»Wenn ich sterben muss«: Israelische Armee ermordete den palästinensischen Dichter & Literaturprofessor Refaat Alareer & seine ganze Familie

Am 6. Dezember gegen 18 Uhr wurde der 44jährige durch einen mutmaßlich gezielten israelischen Luftangriff zusammen mit seinem Bruder und dessen Sohn sowie seiner Schwester und ihren drei Kindern in Schujaija, im Osten von Gaza-Stadt, ermordet.

Aus JW: Ausgabe vom 14.12.2023, Seite 6 / Ausland

KRIEG GEGEN GAZA

»Wenn ich sterben muss«

Getötet bei einem israelischen Luftangriff in Gaza: Zum Tod des palästinensischen Lyrikers Refaat Alareer Von Jamal Iqrith

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IMAGO/TheNews2

Mahnwache für den getöteten Dichter Refaat Alareer aus Gaza (New York City, 8.12.2023)

Refaat Alareer (Rif’at al-Ar’ir) war Dichter und Literaturprofessor an der Islamischen Universität von Gaza. Er hat zudem zahlreiche Publikationen herausgegeben, zum Beispiel »Gaza writes back« (2013), eine Anthologie mit Kurzgeschichten von 15 Schriftstellern aus der Enklave, und das Projekt »We are not Numbers« mitgegründet, das jungen palästinensischen Schriftstellern Schreibworkshops auf Englisch vermittelt.

Am 6. Dezember gegen 18 Uhr wurde der 44jährige durch einen mutmaßlich gezielten israelischen Luftangriff zusammen mit seinem Bruder und dessen Sohn sowie seiner Schwester und ihren drei Kindern in Schujaija, im Osten von Gaza-Stadt, ermordet. Wie die Menschenrechtsorganisation »Euro-Mediterranean Human Rights Monitor« am 8. Dezember berichtete, wurde die Wohnung, in der Alareer und seine Familie untergebracht waren, nach bestätigten Augenzeugen- und Familienberichten aus dem Gebäude, in dem sie sich befand, »chirurgisch herausgebombt«. Wochenlang hatte der Schriftsteller demnach online und per Telefon Todesdrohungen erhalten, abgeschickt von israelischen Accounts und Nummern.

Bereits vor seinem Tod wurde »die Stimme von Gaza« zu einem Symbol des palästinensischen Widerstands gegen die Besatzung, was Alareer wohl schlussendlich zum Verhängnis wurde. Mehrfach gab er internationalen Nachrichtensendern Interviews über die Situation im Gazastreifen und forderte die Weltöffentlichkeit zum Handeln auf. Tage vor seinem Tod heftete der Dichter eines seiner Gedichte an die Spitze seines Profils auf dem Kurznachrichtendienst X, das mit den Worten endet: »Wenn ich sterben muss, lass es Hoffnung bringen, lass es eine Geschichte sein«. Als Berichte über seine Ermordung bekanntwurden, ging das Gedicht um die Welt. Demonstranten zeigten bei propalästinenischen Kundgebungen Alareers Konterfei auf Plakaten. Der Nachrichtensender CNN, dem er zuvor in einem Interview gesagt hatte, dass er und seine Familie »nirgendwo anders hingehen« könnten, sowie andere große Medien, berichteten über den Tod des Schriftstellers. In einem seiner letzten Interviews mit dem Internetportal Electronic Intifada hatte er am 9. Oktober erklärt, als Akademiker sei das Gefährlichste, was er besitze, wohl ein Textmarker, den er aber »benutzen würde, um ihn auf israelische Soldaten zu werfen«, sollten sie einmarschieren. Am 10. Oktober, drei Tage nach Beginn des Krieges, sprach er mit junge Welt über die Situation im Gazastreifen.

Schon zu diesem Zeitpunkt beklagte er die Hetze »israelischer Beamter, Politiker und Aktivisten überall in den sozialen Netzwerken und in den Mainstreammedien, die buchstäblich dazu aufrufen, Palästinenser mit Bomben zu bewerfen und Hunderttausende von Palästinensern als Kollateralschaden zu töten«. Dies geschehe überdies vor den Augen der Weltöffentlichkeit, und es gebe keine Gegenrede aus dem Ausland, das sich durch sein Schweigen an den Verbrechen gegen die Menschheit in Gaza mitschuldig mache: »Seit Jahrzehnten werden Palästinenser durch Israel getötet. Wenn wir sterben, hören wir kaum ein Wort«, so Alareer.

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Die »Aufrufe zum Völkermord« kamen laut dem Dichter jedoch nicht nur von israelischen Politikern, wie dem Verteidigungsminister Joaw Gallant, der »die Sprache der Nazis verwendet, um die Palästinenser als ›Tiere‹ zu entmenschlichen«, sondern ebenso von »amerikanischen und europäischen Politikern, die sich zu einem Massenritual beeilen«, das er als »Treuebekenntnis zu Israel und Netanjahu« bezeichnete.

Der Lyriker erklärte weitsichtig, für die Palästinenser in Gaza gebe es keine Möglichkeiten zur Flucht: »Sie werden getötet, egal, wer sie sind, wo sie sind oder wie alt sie sind.« Da der Gazastreifen abgeriegelt sei, gebe es »keinen Ausweg«. Selbst wenn man »durch Bomben gezwungen sei, die eigenen Häuser zu verlassen und in die Stadtzentren und andere Schutzräume zu gehen«, nehme die Armee die Menschen ins Visier.

Bereits am 10. Oktober war er überzeugt: »Die israelische Regierung arbeitet daran, Gaza in die ›Steinzeit‹ zu schicken«. Alareer befürchtete »Hunderttausende von Kollateralschäden im Gazastreifen, in dem rund die Hälfte der Bevölkerung unter 18 Jahre alt ist«. Die israelischen Regierungen hätten noch »nie ein Versprechen an die Palästinenser gehalten, es sei denn, sie versprachen Zerstörung und Tod«. Inzwischen sind laut »Euro-Mediterranean Human Rights Monitor« in gut zwei Monaten durch die Bomben über 23.000 Menschen getötet worden, mehr als 9.000 davon Kinder.

Die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober und den daran angeschlossenen Kampf anderer bewaffneter palästinensischer Fraktionen kommentierte er mit den Worten: »Alle Versuche, diplomatisch und friedlich von Israel die Freiheit wiederzuerlangen, sind gescheitert. Die israelische Regierung greift die BDS-Bewegung (»Boycott, Divestment and Sanctions«, jW) an und schießt auf friedliche Demonstranten. Die Palästinenser wurden in eine Ecke gedrängt, in der sie nichts zu verlieren haben. Nun tut die Welt überrascht, wenn sich das Ghetto gegen jahrzehntelange Unterdrückung, Verdrängung und Besatzung erhebt.«

JW, ONLINE EXTRA

13.12.2023, 19:35:46 / AUSLAND

UNRWA-Chef: Verzweifelte Familien ohne Essen in Gaza

Menschen stehen vor einer Verteilstelle von UNRWA nach Mehl an (

Omar Ashtawy/APA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Menschen stehen vor einer UNRWA-Verteilstelle nach Mehl an (Dair El-Balah, 7.12.2023)

Genf. Weil infolge der israelischen Angriffe kaum noch Nahrungsmittel in den Gazastreifen kommen, ist bei der Ankunft eines der wenigen Lastwagen mit Hilfsgütern Chaos ausgebrochen. Das berichtete der Chef des UN-Hilfswerks für Palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), Philippe Lazzarini, am Mittwoch in Genf. »Die Palästinenser stehen vor dem dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte seit 1948«, sagte Lazzarini.

Er habe mit eigenen Augen verzweifelte Menschen gesehen, die direkt auf der Straße Tüten aufrissen, um das wenige Essen zu verschlingen, das sie ergattern konnten, schilderte Lazzarini die Lage. Auf die Frage eines Vaters mit fünf Kindern, wie seine Familie mit einer einzigen Dose Bohnen fünf Tage überleben könne, habe er keine Antwort gehabt, so Lazzarini. Auch in den UNRWA-Einrichtungen, die fast eine Million durch die jüngsten israelischen Angriffe vertriebene Palästinenser beherbergen, gebe es manchmal für die Menschen nur eine kleine Flasche Wasser und eine Dose Thunfisch am Tag.

Die Menschenrechte der Palästinenser würden seit 75 Jahren nicht respektiert, sagte Lazzarini. Sie fühlten sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. »Die palästinensischen Flüchtlinge wollen eine Lösung, nicht nur Hilfe«, sagte er. Lazzarini verlangte eine humanitäre Feuerpause für die Versorgung der Menschen und dringende Verhandlungen über eine dauerhafte politische Lösung. (dpa/jW)

Aus JW: Ausgabe vom 14.12.2023, Seite 7 / Ausland

KONFLIKT IN NAHOST

Von Aufgeben keine Spur

Gaza: Hamas leistet weiter Gegenwehr, während Israel Hunderte Zivilisten verhaftet. US-Präsident kritisiert »willkürliche« Bombardierung Von Wiebke Diehl

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Israel Defense Forces/Handout via REUTERS

Auf zerstörtem Terrain: Israelische Soldaten patrouillieren im Gazastreifen (12.12.2023)

Die Hamas ist im Gazastreifen alles andere als besiegt. Vielmehr trifft die israelische Armee bei ihrer Offensive in der Küstenenklave weiterhin auf erbitterte Gegenwehr – auch wenn Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu behauptet, der »Anfang vom Ende« der Hamas sei angebrochen.

Tatsächlich scheint das israelische Militär weiterhin Männer zu verhaften, nur weil sich diese im wehrfähigen Alter befinden. Immer mehr Familien berichten, ihre zivilen Angehörigen seien verschwunden, und ihnen sei keinerlei Information zugekommen, was mit ihnen geschehen sei, wie vor einigen Tagen auch in der Washington Post nachzulesen war. Fotos von palästinensischen Gefangenen, die nur mit Unterhosen bekleidet waren, hatten weltweit Kritik hervorgerufen. Gleiches gilt für Fotos und Videos ebenfalls kaum bekleideter palästinensischer Männer, die auf Lastwagen verladen und davongefahren wurden. Während israelische Medien auf Verhaftungsvideos Hamas-Mitglieder erkennen wollen, geben Angehörige an, ihre Verwandten hätten nie eine Verbindung zur Hamas oder zu anderen bewaffneten Organisationen gehabt. Nach Auskunft der Gesundheitsbehörden im Gazastreifen befinden sich unter den in den letzten Wochen Verhafteten auch mindestens 36 medizinische Fachkräfte. Sarah Davies, Sprecherin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), gab Anfang Dezember an, ihre Organisation habe allein zwischen dem 7. Oktober und dem 29. November mehr als 3.000 Berichte über vermisste Bürger des Gazastreifens erhalten – in den vergangenen Tagen hat sich diese Zahl deutlich erhöht.

Ebenfalls spricht für ein Fortbestehen der Kampfkraft der Hamas, dass am Mittwoch laut Berichten israelischer Medien in Gaza-Stadt mindestens sieben Soldaten in einen Hinterhalt gelockt und getötet wurden. Insgesamt sind nach Angaben des israelischen Militärs seit Dienstag zehn Soldaten im Gazastreifen ums Leben gekommen. Seit Beginn der Offensive starben nach offiziellen Angaben inzwischen 115, wobei allerdings fast ein Fünftel davon auf Eigenbeschuss oder Unfälle zurückzuführen sei, wie das israelische Nachrichtenportal Ynet am Dienstag berichtete. Unter der palästinensischen Bevölkerung sind im gleichen Zeitraum nach Angaben der Gesundheitsbehörden im Gazastreifen 18.400 Menschen getötet worden, zwei Drittel davon Kinder und Frauen. Israel beharrt derweil darauf, nur »präzise Angriffe auf Terrorziele« auszuführen.

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Bemerkenswerte Worte fand in diesem Zusammenhang US-Präsident Joseph Biden am Dienstag (Ortszeit) auf einer Wahlkampfveranstaltung in Washington, indem er die Bombardierung des Gazastreifens »willkürlich« nannte. Auch wolle Netanjahus »konservativste Regierung in der Geschichte Israels« keine Zweistaatenlösung. Der nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jakob Sullivan, kündigte zudem an, neben einem Zeitplan für die Beendigung größerer Kampfhandlungen im Gazastreifen würden bei seinem Israel-Besuch diese Woche auch die Differenzen zwischen Washington und Tel Aviv bezüglich der Zukunft des Gazastreifens auf der Tagesordnung stehen. Sullivan bekräftigte, die US-Regierung lehne eine neuerliche Besetzung der Küstenenklave ebenso ab wie eine Verkleinerung des Gebiets. Netanjahu hatte gesagt, die israelischen Streitkräfte sollten nach Beendigung des Krieges eine unbefristete Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen ausüben. Außerdem werde Gaza weder von der Hamas noch von der Palästinensischen Nationalbehörde regiert werden.

Derweil verschärft sich die Lage der Zivilbevölkerung in dem abgeschotteten Gebiet immer weiter. Wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Dienstag bekanntgab, sind inzwischen nur noch elf der insgesamt 36 Krankenhäuser funktionstüchtig, und das auch nur teilweise. Lediglich eines davon befinde sich im Norden. Auch kritisierte die WHO die zunehmenden israelischen Kontrollen medizinischer Konvois im Gazastreifen sowie die Inhaftierung medizinischen Personals. Beides stelle eine Gefahr für die Versorgung von Patienten dar, mindestens ein Mensch sei wegen eines solchen Vorfalls bereits gestorben. Betroffen gewesen seien auch von der WHO durchgeführte Verlegungen von Patienten und Lieferungen chirurgischen Materials.

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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