Moshe Zuckermann im OVERTONE-Interview über Israel und GAZA

nachfolgend das Interview mit Zuckermann über Israel und Gaza im Online-Magazin Overton, zusätzlich Textdatei in der Anlage, und für die, die lieber was auf die Ohren haben wollen, gibt es auf der Seite auch einen Link zu dem Interview auf Youtube (der aber verweigert wird!).

Zuckermann äußert sich hier auch, so weit es geht, zu den Perspektiven der Region; Leseprobe:

„Die Frage, was aus dem Gazastreifen werden soll, ist übrigens nicht so ganz anders als das, was aus dem Gebiet mit den verlassenen Ortschaften um ihn herum auf der israelischen Seite werden soll. Israelische Bewohner haben gesagt, wenn wir keine Sicherheit haben und es auch im Norden von der Hisbollah keine Sicherheit gibt, kehren wir nicht mehr zurück. Im Süden sind die israelischen Kibbuze und Ortschaften teilweise vernichtet. Das sieht auch aus wie nach einem schlimmen Krieg. Aber der Gazastreifen ist ohne eine ganz, ganz große Anstrengung mit viel arabischem Geld, großen europäischen Zuwendungen und amerikanischen Hilfen eigentlich von Menschen nicht mehr bewohnbar. Eine der möglichen latenten Intentionen Israels ist, den Gazastreifen so zuzurichten, dass die Menschen auf der Sinai-Halbinsel, in Ägypten oder der Teufel weiß wo aufgenommen werden müssen. Die Ägypter wehren sich natürlich dagegen, obwohl ich jetzt gehört habe, dass doch davon die Rede sein soll, dass Palästinenser in Sinai aufgenommen werden sollen.“

Hier nun das Interview:

Moshe Zuckermann: „Wir erwarten in Israel eine Wirtschaftskatastrophe“

11. Dezember 2023 Florian Rötzer Bild: al-quds

Im Gespräch über die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs, der den Gazastreifen in eine unbewohnbare Mondlandschaft verwandelt, die Ziele der israelischen Regierung und eine mögliche Konfrontation Israels mit den USA.

Nach den Waffenpausen geht unvermindert der Krieg im Gazastreifen weiter. Man hört immer wieder, dass Geiseln gestorben seien. Der Grund ist nicht klar. Sind sie wegen der Bombardierung gestorben, hat Hamas sie getötet, sind sie möglicherweise krank gewesen? Wie steht es denn im Augenblick die um die Angehörigen-Bewegung der Geiseln? Sie hat auch einen Rückhalt in der Bevölkerung und ist vermutlich weiterhin gegen eine Fortführung des Krieges, der das Leben der Geiseln gefährdet. Oder gibt es da Spaltungen innerhalb der Geiselangehörigen?

Moshe Zuckermann: Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass sich in Israel eine Spaltung aufgetan hat. Es gibt auf der einen Seite die Zielsetzung, dass die Hamas sowohl politisch als auch militärisch liquidiert werden soll. So weit ist man noch lange nicht. Dafür braucht man noch Monate, die man nicht unbedingt hat. Und auf der anderen Seite gibt es den Druck der Angehörigen der Entführten, auch der Eltern der gefangenen Soldaten, die auf jeden Fall ihre Kinder zurückhaben wollen. Es gibt in der Bevölkerung eine große Unterstützung für die Angehörigenbewegung, aber die Regierung geriert sich nicht immer so, als würde sie das als wirkliches Ziel verfolgen. Genau weiß das niemand, weil man nicht weiß, was diplomatisch geschieht. Gestern gab es die Nachricht, dass eine militärische Operation versucht hat, Geiseln zu befreien. Dabei sollen zwei israelische Soldaten schwer verletzt, aber keine Geisel gefunden worden sein.

Natürlich würde die Regierung gerne die Geiseln freikriegen, aber man merkt deutlich, dass ihr die weitere Kriegsführung eher am Herzen liegt. Das hat auch damit zu tun, dass derjenige, der an der Spitze der Regierung steht, also Netanjahu, ein persönliches Interesse hat, den Krieg endlos weiterzuführen, weil er damit seinen Prozess aufschiebt und im Grunde genommen auch seinen politischen Niedergang aufschieben kann. Denn wenn der Krieg zu Ende ist, wird es hier eine Bewegung geben, die dafür sorgt, dass keiner ungeschoren bleibt, der am 7. Oktober das Debakel zu verschulden hatte.

Es ist wiederholt bestätigt worden, dass schon lange vor dem 7. Oktober das Militär und Geheimdienste wussten, dass Hamas im Gazastreifen trainiert und der Angriffsplan schon vorgelegen ist. Und trotzdem wurde nichts gemacht. Warum war man so borniert?

Moshe Zuckermann: Die einzige Erklärung ist, dass es diese Konzeption wie schon vor dem Jom-Kippur-Krieg gegeben hat, also dass Hamas im Moment abgeschreckt sei und keinen Waffengang wagen würde. Man kann ja immer mit Verschwörungstheorien beginnen und fragen, ob Netanjahu, nachdem die Protestbewegung gegen die Justizreform so stark wurde und er gemerkt hat, dass sein Stuhl zu wackeln beginnt, nicht an einem Waffengang interessiert gewesen ist. Aber das sind Spekulationen, die ich nicht verfolgen will, solange ich keine Beweise dafür habe.

Ich gehe davon aus, dass man einfach zu arrogant gewesen ist, weil man wähnte, eine große Militärmacht zu sein. Aber man kann auch große Militärmacht eine Schlappe erleben. Aber das war nicht nur eine Schlappe, sondern die größte Katastrophe, die Israel auf eigenem Boden erlebt hat. Das war wirklich ein Schlag. Die Regierung redet dauernd von Sieg und Sieg und Sieg. Aber es gibt viele in Israel, auch Kommentatoren übrigens, die sagen, Israel kann nicht mehr siegen. Nicht deshalb, weil Hamas nicht militärisch geschlagen werden kann, sondern weil es nach dem Desaster vom 7. Oktober keinen Sieg geben kann. So viele sind umgekommen. Ganze Ortschaften sind zu Bruch gegangen. Man weiß nicht, wie lange die Situation auch in den evakuierten Ortschaften im Norden noch dauern wird. Also von Sieg kann wahrhaft nicht die Rede sein. Das sind jetzt Slogans der Propaganda.

Die israelische Armee ist bemüht darum, Bilder zu zeigen und Informationen zu geben, wie der Fortlauf des Krieges ist. Glaubt man eigentlich in Israel den Verlautbarungen?

Moshe Zuckermann: Wir hatten verschiedene Arten von Militärsprechern in Israel. In der Vergangenheit hat man immer gesagt, wenn Militärsprecher spricht, dann widerspiegelt er nur das, was das Interesse des Militärs ist. Der gegenwärtige Militärsprecher gilt in der Bevölkerung als einer, der glaubwürdiger ist als die vergangenen ist. Das Problem ist aber nicht, ob er das sagt, was mehr oder weniger vertrauenswürdig ist, sondern die Gesamtfrage ist, ob Militär und Regierung und auch die Medien in irgendeiner Weise noch versuchen zu widerspiegeln, was man im Gazastreifen anrichtet. Es findet eine Humankatastrophe statt, es gibt inzwischen so viele Tote, wie man sich das kaum noch ausmalen kann. Da wird dauernd abgewunken, dass das alles Angaben der Palästinenser sind, weshalb sie nicht glaubwürdig seien. Aber mittlerweile weiß man, dass wirklich eine Humankatastrophe auch bei Unbeteiligten, bei vielen Frauen und Kindern veranstaltet wurde. Davon erfährt man in den israelischen Medien nichts, auch nicht in den Regierungsverlautbarungen.

Begreiflicherweise spricht auch der Militärsprecher nicht davon, da geht es nur darum, dass sie so und so viele Terroristen getötet haben. Aber kleine Kinder und Frauen sind keine Terroristen. Davon ist aber hier absolut nicht die Rede. Und wenn schon mal darüber gesprochen wird, besonders wenn es von den Rechtsradikalen herkommt, dann sagen sie: Na ja, das ist die eigene Schuld der Palästinenser. Die haben ja die ganze Angelegenheit angeleiert und deshalb müssen sie das jetzt auch ausfressen. Die Frage ist also nicht so sehr, ob der Militärsprecher glaubwürdig ist, sondern inwieweit die israelische Propaganda im Moment im Grunde genommen ganz Israel abschottet von dem, was die ganze Welt sieht. Die ganze Welt sieht ja die Bilder, und wenn man will, kann man sie auch in Israel natürlich über soziale Medien und die Auslandskanäle sehen. Aber man will das nicht sehen.

Weiteres Bild, das an Abu Ghraib erinnert. Nach israelischer Propaganda Hamas-Terroristen, die sich ergeben haben. In Wirklichkeit stehen maximal 10-15 Prozent der Schikanierten irgendwie in Zusammenhang mit Hamas.

Wurde nicht kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das verbietet, sogenannte Hasspropaganda auf sozialen Netzwerken wie Facebook zu sehen. Man will verhindern, dass die Bilder gesehen werden.

Moshe Zuckermann: Das Problem ist, dass Israel noch immer in diesem Schock von der großen Katastrophe, die am 7. Oktober stattgefunden hat, gefangen ist, dass im Grunde genommen alles, was die Regierung und das Militär tut, akzeptiert wird. Wenn es nicht mit so einem Fiasco am 7. Oktober begonnen hätte, hätten sich schon längst protestierende zivile Gruppen gebildet. Es wären sogar von der zionistischen Linken Aufforderungen gekommen, endlich einen Waffenstillstand zu verhandeln und so weiter und so fort. Der 7. Oktober war in der Tat auch eine Zäsur in der Art und Weise, wie die Zivilgesellschaft noch reagiert. Und wenn du sagst, es gebe Gesetze gegen Hass, wer soll denn die Gesetze heute durchsetzen? Soll der Innenminister, der die ganze Hasspropaganda mit anschürt, das durchsetzen? Es ja ganz im Sinne der Regierung, wenn es eine solche Hasspropaganda gegen die Palästinenser gibt.

Ich meinte nicht gegen die Palästinenser, sondern wenn Bilder aus dem Gazastreifen angeschaut werden, die als terroristische Propaganda der anderen Seite gelten.

Moshe Zuckermann: Wenn das der Fall ist, dann gibt es dafür nicht nur ein Gesetz, sondern ein Vorgehen. Wenn es in irgendeiner Weise eine Solidaritätsbekundung mit den Palästinensern oder selbst nur Hinweise gibt, was der anderen Seite angetan wird, reagieren die Gesellschaft und die Polizei hart. Wenn israelische Araber sich solidarisch mit der humanitären Katastrophe zeigen wollen, wird eine solche Demonstration verboten.

Man kann heute sehr schnell etwas mit der Polizei zu tun bekommen, wenn man etwas sagt, was „falsch“ ist. Wenn vieles, was ich dir sage, der israelischen Bevölkerung oder den offiziellen Instanzen bekannt würde, wäre das ein Grund, gegen mich anzugehen. Es gibt den Israel Academia Monitor, eine von den Rechten eingerichtete Verfolgungsinstanz von Akademikern, die sich irgendwie Israel kritisch äußern. Neulich waren Zimmermann und ich dran. Es wurde erst einmal mein akademischer Status in Frage gestellt, und dann wurde ich gewissermaßen geteert und gefedert.

Aber du machst es trotzdem.

Moshe Zuckermann: Mich tangiert das nicht. Was wollen die mir denn tun? Du kennst mich schon lang genug, um zu wissen, dass man auf keinen Fall zurückstecken soll, wenn man eine Gesinnung und etwas zu sagen hat. Entweder ist man sich selber treu oder nicht. Das Letzte, was ich mir bieten lassen würde, ist, mir den Mund zu verbieten.

Bei aller Kritik an der Kriegsführung steht die US-Regierung weiter hinter Netanjahu. Gestern gab es wieder einen Versuch, im Sicherheitsrat eine Resolution mit der Forderung nach Waffenstillstand zu beschließen, die aber von USA abgeschmettert wurde, Großbritannien hat sich der Stimme enthalten, alle anderen haben dafür gestimmt. Grund war angeblich wieder, dass die Hamas-Gräuel nicht erwähnt wurden. Jetzt kann man sich natürlich fragen, warum die Antragsteller der Resolution die Hamas-Verbrechen nicht auch in die Resolution aufnehmen? Das waren Gräueltaten, die man tatsächlich nicht einfach wegwischen kann. Verstehst du das?

Moshe Zuckermann: Warum das nicht aufgenommen wurde, kann ich nicht sagen. Auf der Weltbühne haben die Menschen mittlerweile schon vergessen, was am 7. Oktober geschehen ist. Ich habe es nicht vergessen. In Israel hat es niemand vergessen. Aber das ist die Folge ab dem Moment, ab dem Israel dermaßen disproportional reagiert hat. Man spricht immerhin schon, auch wenn ich diese Bezeichnung nicht verwende, von einem Genozid. Dabei ist der 7. Oktober ins Hintertreffen geraten.

Warum die Amerikaner ein Veto eingelegt haben? Es geht auch hier nicht ein um Gleichgewicht der Darstellung, sondern um Interessen. Biden steckt in einem Dilemma. Er muss auf der einen Seite einen Wahlkampf führen, bei dem er natürlich auch zur Kenntnis nehmen muss, dass eine ganze Menge Menschen in den USA mittlerweile das, was Israel anrichtet, verurteilen. Und er hat in seiner eigenen Partei mittlerweile Leute, die angefangen haben, die Stirn zu rümpfen. Auf der anderen Seite war er gleich am zweiten Tag nach dem 7. Oktober in Israel und hat seine Solidarität bekundet. Also er muss sich auch treu bleiben. Aus diesem Dilemma kommt er im Moment nicht raus.

Geopolitisch betrachtet ist das Problem, dass hier noch ein regionaler Flächenbrand ausbrechen könnte, wenn Israel noch lange so weitermacht und auf jeden Fall seine Pläne auszuführen. Daran sind die USA nicht interessiert. Sie haben sich zwar sehr stark gemacht mit zwei Flugzeugträgern, die nuklear bewaffnet sind, und auch Israel wird dauernd mit Waffen beliefert, aber sie haben auch in den letzten Wochen gesagt: Ihr habt jetzt noch einige Wochen Zeit, bis zum Jahresende ist Schluss. Aber bis zum Jahresende wird Israel nicht das durchsetzen können, was es durchsetzen wollte. Und das bedeutet nichts anderes letztendlich, dass Israel dann entscheiden muss, ob es sich gegen die USA stellen will.

Netanjahu traue ich zu, dass er aus seinem privaten Interesse heraus und weil er auch das Volk hinter sich weiß, es wagen würde, die USA zu konfrontieren. Wie es dann mit dem Krieg weitergehen soll, liegt vollkommen im Dunkeln, denn Israel kann ohne die Unterstützung der USA den Krieg nicht zu Ende führen. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen Biden und Netanjahu kommt, dann frage ich mich immer, ob er dann aus seinem eigenen Interesse und nicht aus dem Staatsinteresse heraus reagieren würde. Das eigene Interesse hat für ihn immer Primat. Der Mann hat wirklich schon lange Monate und Jahre nicht mehr das Staatsinteresse verfolgt.

Gibt es denn Ahnungen, wie sich Netanjahu oder das israelische Militär das weitere Vorgehen vorstellen? Ich habe kürzlich mal Satellitenbilder vorher und nachher von den Feldern und Anpflanzungen im Gazastreifen gesehen. Was grün war, ist nun vernichtet.

Moshe Zuckermann: Es ist Mondlandschaft.

Steht im Hintergrund doch die Absicht, möglichst die Palästinenser zu vertreiben oder so weit zu bringen, dass sie gehen?

Moshe Zuckermann: Die Palästinenser sind schon zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. Sie sind zuerst vom Norden in den Süden und jetzt im Süden in diesen Streifen am Meer evakuiert worden, wo sie sich versammeln sollen, damit Gaza auch im Süden zur Mondlandschaft machen zu können. Das wollen die Israelis. Das will man unter dem Gesichtspunkt, was sie militärisch erreichen wollen. Die Israelis sagen auch, in Gaza dürfe nicht mehr die Hamas herrschen, sie dürfe keine Militärmacht mehr sein, wenn wir den Krieg beendet haben. Was die Israelis dabei vorhaben, ist keinem klar.

Journalisten und auch die Publizisten, die sich ein bisschen kritisch reflektiert mit dem Ganzen auseinandersetzen, fragen: Was soll denn einen Tag nach dem Krieg dann passieren? Was stellt sich Israel eigentlich vor? Und Israel sagt dauernd nur: Nein und nein und nein, und hat keinen positiven Vorschlag. Wer soll den Gazastreifen beherrschen? Weil es palästinensisches Gebiet ist, würde naheliegen, dass die PLO das übernimmt.

Aber das will ja Netanjahu nicht.

Moshe Zuckermann: Ob das überhaupt möglich ist, weiß ich nicht. Alles darf sein, nur das nicht, so die Regierung. Ja, aber was soll es denn sein? Das ist die große Frage.

Nicht nur politisch, Gaza ist eine verwüstete Landschaft, in der Menschen eigentlich nicht mehr leben können.

Moshe Zuckermann: Die Frage, was aus dem Gazastreifen werden soll, ist übrigens nicht so ganz anders als das, was aus dem Gebiet mit den verlassenen Ortschaften um ihn herum auf der israelischen Seite werden soll. Israelischen Bewohner haben gesagt, wenn wir keine Sicherheit haben und es auch im Norden von der Hisbollah keine Sicherheit gibt, kehren wir nicht mehr zurück. Im Süden sind die israelischen Kibbuze und Ortschaften teilweise vernichtet. Das sieht auch aus wie nach einem schlimmen Krieg. Aber der Gazastreifen ist ohne eine ganz, ganz große Anstrengung mit viel arabischem Geld, großen europäischen Zuwendungen und amerikanischen Hilfen eigentlich von Menschen nicht mehr bewohnbar. Eine der möglichen latenten Intentionen Israels ist, den Gazastreifen so zuzurichten, dass die Menschen auf der Sinai-Halbinsel, in Ägypten oder der Teufel weiß wo aufgenommen werden müssen. Die Ägypter wehren sich natürlich dagegen, obwohl ich jetzt gehört habe, dass doch davon die Rede sein soll, dass Palästinenser in Sinai aufgenommen werden sollen.

Der Krieg im Gazastreifen hat den Ukraine-Krieg in den Medien verdrängt. Ich weiß nicht, wie es in Israel ist.

Moshe Zuckermann: In Israel sowieso.

In Deutschland kommt schon hin und wieder mal ein Bericht aus der Ukraine, aber es ist doch weitgehend verschwunden. Natürlich ist es sehr schwierig, beide Kriege zu vergleichen. Wo ist denn deiner Ansicht nach die Kriegsführung schrecklicher? Von Seiten Israels oder von Seiten Russlands, von der Ukraine oder von Hamas?

Moshe Zuckermann: Ich bin nicht so unterrichtet darüber. Ich weiß, dass viel verwüstet worden ist, aber das ist natürlich auch eine ganz andere Dimension. In der Ukraine und in Russland gibt es ein Hinterland. Der Gazastreifen hingegen ist ein Streifen, das ist nichts. Das ist der am dichtesten bevölkerte Landstrich der Welt gewesen, bevor jetzt der Krieg begonnen hat. Daher gibt es hier ganz andere Möglichkeiten vorzugehen. Die Ukraine hat den Russen gegenüber Paroli geboten, aber das, was die Hamas nach dem 7. Oktober macht, ist im Grunde genommen nur eine Abwehr. Eine der stärksten Armeen der Welt kämpft gegen eine Guerilla-Armee oder gegen eine Armee, die sich zusammensetzt aus terroristischen Formationen, die hier und da mal einen Vorstoß machen und irgendwelche Raketen abschießen.

Man muss auch sagen, dass offenbar das israelische Militär effizienter ist als das russische Militär. Leider ist es eine effiziente Armee gegen die Zivilbevölkerung, wie es im Moment aussieht. Auch deswegen würde ich keinen Vergleich ziehen mögen. Es sind andere Dimensionen und andere Konstellationen. Vor allem hat die Hamas nicht die Möglichkeit, sich so wie die Ukrainer zu wehren, die stark vom Westen unterstützt worden waren. Israel wird von den Amerikanern zwar im Moment mit Munition unterstützt, aber man braucht sie weiter nicht, die israelische Armee ist ja sehr gut bewaffnet.

Und Hamas wird ja auch nicht unterstützt von außen, also nicht sichtbar zumindest.

Moshe Zuckermann: Ja, genau. Sie haben damit gerechnet, dass die Hisbollah oder die Huthi im Jemen sich einsetzen wird. Aber letztendlich wird Hamas nicht wirklich unterstützt. Aber um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukomme:. In Israel redet niemand vom Ukraine-Krieg. Ich meine, in Israel wird 24/7 nur vom Gaza-Krieg berichtet. Das hat damit zu tun, dass die Bevölkerung erwartet, dass es jetzt größere Vorstöße gibt und dass die Entführten freikommen. Zudem kommen bei der Bodeninvasion fast täglich israelische Soldaten um. Begreiflicherweise sind die Israelis eher damit befasst als mit dem, was in anderen Teilen der Welt geschieht.

Im Vergleich mit dem, was wir in Sky News, in der BBC oder in den deutschen Nachrichten sehen, wo es auch eine Auslandsberichterstattung gibt, ist das in den israelischen Medien eher nicht der Fall. Normalerweise muss eine Katastrophe im Ausland passieren, dass es ein Berichtchen gibt, wenn ich das so nennen darf. Aber im Großen und Ganzen ist man wirklich nicht unterrichtet darüber, was im Ausland passiert. Alles ist sehr Israel zentriert. Man muss allerdings auch sagen, Israel ist ein Land mit seiner Okkupation und seiner Umgebung, in der es immer etwas Israelbezogenes innenpolitisch und außenpolitisch zu berichten gibt.

Es sind hunderttausende junge Männer und Frauen eingezogen worden. Die fehlen als Arbeitskräfte im Land. Die Wirtschaft muss einbrechen, wenn zu viele Leute fehlen. Es sinken die Steuereinnahmen, Schulden müssen gemacht werden. Gibt es denn  schon Überlegungen dazu, wie das weitergehen soll? Jede Woche wird es ja drastischer.

Moshe Zuckermann: Es ist drastisch, und man weiß jetzt schon, dass das kommende Budget eine Katastrophe sein wird. Wir erwarten hier eine Wirtschaftskatastrophe. Es sind ja eine ganze Menge Gelder von der Regierungskoalition an die orthodoxen Parteien geflossen, während es an Geld für die zerstörten Siedlungen im Süden fehlt. Es gibt auch nicht genügend Geld für die Soldaten, die in den Reservedienst eingezogen wurden. Aber die Regierung hat sich nicht nehmen lassen, diese Milliarden an die Orthodoxen zu zahlen. Das ist wirklich verschwendetes Geld. Das ist alles für die orthodoxen Juden, die keinen Militärdienst leisten und die sich im Grunde genommen einen Scheißdreck um Israels Wirtschaft oder Alltag kümmern. Es sind Milliarden an die gegeben wurden, weil Netanjahu seine Koalition versorgt hat.

Es wird jetzt wirklich eine Wirtschaftskatastrophe erwartet, die auch damit zusammenhängt, dass jetzt schon der Handel zusammenkracht. Ich sehe das auch auf den Straßen, dass schon Geschäfte geschlossen wurden. Tel Aviv ist eine Metropole mit Kaffeehäusern, Restaurants und Bars. Tagsüber sieht man noch Geschäftigkeit, aber wenn der Abend anfängt, ist mit einmal ganz trist. Ich weiß von einigen Geschäften, die es heute nicht mehr gibt. Das, was sich nach der Corona-Zeit ein bisschen erholt hat, bricht wieder ein. Der Krieg ist in jeglicher Hinsicht auch für Israel eine ziemliche Katastrophe.

Ist noch nicht zu beobachten, dass vermehrt Menschen ins Ausland gehen?

Moshe Zuckermann: Ins Ausland gehen, ist nicht das Problem. Die große Frage ist, wann kommt die große Protestbewegung? Wann rührt sich die Bevölkerung, die mit dieser Regierung, mit diesen Politikern, mit diesen Parteien, auch mit dem Militär abrechnet.

Fehlt da nicht auch eine Alternative? Meistens wird Protest von neuen Personen getragen.

Moshe Zuckermann: Ich rede nicht davon, dass eine Regierung geschaffen wird, die einen Friedensprozess beginnt. Nach dem Jom-Kippur-Krieg hat es mit dem legendär gewordenen Motti Ashkenazi innerhalb von wenigen Wochen eine Massenbewegung gebildet. Sie hat einen solchen Druck ausgeübt, dass Golda Meir zwar nicht sofort, aber nach einigen Monaten zurückgetreten ist. Und innerhalb von einigen Jahren wurde die Arbeitspartei, die den Staat gegründet hatte, so besiegt, dass sie nie wieder zu sich gekommen ist. Von so etwas rede ich. Ich rede gar nicht von einer Alternative, die jetzt den Frieden ankurbeln würde. Davon ist sowieso nicht die Rede.

Das Gespräch fand am Samstag, dem 9.12.2023, statt.

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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