3.11.2023
Wer ist die Hamas?
Von Karin Leukefeld
Die Hamas ist heute politisch, sozial und militärisch die größte und stärkste palästinensische Partei sowohl im Gazastreifen als auch in den von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland. Die Organisation, die von Israel und ihren Partnern in den USA und Europa als „Terrororganisation“ mit dem „Islamischen Staat im Irak und in der Levante“ verglichen und entsprechend bekämpft wird, entstand 1987 als palästinensischer Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft.
In jenem Jahr war der Zorn der palästinensischen Jugend auf die israelische Besatzung in der Ersten Intifada ausgebrochen, die auch „Krieg der Steine“ genannt wurde. Auslöser war, Berichten zufolge, dass ein Jeep der israelischen Besatzungsarmee – in anderen Berichten ist die Rede von einem Panzer – vier Palästinenser überfuhr und tödlich verletzte. Drei der vier Männer stammten aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Jabalya in Gaza. Rund 10.000 Menschen begleiteten die Toten am nächsten Tag zum Friedhof, es war der 9. Dezember 1987. Die israelische Besatzungsarmee feuerte wahllos in den Trauerzug. Ein 17-Jähriger wurde getötet, 16 Personen wurden verletzt. Die Beerdigung des Jugendlichen am darauffolgenden Tag wurde zum Protest gegen die israelische Besatzungsmacht.
Zu diesem Zeitpunkt waren der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem seit 20 Jahren unter israelischer Besatzung. Diese Gebiete waren nach jahrelanger israelischer Landnahme übrig geblieben vom UN-Teilungsplan des Jahres 1948. Im Sechstagekrieg 1967 hatte die israelische Armee neben diesen Gebieten die syrischen Golanhöhen und die ägyptische Sinai-Halbinsel besetzt.
Zurück ins Jahr 1987. Die Besatzungsmacht regierte mit eiserner Faust und drangsalierte die Bevölkerung mit Ausgangssperren, Razzien, Festnahmen, Deportationen und Hauszerstörungen. Die Lage war angespannt, die damaligen politischen Führer der Palästinenser berieten. Der Tod der vier Palästinenser aus dem Flüchtlingslager Jabalya im Gazastreifen brachte das Fass zum Überlaufen.
Die erste Intifada
Die Mobilisierung war nicht aufzuhalten. Während die Älteren ihren Zorn gegenüber der Besatzungsmacht durch Streiks zum Ausdruck brachten, konfrontierten Kinder und Jugendliche die israelischen Soldaten mit Steinen. Die Fatah war damals neben den säkularen Organisationen wie der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) die stärkste Organisation in den besetzten Gebieten. Sie unterstützte Streiks und Massenproteste, führte aber auch – unter dem Einfluss anderer Länder – Gespräche mit der Besatzungsmacht.
In dieser Zeit entstand die Hamas als islamische Widerstandsbewegung – und klares Gegengewicht zur Fatah, die wegen ihrer Gespräche mit der Besatzungsmacht in der Kritik stand. Israel förderte die Organisation, indem es Geldzahlungen an die Hamas zuließ und ihre Kader und Aktivisten im Gegensatz zu den anderen palästinensischen Organisationen nicht verfolgte, verhaftete oder tötete. Israels Ziel war, Uneinigkeit und Streit zu fördern und die Spaltung der Palästinenser zu vertiefen.
Doch die Hamas entwickelte sich zu einer politischen Organisation, die sich – entsprechend den Regeln der sunnitischen Muslimbruderschaft – vor allem im sozialen Bereich engagierte. Sie unterstützte Familien im Alltag, half wenn Angehörige verletzt oder verhaftet wurden. Islamische und andere Schulen entstanden sowie Kindergärten und medizinische Einrichtungen. Der so hergestellte Zugang zur Bevölkerung schaffte Vertrauen und Anhänger.
Aus den Erfahrungen der Intifada entstanden die Al-Kassam-Brigaden, der militärische Flügel der Hamas. Der Name geht zurück auf den syrischen Militärführer Izz ad-Din al-Kassam, der 1935 bei einem Kampf arabischer Widerstandskämpfer gegen die britische Mandatsarmee und zionistische Milizen getötet worden war.
1988 akzeptierte die Fatah, Israel ein Territorium von 78 Prozent Palästinas zuzugestehen, das 1948 – mit der Vertreibung der Palästinenser, der Nakba – eingenommen worden war. Für einen möglichen Staat Palästina sollten demnach 22 Prozent des ursprünglichen Territoriums bleiben. Die Hamas verurteilte die Entscheidung und lehnte die Verhandlungen mit Israel ab. Sie rief zum bewaffneten Widerstand und zur Auflösung von Israel auf. Ziel der Hamas war die Rückkehr der Palästinenser in ihr Territorium entsprechend der Grenzen von 1948.
Derweil wurden Häuser und Höfe von Palästinensern verwüstet, Oliven- und Obstbäume entwurzelt oder gefällt. Illegale jüdische Siedler unterstützten die Besatzungstruppen mit Angriffen gegen die Palästinenser. Allein im ersten Jahr der Intifada wurden nach Angaben der „UN-Organisation zur Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA)“ 300 Palästinenser getötet, 20.000 verletzt und 5.500 verhaftet. Nach Schätzungen der schwedischen Organisation „Save the Children“, die in den besetzten Gebieten und palästinensischen Flüchtlingslagern arbeitete, mussten in den ersten zwei Jahren der Intifada bis zu 29.900 Kinder wegen Verletzungen durch Schläge der Besatzungstruppen medizinisch behandelt werden. Ein Drittel dieser Kinder sei jünger als 10 Jahre alt gewesen, so der Bericht.
Verhandlungen beginnen
1991 wurde unter Druck der USA die Madrider Friedenskonferenz einberufen, auf der die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als „einzige legitime Vertretung“ der Palästinenser anerkannt wurde. Israel wurde an den Verhandlungstisch gedrängt, es folgten Geheimverhandlungen zwischen der PLO und der israelischen Regierung unter Vermittlung Norwegens. Ergebnis war das Oslo-Abkommen, das unter anderem vorsah, dass sich die israelischen Besatzungstruppen innerhalb von fünf Jahren aus den besetzten Gebieten zurückziehen und eine „Palästinensische Behörde“ den Übergang zu einem unabhängigen Staat organisieren solle. 1993 wurde das Abkommen zwischen dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und dem PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat unterzeichnet. Die Unterzeichnung fand im Garten des Weißen Hauses in Washington in Anwesenheit des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton statt.
Die Hamas lehnte das Oslo-Abkommen ab, das nach sechs Jahren die Intifada zunächst beendete. Fast 1.500 Palästinenser und 185 Israelis waren getötet worden. Mehr als 120.000 Palästinenser wurden verhaftet. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete in dieser Zeit die Resolutionen 607 und 608/1988, mit denen Israel aufgefordert wurde, keine Palästinenser mehr von ihrem Land zu vertreiben, zu deportieren und sicherzustellen, dass die betroffenen Palästinenser sicher wieder in ihre Gebiete zurückkehren konnten.
Israels Besatzung hielt an, der palästinensische Widerstand ging weiter und wurde militanter, Selbstmordanschläge gegen Israelis nahmen zu. Die Reaktion war weitere Unterdrückung gegen die Palästinenser. Illegale Siedlungen wurden in den besetzten Gebieten errichtet, die mit einer Trennmauer abgeriegelt wurden. Getrennte Verkehrswege und Absperrungen formten schließlich ein Apartheidregime, in dem Siedler gesichert und Palästinenser entrechtet wurden.
Die zweite Intifada
Im Jahr 2000 kam es zur zweiten Intifada. Israelische Besatzungstruppen und israelische Ziele wurden von Kampfgruppen aller palästinensischen Organisationen mit Bomben und Raketen angriffen. 2005 zog sich die israelische Besatzungsarmee aus dem Gazastreifen zurück, vier Siedlungen wurden aufgelöst. 2006 fanden unter internationaler Beobachtung Parlamentswahlen statt, die deutlich von der Hamas mit ihrer Liste „Wandel und Reformen“ gewonnen wurde. Sie erhielt 74 von 132 Sitzen, Fatah erhielt 45 Sitze.
Zwischen Fatah und Hamas entwickelte sich ein blutiger Machtkampf, den die Hamas 2007 für sich entschied. Sie vertrieb die Sicherheitskräfte der Fatah, die mit Israel kooperierten, aus dem Gazastreifen und übernahm die Regierung. Die USA listete die Hamas als Terrororganisation, andere US-Partner und NATO-Staaten folgten der Entscheidung. Israel verhängte eine komplette Blockade gegen den Küstenstreifen. Die Folge waren Armut und zunehmende Konflikte. Erneute Versuche, eine Einheitsregierung mit der Fatah zu bilden, scheiterten 2011 und 2014. Die Hamas-Charta wurde 2017 dahingehend geändert, dass ein Waffenstillstand angestrebt wird. Seitdem erkennt die Hamas die Existenz Israels in den Grenzen von 1948 an sowie die Abkommen der PLO seit 1993, einschließlich des Oslo-Abkommens.
Gegen den Gazastreifen
Israel startete seit der Komplettabriegelung 2007 vier Großangriffe gegen den Gazastreifen, der mit heute 2,5 Millionen Menschen als größtes Freiluftgefängnis der Welt gilt. 2008/09 dauerte der Angriff 23 Tage, 1.400 Palästinenser und 14 Israelis wurden getötet. 2012 dauerte der Angriff acht Tage, dabei wurde der Oberkommandierende der Kassam-Brigaden Ahmed al-Dschabari getötet. 2014 dauerte der Angriff 50 Tage, nachdem drei israelische Jugendliche von der Hamas entführt und getötet worden waren. 2.100 Palästinenser sowie 73 Israelis, darunter 67 israelische Soldaten, wurden getötet.
2021 folgte der nächste Angriff, der im Gazastreifen mindestens 260 palästinensische Todesopfer forderte. 13 Israelis kamen in Israel durch Raketenbeschuss ums Leben. Auslöser waren Angriffe der israelischen Sicherheitskräfte gegen muslimische Gläubige in der Al-Aksa-Moschee.
Die Liste ist unvollständig, zeigt aber, dass die Auseinandersetzungen zwischen Hamas und den israelischen Besatzungstruppen blutiger und erbitterter wurden. Parallel dazu verschärfte sich die Repression der Besatzungstruppen im besetzten Westjordanland. Der Siedlungsbau wurde ausgeweitet, Häuser, Felder, Ställe, die Lebensgrundlagen der Palästinenser zerstört. In Ostjerusalem wurden und werden Häuser zerstört, Palästinenser enteignet und deportiert. Provokationen in und um die Al-Aksa-Moschee nehmen zu. Im Gazastreifen liegt die Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, 63 Prozent der Haushalte sind auf Almosen internationaler Hilfsorganisationen angewiesen.
Die israelische Belagerung des Gazastreifens und die Besatzung des Westjordanlands verhindert eine politische und wirtschaftliche Perspektive für die Menschen und einen palästinensischen Staat.
Die Hamas und der Kampf der Kassam-Brigaden erfährt heute Unterstützung von Palästinensern aller politischen Fraktionen. Zahlreiche Gesprächspartner erklärten gegenüber der Autorin, dass es in dieser Phase der Konfrontation nicht um Ideologie, sondern um die Befreiung der Palästinenser von einem blutigen Siedlerkolonialismus geht, der trotz Abkommen und unzähliger UN-Resolutionen den Palästinensern keine Zukunft in ihrer Heimat und keinen Raum auf ihrem Land lassen will. Unterstützt wird die Hamas von Katar und vom Iran. Während Katar die Führung der Hamas beherbergt und im Gazastreifen finanziell und sozial hilft – beispielsweise mit Stipendien für Studierende aus dem Gazastreifen –, förderte der Iran den Aufbau und die Ausbildung der Kassam-Brigaden.
Der Kampf der Palästinenser um ihr Land begann vor mehr als 100 Jahren. Während des Ersten Weltkriegs einigten sich 1916 die beiden europäischen Kolonialmächte Britannien und Frankreich über die Grenzen ihrer Interessensphären in den ehemaligen arabischen Provinzen des zerfallenden Osmanischen Reiches. Mit dem geheim ausgehandelten Sykes-Picot-Abkommen zogen die beiden Diplomaten Mark Sykes (Britannien) und François Georges-Picot (Frankreich) Grenzen vom östlichen Mittelmeer bis zum damaligen Persischen Reich und zum Persischen Golf. 1917 erklärte Britannien gegenüber der zionistischen Weltbewegung seine Unterstützung für den Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina. Auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 wurde Palästina zwischen den Mandatsmächten Britannien und Frankreich zerteilt. 1947 scheiterte der UN-Plan, das britische Mandatsgebiet Palästina in zwei Staaten zu teilen. Im darauffolgenden Jahr griffen zionistische Milizen Palästinenser in ihren Dörfern und Städten an. Nach Angaben der UNO wurden 530 Dörfer zerstört, mehr als 800.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Diese Katastrophe, die die Palästinenser Nakba nennen, ist bis heute prägend nicht nur für das palästinensische Volk. Um das aktuelle Geschehen zwischen Israel und der Hamas zu verstehen, muss man die Geschichte kennen.
Ergänzung: das Interview von Ken jebsen mit Petra Wild von 1997 machte den „Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“ damals schon sehr deutlich:https://www.youtube.com/watch?v=tJpfALoNaBE