Gideon Levy: Wenn es in Gaza kein Genozid ist, was ist es dann?

Gideon Levy, Redakteur und Mitherausgeber der israelischen Zeitung Haaretz, hat zum Prozess am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wo Israel von Südafrika des Genozids beschuldigt wird und erste Verhandlungen stattgefunden haben, einen ersten Kommentar geschrieben.

14. Januar 2024 Von: Gideon Levy – über nommen von globalbridge.ch

15. Januar 2024


Jeden Tag Tote und wieder Tote, nicht zuletzt Kinder, Frauen und auch wehrlose ältere Menschen.

(Red.)Levy macht darauf aufmerksam, dass die juristische Bewertung des israelischen Vorgehens das eine ist   – sie kann so oder so ausfallen   –, die tägliche Realität des israelischen Vorgehens aber das andere und letztlich das wichtigere ist. Und einmal mehr staunt er über die einseitige Berichterstattung in den israelischen Medien. (cm)

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Gideon Levy

Gehen wir davon aus, dass Israels Position in Den Haag richtig und gerecht ist und Israel keinen Völkermord oder etwas Ähnliches begangen hat. Was ist es dann? Wie nennst du das Massenmorden, das auch während des Schreibens dieser Zeilen weitergeht, ohne Einschränkung, ohne Zurückhaltung, in einem Ausmaß, das man sich nur schwer vorstellen kann? 

Wie nennt man sterbende Kinder in Krankenhäusern, von denen einige niemanden mehr auf der Welt haben, und hungrige ältere Zivilisten, die vor der unaufhörlichen Bedrohung durch Bomben um ihr Leben fliehen? Wird die rechtliche Definition ihr Schicksal ändern? Israel wird aufatmen, wenn das Gericht die Anklage abweist. Wenn es sich nicht um Völkermord handelt, wird unser Gewissen wieder rein sein. Wenn Den Haag sagt, dass es sich nicht um Völkermord handelt, werden wir wieder die moralischsten Menschen der Welt sein.

An diesem Wochenende überschlugen sich die israelischen Medien und die sozialen Medien mit Bewunderung und Lob für das Anwaltsteam, das uns in Den Haag vertreten hat. Welch elegantes Englisch und überzeugende Argumente. Am Vortag berichteten die Medien kaum über die Position Südafrikas, die in noch besserem Englisch als das Englisch der Israelis vorgetragen wurde und weitaus mehr auf Fakten und weniger auf Propaganda beruhte, was einmal mehr beweist, dass Israels Medien in diesem Krieg einen absoluten Tiefpunkt erreicht haben. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, die israelische Position zu stärken und die Position des „legalen Arms der Hamas“ zunichte zu machen. Sieh dir an, wie viel juristische Ehre uns diese Experten eingebracht haben. 

Nehmen wir an, wir reden über ein Land, das wegen der schwersten Verstöße gegen das Völkerrecht vor Gericht steht. Diejenigen mit den schwarzen Roben und weißen Perücken und diejenigen ohne sie präsentierten Israels übliche Argumente, von denen einige gerecht sind, wie zum Beispiel die Beschreibungen der Gräueltat vom 7. Oktober. 

An anderen Stellen war es schwer zu entscheiden, ob man lachen oder weinen sollte. Zum Beispiel bei dem Argument, dass allein die Hamas an den Zuständen in Gaza schuld ist. Israel hat damit nichts zu tun. Wenn man das vor einer angesehenen internationalen Institution sagt, stellt man die Intelligenz der Richter in Frage und beleidigt sie. 

Und was ist von den Äußerungen des Leiters des israelischen Verteidigungsteams, Prof. Malcolm Shaw, zu halten: „Die Aktionen Israels sind verhältnismäßig und richten sich nur gegen bewaffnete Kräfte“? Aber was ist die Wahrheit? Verhältnismäßig bei einer solchen Zerstörung? Wenn das verhältnismäßig ist, wie sähe dann unverhältnismäßig aus? Hiroshima? 

„Nur gegen bewaffnete Streitkräfte“, mit einer Unzahl toter Kinder? Wovon redet er? „Wer hat in Gaza noch ein funktionierendes Telefon und wohin sollen sie in dieser Hölle, in der es kein einziges Stück sicheren Bodens gibt, evakuiert werden? Und das Allerletzte: „Selbst wenn die Soldaten gegen die Kriegsgesetze verstoßen haben sollten, wird das israelische Rechtssystem darüber entscheiden.“ Shaw hat offenbar noch nie etwas vom israelischen Rechtssystem gehört und noch weniger von dem, was man das militärische Rechtssystem nennt. Er hat noch nie gehört, dass nach der Operation „Cast Lead“, dem Konflikt mit dem Gazastreifen in den Jahren 2008-2009, nur gerade vier Soldaten wegen Straftaten angeklagt wurden und nur einer von ihnen wegen des Vergehens des Diebstahls einer Kreditkarte (!) ins Gefängnis kam. All die anderen, die Granaten und Bomben auf Unschuldige warfen, werden nie angeklagt werden. 

Und was ist mit den Äußerungen von Dr. Galit Rejwan, der Wochenend-Entdeckung, die zweifellos ausgewählt wird, um bei der Zeremonie zum Unabhängigkeitstag auf dem Berg Herzl die Fackel zu entzünden: „Die IDF verlegt Krankenhäuser an einen sichereren Ort.“ Wird das Shifa nach Sheba verlegt? Rantisi nach Soroka? Von welchen sicheren Orten in Gaza spricht sie und welche Krankenhäuser werden von der IDF verlegt? 

Das alles beweist natürlich nicht, dass Israel Völkermord begangen hat. Das wird das Gericht entscheiden. Aber darf man sich bei solchen Argumenten der Verteidigung Israels wohl fühlen? Darf man sich nach Den Haag wohl fühlen? Und darf man sich nach Gaza noch wohl fühlen?

Zum Kommentar von Gideon Levy im englischsprachigen Original.

(Red.) Mittlerweile hat Deutschland bekanntgegeben, Israel in diesem Prozess formell zu unterstützen, da der Vorwurf des Genozids haltlos sei, siehe z.B. «Zeit-Online».   – Die juristische Beurteilung, ob etwas ein Genozid ist oder nicht, ist spätestens seit der   – politisch motivierten   – Entscheidung des Europäischen Parlaments im Dezember 2022, der «Holodomor» sei ein Genozid gegen die Ukraine gewesen, an Bedeutung verloren, da die damalige Hungersnot auch in etlichen anderen Regionen der Sowjetunion Millionen Opfer gefordert hat. Umgekehrt hat noch kein Staat verlangt, die Belagerung von Leningrad im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche Wehrmacht als Genozid zu deklarieren, obwohl der damalig Plan war, die Stadt einfach durch Hunger auszulöschen   – mit dem Resultat von einer guten Million Toten nach fast 900 Tagen Verhinderung der Nahrungsmittelzufuhr, bis die Rote Armee die deutsche Belagerung am 27. Januar 1944 beendete. (cm)

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Quelle: https://globalbridge.ch/wenn-es-in-gaza-kein-genozid-ist-was-ist-es-dann/
Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.ch
Bild Gideon Levy und Bildunterschrift eingefügt von seniora.org

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Autor: Hartmut Barth-Engelbart

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2 Gedanken zu „Gideon Levy: Wenn es in Gaza kein Genozid ist, was ist es dann?“

  1. Als die Beraubten sich gegen die Räuber zur Wehr setzten, schlugen die Räuber wieder zu, nachdem sie die Beraubten schon vorher in Notunterkünfte getrieben hatten. Doch auch diese zweite Heimat der Beraubten stand dem Zugang der Räuber zum Öl und Erdgas im Weg, Da sollen sie dann auch weg. Und die Nachbarn sollen die Beraubten aufnehmen, damit sich die Räuber ungestört bedienen können. Ist das der Vorschlag des frommen AfD-Mannes? Nun hat ja Israel keine endgültig definierten Grenzen: die besetzten Golan-Höhen, das West-Jordanland, und die Expanzionisten in der Regierung propagieren eifrig das „Greater Israel“.

  2. Gemäß des Artikeltitels nennt man es Vertreibung. Das die Hamas die Menschen als lebende Schutzschilde und deren Tötung billigend in Kauf nimmt ist nicht Sache der Isralis. Eine weitere Frage ist das Verhalten der Anrainerstaaten, warum öffnen sie die Grenzen nicht großzügig und helfen den Menschen in Gaza nicht dabei vor den Kämpfen der Hamas mit Israel zu fliehen? Vertreibungen akzeptiert die Weltgemeinschaft, siehe Zypern, siehe Armenien, siehe, siehe…

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