das deutsche Parlament darüber bestimmen, was ein Genozid ist und was nicht. Die Deutschen sind sich der Tragweite dieses Schritts nicht bewusst. Sie setzen damit den Holodomor – der, nebenbei gesagt, proportional weniger Tote forderte als die Grosse Hungersnot in Irland – auf eine Stufe mit der Shoah. Mit ein bisschen Boshaftigkeit könnte man die Abstimmung im Bundestag als antisemitisch bezeichnen. Dass sie Auschwitz relativiert. In diesem Krieg hat man den Eindruck, als wolle die Welt Deutschland in den Wahnsinn treiben.

Weltwoche: Diesen Wahn meinte ich mit der Bemerkung, dass sich Deutschland dieses Mal auf der guten Seite fühlt: Es hat sich ohne äusseren Zwang in diesen Zustand versetzt. Als Kompensation seiner historischen Schuld. «Deutschlands Tragödie besteht darin, dass es glaubte, von den USA beschützt zu werden.»

Todd: Nein. Nein! Natürlich gibt es eine Mitverantwortung. Aber in diesem Krieg geht es um Interessen, zu deren Durchsetzung schon immer Kriege geführt wurden: Gas, Machtansprüche, Territorien.

Weltwoche: Der Westen – Europa – spricht von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten, die in der Ukraine verteidigt würden, und vergleicht Putin mit Hitler. Putin sagt, er kämpfe für die Entnazifizierung der Ukraine. Er sieht dort Neonazis am Werk, die sich 2014 an die Macht geputscht hätten und seither einen Genozid an den Russen im Osten des Landes begehen würden. In jeder Kriegsrede verhöhnt er den Niedergang der westlichen LGBT-Zivilisation. Auch das ist nicht besonders rational.

Todd: Die Art und Weise, wie sich die LGBT-Thematik in die rhetorische Kriegsführung eingemischt hat, ist in der Tat sehr bemerkenswert. Der Westen wirft den Russen Homophobie vor, und die Duma reagiert mit noch strengeren Gesetzen gegen die LGBT-Propaganda. An dieser Front wird der Bruch zwischen dem Westen und dem Rest der Welt deutlich sichtbar. Letzterem sind die westlichen Werte und seine Demokratie gleichgültig, gegen seine moralischen Lektionen verwahrt er sich. Der Krieg in der Ukraine interessiert ihn nicht. Man kann diesen Graben auch mit anthropologischen Argumenten erklären. Im Westen sind die bilateralen Verwandtschaftssysteme vorherrschend: Die Seiten der Väter und Mütter sind gleich wichtig. Die dominierende Lebensform ist die Kleinfamilie, der Individualismus prägt die Gesellschaft. Im Rest der Welt herrscht die Kultur der Patrilinearität: Der soziale Status des Kindes hängt einzig vom Vater ab. So ist es in Russland, China, in der arabischen Welt und in Afrika. Das ist der vielleicht gefährlichste Aspekt dieses Kriegs: Unter dem Diskurs der Werte gibt es ein unterschiedliches anthropologisches Unbewusstsein. Bezüglich der LGBT-Frage können sich die beiden Welten nicht verstehen und einigen.

Weltwoche: Das heisst, die moralische Beurteilung dieses Kriegs führt in die Ausweglosigkeit?

Todd: Ich unterschätze die Bedeutung der Moral keineswegs. Ich hasse den Krieg. Ich wollte ihn nicht kommentieren, weil ich mich nicht besonders kompetent oder gar berufen fühle, ethische Werte zu predigen. Allerdings wünschte ich mir, dass die Deutschen begreifen würden: Die Seite des Guten, auf der sie stehen möchten, ist diesmal nicht jene der Vereinigten Staaten. Das Gute bedeutet: diesen Krieg beenden. Aber als Historiker analysiere ich ihn ohne Sentimentalität. Und da stellt sich die Frage: Wer wird gewinnen?

Weltwoche: Und – Ihrer Ansicht nach?

Todd: Mit Weltkriegen ist es immer dasselbe: Es kommt völlig anders, als man denkt. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren alle überzeugt, dass er sehr schnell vorbei sein würde. 1940 galt die Maginot-Linie als unüberwindbar und Frankreichs Armee als stärkste der Welt. Diesmal herrschte die Vorstellung von den übermächtigen Russen. Völlig unerwarteterweise hat die ukrainische Armee dem Angriff standgehalten – dank der Unterstützung. Die Sanktionen wurden in der Überzeugung erlassen, dass sie Russland in die Knie zwingen würden. Aber seine Wirtschaft ist nicht zusammengebrochen. Kein Mensch kann das erklären. Das Bruttosozialprodukt von Russland – Belarus inbegriffen – beträgt 3,3 Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts des Westens. Gegenüber dem Dollar hat der Rubel seit Ausbruch des Kriegs um 23 Prozent zugelegt, 36 Prozent gegenüber dem Euro. Inzwischen stellt sich nicht mehr die Frage, ob die russische Wirtschaft widerstehen kann. Sondern die europäische. Darum rede ich so wenig über die Ukraine.

Weltwoche: Sie hat den Holodomor und den Holocaust erlebt. Jetzt ist sie der Schauplatz des dritten Weltkriegs.

Todd: Vergessen Sie das. Mir ist der Preis, den die Ukraine bezahlt, sehr wohl bewusst. Die Zerstörung des Landes. Die Toten und Verletzten. Das Leben im Krieg ist fürchterlich. Es ist zunehmend ein Zermürbungskrieg, ein Abnützungskrieg, in dem die militärische und industrielle Macht konvergieren. Gerade bezüglich der industriellen Potenz der Kontrahenten hatten wir völlig falsche Vorstellungen. Obwohl eine nüchterne Analyse eine andere Einschätzung aufgedrängt hätte. Nach dem Zweiten Weltkrieg betrug der Anteil der USA an der weltweiten Industrieproduktion 45 Prozent. Inzwischen sind es noch maximal 27 Prozent. Im Bereich des Maschinenbaus ist China mit 29 Prozent führend. Es folgen Deutschland und Japan mit je ungefähr 15 Prozent. Um den vierten Platz rivalisieren Italien und die USA mit je 7 Prozent. China hat die amerikanische Arbeiterschaft zerstört, und weil Trump das erkannt und gesagt hat, wurde er Präsident.

Weltwoche: Wie steht es um die industrielle Stärke und Reserven der Russen?›››

Todd: Auf beiden Seiten kommen zusehends weniger hochentwickelte Waffen zum Einsatz, man kann nicht abschätzen, welche Seite zuerst aufgeben wird. Der Krieg macht das fundamentale Problem der Amerikaner bewusst: Es fehlt ihnen an Ingenieuren. In den USA werden 7 Prozent der Studenten zu Ingenieuren ausgebildet. In Russland sind es 25 Prozent.

Weltwoche: Bei einem vergleichbaren intellektuellen Niveau?

Todd: Es ist in Russland zweifellos höher. Die Amerikaner kompensieren ihr Dezit mit der Einwanderung. Die Hälfte der amerikanischen Wissenschaftler und Ingenieure kam ausserhalb des Landes zur Welt. Es handelt sich vor allem um Inder und Chinesen. Man kann sich ausrechnen, was passiert, falls China die Auswanderung seiner Studenten verbietet. Die Waffenindustrie ist auf Ingenieure angewiesen. Auch eine moderne Armee besteht aus Ingenieuren. Ich habe Putins Texte gelesen. Er weiss um die Schwäche der Amerikaner und die Deindustrialisierung. Ihm ist bewusst, dass ihre Wirtschaft zum Teil auf fiktiven Werten beruht und sie ihren Wohlstand der Notenpresse verdanken. Deshalb hat er es gewagt, sie anzugreifen. Ich habe keine Ahnung, wie es sich mit dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis verhält. Die Nato ist dabei, ihre Bestände zu verbrauchen. Russland genauso. Trotz seines lächerlich kleinen Bruttosozialprodukts ist es in der Lage, den Amerikanern zu widerstehen. Der Westen hat die Russen völlig unterschätzt, sein intellektuelles Dezit ist erschreckend.

«Ich verstehe Putins Denken und Handeln und kann es in drei Minuten erklären.»

Weltwoche: Putin und die Russen sind intelligenter?

Todd: Ihre Strategie setzt auf die «longue durée» des amerikanischen Niedergangs. Amerika kompensiert ihn mit dem Druck auf seine alten Protektorate. Die Kontrolle über Europa – vor allem Deutschland – und Japan ist zu seiner Priorität geworden. Gegen seinen Krieg im Irak hatten Chirac, Schröder und Putin an einer gemeinsamen Pressekonferenz protestiert. Seither hat Amerika das erreicht, was man auf Deutsch die «Gleichschaltung» Europas nennt. Der Rest der Welt aber hält es mit Russland. Als es kommunistisch war, verbreitete es Angst und Schrecken. Es war atheistisch, imperialistisch. Heute steht Russland für eine konservative Weltsicht und verteidigt die Souveränität der Völker und Nationen, die alle ein Recht auf Existenz haben.

Weltwoche: Ausser der Ukraine. Ihr hat Putin nicht nur dieses Recht abgesprochen. Er hat ihre Existenz geradezu negiert.

Todd: Putin hatte verlangt, dass in den russischsprachigen Gebieten die Sprache respektiert wird. Und er wollte, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt. Dieser Krieg hätte vermieden werden können.

Weltwoche: Ganz einfach: Niemand hat Putin zum Überfall gezwungen.

Todd: Deutschland und Frankreich sind mitverantwortlich. Man war ständig in Kiew. Europa träumte von seiner Ausdehnung nach Osten, in die Ukraine. Ausgelöst hat die russische Reaktion die militärische Aufrüstung, Ausbildung und «Beratung» der ukrainischen Armee. Wenn die Nato darauf verzichtet hätte, die Ukraine zu einem Teil ihres militärischen Dispositivs zu machen, hätte es diesen Krieg nicht gegeben.

Weltwoche: Das alles geschah mit Einwilligung der Ukraine, und niemand hat Putin gezwungen, dieser Provokation in die Falle zu gehen.

Todd: Donezk bendet sich hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Distanz zu Washington beträgt 8400 Kilometer. Der Krieg spielt sich an der Grenze Russlands ab. Auch deshalb ist es ein defensiver Krieg – ein Verteidigungskrieg. Ich stelle die Existenzberechtigung der Ukraine nicht in Frage. Und als Anthropologe habe ich gute Argumente, ihre Existenz zu untermauern: Die Familienstrukturen in der Ukraine sind der liberalen und individualistischen Tradition Europas sehr viel näher als dem patriarchalen, autoritären System Russlands.

Weltwoche: Was sagt die Demografie über die Ukraine aus?

Todd: Es hat seit 2001 keine Volkszählung gegeben. Die Bevölkerung nimmt rapide ab. Welche Regionen sind betroffen, wer ist ausgewandert, wer ist geblieben? Man weiss es nicht. Heute wird das Land als angehende Demokratie verklärt. Zu Beginn des Kriegs war es ein failed state und völlig korrupt. Die Ukraine wird fremdfinanziert. Sie ist kein klassischer Staat mehr. Das wenige, was ich weiss: Das Land ist fähig, Krieg zu führen. Aber ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert. Kaum war es befreit, weigerte es sich, die Kontrolle über die russischen Gebiete abzugeben. Das ist ein bekanntes Verhalten, diesen Fall hat es zwischen den Weltkriegen mehrfach gegeben. Der Anspruch der Ukraine, zwei relativ kleine Regionen gegen deren Willen und jenen des zehnmal mächtigeren Nachbarn Russland behalten zu wollen, ist nicht vernünftig. Er ist absurd. Russland verlangte Garantien für seine Sicherheit. Und es forderte für die russischen Bevölkerungen im Donbass und auf der Krim, die wirklich russisch sind, ein Leben, das ihre kulturelle Autonomie respektiert. Dieser Krieg hätte nicht ausbrechen dürfen. Wie alle Kriege.

Weltwoche: Und jetzt ist es ein Weltkrieg.

Todd: Wenn Russland überlebt, den Donbass und die Krim behält, wenn seine Wirtschaft weiterhin funktioniert und es seine Handelsbeziehungen neu gestalten kann, mit China und Indien – dann hat Amerika den Krieg verloren. Und in der Folge wird es seine Alliierten verlieren. Deshalb werden Amerika und die Nato weitermachen. Und darum handelt es sich um einen Weltkrieg, der andauern wird. Seine hauptsächlichste Ursache ist die Krise des Westens.

Weltwoche: Die sie mit der Demograe und der Desindustrialisierung begründen.

Todd: Der Westen besteht aus den Atlantikstaaten USA, Grossbritannien und Frankreich. Sie haben der Welt die Aufklärung, die Vernunft, den Liberalismus beschieden. Die Abwicklung der Industrie zugunsten einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft ist ihnen gemein. In diesem Sinn sind Japan und Deutschland, die weiterhin auf die Industrie setzen, keine westlichen Staaten. In Deutschland ist die Emanzipation der Frauen weniger weit fortgeschritten und die Rollenverteilung der Geschlechter traditioneller als in Frankreich und England. Und weil die Frauen weniger studieren, gibt es mehr Ingenieure. 1933, als Hitler an die Macht kam, wäre niemand auf die Idee gekommen, Deutschland als westliches Land zu bezeichnen.

Weltwoche: Diese Zugehörigkeit kam mit der Niederlage 1945?

Todd: Die Zugehörigkeit von Japan und Deutschland zum Westen ist die Folge einer militärischen Eroberung. Die Japaner sind sich dessen völlig bewusst. Ich kenne das Land, ich war mehr als zwanzigmal in Japan, wo ich wirklich bekannt bin. Die Japaner reden ganz normal darüber. Aber sie haben keine Lust, zum Westen zu gehören. Sie sind sehr modern, doch gleichzeitig halten sie an ihrer Tradition und Kultur fest. Die Deutschen tun so, als würden sie zum Westen gehören. Auch das ist Teil ihrer Neurose. Durch den Krieg ist die führende europäische Wirtschaftsmacht wieder zu einem verängstigten, bevormundeten Protektorat geworden. Aber ich kann die Deutschen sehr wohl verstehen. Auch mich hat dieser Krieg in eine tiefe Sinnkrise gestürzt. Ich darf Ihnen das erzählen, weil wir uns schon so lange kennen. Ich dachte immer, wir, die Franzosen, seien Dummköpfe. Und ich tröstete mich mit England, wo drei meiner Enkel leben. Ich habe in Cambridge studiert, es ist meine geistige Heimat. Aber heute ist England ein verwirrtes Land im Untergang. Seine Presse und seine Regierung frönen einem Kriegsdelirium, wie es nicht einmal in Deutschland zu beobachten ist. Bei allem, was ich in den letzten Jahrzehnten geschrieben habe, auch zum Irakkrieg: Nie habe ich die Engländer auch nur mit einem einzigen Wort kritisiert. Jetzt bringen sie mich zur Verzweiflung.

Weltwoche: Wie sehen Sie die Welt von morgen?

Todd: Der Westen hat seine Werte verloren und bendet sich in einer Spirale der Selbstzerstörung. Europa gerät wieder unter die amerikanische Herrschaft. Wegen seiner schwachen Demograe wird nicht China die Welt beherrschen, sondern Indien zur Supermacht aufsteigen. Russland ist im Begriff, sich als kulturell konservative, in technischer Hinsicht fortschrittliche Grossmacht neu zu bestimmen. Doch obwohl es die traditionellen Werte der Familie verteidigt und die LGBT-Bewegung bekämpft, wird seine Geburtenrate nicht besser. Das bedeutet, dass es bereits in der gleichen metaphysischen Krise steckt wie der Westen. In der Ukraine führen sie gegeneinander Krieg. Wenn er nicht gestoppt wird, werden ihn alle verlieren.

«In diesem Krieg geht es um Deutschland» - Die Weltwoche

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«In diesem Krieg geht es um Deutschland» – Die Weltwoche

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

Ein Gedanke zu „«In diesem Krieg geht es um Deutschland», sagt der französische Historiker Emmanuel Todd im Gespräch mit der Schweizer WELTWOCHE“

  1. Interessant aber eben auch nicht ganz richtig.
    Die LGTB-Bewegung ist unser Untergang.
    Es kommt mit Sicherheit nicht auf die Geburten an, sondern auf die richtige Haltung.
    Nur, wenn wir uns von den Amis verabschieden und mit Putin gemeinsame Sache machen, haben wir noch eine kleine Chance.
    Ich selbst kenne Russland sehr gut genau SO, WIE ICH AUCH DIE JAPANER KENNE, weil ich dort gearbeitet habe.

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