Der Sozialdemokratie zur Erinnerung

Mitte März 2024 stellte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich im Bundestag die Frage: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“

Dieses mutige Statement forderte natürlich inner- und außerhalb der Partei heftige Kritik von den Freunden der Aufrüstung, Waffenlieferungen, Zeitenwende und Kriegstüchtigkeit heraus. Im Gegensatz zu ihnen, weiß Rolf Mützenich wovon er spricht, schließlich hat er Friedenpolitik zu einem Schwerpunkt in seinem Studium gewählt, war von 2004 bis 2009 abrüstungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und hat sich in seinem Parteileben ganz klar zu der Friedenspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr bekannt.

In einem „Brandbrief“ haben nun fünf Historiker um Heinrich August Winkler der SPD „Realitätsverweigerung” bezüglich Russland und der  Ukraine vorgeworfen. Die Autoren sind SPD-Mitglieder, was allerdings nicht bedeuten muss, dass sie sich auch für die Ideale der Partei einsetzen. In ihrem Schreiben wird „die Kommunikation des Kanzlers, der Partei und der Fraktionsspitzen in Fragen von Waffenlieferungen in der Öffentlichkeit zu Recht scharf kritisiert.“

Direkt an Rolf Mützenich gerichtet, sprechen die Historiker von einer „fatalen Äußerung“ und einem „kurzsichtigen Friedensbegriff einiger Genossen“. Auch fehle in der SPD eine ehrliche Aufarbeitung der Fehler ihrer Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte. „Vielmehr wird die Tradition der Außenpolitik Egon Bahrs nach wie vor unkritisch und romantisierend als Markenzeichen der SPD hochgehalten.“ Auf diese Weise mache sich die SPD unglaubwürdig und angreifbar. Weiter sorgen sie sich in ihrem Brief darum, „wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände.“

Der „Brandbrief“ der Historiker mit SPD-Parteibuch ist ein einziges Armutszeugnis, das allerdings zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt wurde. Ein Zeitpunkt zu dem das Murren vieler SPD-Mitglieder und Mandatsträger über die Aufrüstung, Waffenlieferungen, Kriegstüchtigkeit und Zeitenwende hörbar lauter wird.

Den Verfassern des Brandbriefes sei, wie den vielen SPD-Mitgliedern, der folgende Lesestoff empfohlen.

„Dem Karl Liebknecht haben wir’s geschworen…“

Bei vielen SPD-Mitgliedern schlug das wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein, als Bundeskanzler Scholz am Sonntag, dem 27.02.2022 im Bundestag eine Zeitenwende verkündete. Damit meinte er eher eine politische 180-Grad-Wende: Deutschland will Waffen an die Ukraine liefern und unterstützt weiterhin harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Vor allem aber kündigte Olaf Scholz an, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung zu bilden, das im Grundgesetz verankert werden soll und wie schon lange von den USA gefordert, dauerhafte Rüstungsausgaben von über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr bereitzustellen.

Besonders die älteren SPD-Mitglieder, das sind vielfach Menschen, die noch die Parteischulungen engagiert mitgemacht haben und die Parteigeschichte aus dem Effeff aufsagen können, wollten es nicht wahrhaben, was sie da hörten. Hatten sie doch sofort Kaiser Wilhelm vor Augen, der bei Kriegsbeginn 1914 keine Parteien mehr kannte, sondern nur noch Deutsche und erinnerten sich an den mutigen Karl Liebknecht, der als SPD-Reichstagsabgeordneter gegen die Kriegskredite stimmte und dafür in seinem weiteren kurzen Leben schlimm büßen musste.

Zeitenwende wird verkündet

Als russische Truppen am 24. Februar 2022 die Ukraine angriffen, warfen führende deutsche Sozialdemokraten praktisch über Nacht jahrzehntelang bewährte Grundsätze der Friedenssicherung über Bord. Bundeskanzler Scholz hatte am 27.02 2022 im Bundestag eine Zeitenwende verkündet und erklärt, dass die Welt danach nicht mehr dieselbe wie die Welt davor sei.

Der Zuschauer konnte die Ergriffenheit der meisten Fraktionsmitglieder der SPD, an einem so historisch einzigartigen Moment teilzuhaben, förmlich spüren. Dabei wurde die Fraktion von Scholz, wie so oft, völlig überrumpelt. Bevor der Kanzler seine Regierungserklärung im Bundestag abgab, tagte die SPD-Fraktion. Dort verlor er kein Wort über den Plan und nicht einmal die Spitze seiner eigenen Fraktion war, im Gegensatz zu Finanzminister Lindner von der FDP, eingeweiht und das bei einem solchen Hammerprojekt:

  1. Es sollen 100 Milliarden Euro als Sonderzahlung zusätzlich zu den ohnehin schon vom Verteidigungshaushalt veranschlagten 50,3 Milliarden in die Aufrüstung gesteckt werden. Dieses Geld ist das Vierfache des Gesundheitsetats und das Zwölffache des Etats für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die 100 Milliarden Euro sind auch das 100-Fache dessen, was die Ampelkoalition nach zwei Jahren Pandemie als Pflegebonus auszugeben bereit ist und knapp das Doppelte, was für Kredite für „Klimaschutz und Digitalisierung“ veranschlagt wurde.
  2. Bisher gehörte es für die SPD vorgeblich zur Staatsräson, Waffen nicht in Krisen- und schon gar nicht in Kriegsgebiete zu liefern. Auch dieses Tabu wurde mit der Lieferung von 500 „Stinger“-Raketen, 1.000 Panzerfäusten und 2.700 Luftabwehrraketen aus NVA-Beständen in das Kriegsgebiet Ukraine gebrochen.
  3. Der Verteidigungsetat wird künftig das Zwei-Prozent-Ziel der Nato übererfüllen und es sollen sogar „mehr als zwei Prozent“ des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Verteidigung investiert werden. Bislang galten schon 1,5 Prozent als ambitioniert. Bei einer Wirtschaftsleistung von 3,57 Billionen Euro sind das über 71,4 Milliarden Euro, knapp 25 Milliarden mehr, als im vergangenen Jahr verausgabt wurden.

In der sonntäglichen Sondersitzung des Bundestags erinnerte Bundeskanzler Olaf Scholz an sein auf der einige Tage vorher stattgefundenen Münchner Sicherheitskonferenz abgegebenes Versprechen zur militärischen „Ertüchtigung“ und Aufrüstung der Bundeswehr. Seine Ausführungen wirkten wie eine Aufführung, einstudiert und effekthaschend, mit Pausen und vorgeblichen Emotionen. Dabei bekam er viel Beifall und sogar manche stehende Ovation, besonders von den Abgeordneten der Regierungsparteien.

Dann ging Olaf Scholz auf die fünf Handlungsaufträge ein, die seiner Meinung nach von der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Regierung gemeistert werden müssen:

Deutschland

  • müsse der Ukraine Waffen zur Verteidigung liefern,
  • müsse und werde das Sanktionspaket der EU und anderer Verbündeter gegen Russland aktiv mittragen,
  • werde seine Verteidigungsverpflichtungen gegenüber anderen NATO-Mitgliedsstaaten, insbesondere durch Stützpunkte in Litauen, Rumänien, der Slowakei sowie durch Aktivitäten in der Nord- und Ostsee, dem Mittelmeerraum und im Luftraum speziell in Osteuropa erfüllen,
  • werde zur Ertüchtigung der Bundeswehr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auflegen und mehr als 2 Prozent seines BIP für Verteidigung festschreiben sowie seine Energieversorgung durch den Ausbau erneuerbarer Energieerzeugung im Hinblick auf C0-2-Neutralität bis 2045 und den Aufbau von Kohle- und Gasreserven sichern und auch seine Importabhängigkeit abbauen

und Deutschland werde sich für die weitere Stärkung von EU, NATO und weltweiter Demokratie einsetzen.

Nach diesem „Februarerlebnis“ im Bundestag reden nun fast alle Sozialdemokraten so, als sei ihnen die riesige Aufrüstung der Bundeswehr mit modernsten Kampfpanzern, Kampfflugzeugen, Kampfschiffen und Kampfdrohnen schon immer eine Herzensangelegenheit gewesen und niemand in der SPD hätte jemals die von der Nato verlangte Steigerung der Verteidigungsausgaben angezweifelt.

So konnte der Bundeskanzler auch der Grundgesetzänderung in Verbindung mit dem geplanten Bundeswehr-Sondervermögen, für die eine Mehrheit von zwei Drittel der Mitglieder des Bundestags erforderlich ist, Anfang Juni 2022 gelassen entgegensehen.

Grundgesetzänderung (Artikel 87a) am 3. Juni 2022

Die Grundgesetzänderung, die die wesentlichen Bestimmungen des Sondervermögens zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit in der Verfassung verankern soll, fand am Freitag, dem 3. Juni 2022 im Deutschen Bundestag statt. Konkret sollte dadurch festgelegt werden, dass die Kreditaufnahme des Sondervermögens mit einem Volumen von 100 Milliarden Euro nicht auf die Schuldenregel des Artikels 115 des Grundgesetzes angerechnet wird. Dafür wurde im Grundgesetz ein neuer Absatz 87a eingefügt.

Das Gesetz wurde mit 568 Stimmen der SPD, der CDU/CSU, der Grünen, der FDP und Teilen der AfD angenommen. 96 Abgeordnete darunter von den Linken und der AfD und 8 von der SPD stimmten gegen die Grundgesetzänderung.

Von den 205 SPD-Abgeordneten haben 191 dafür, 8 dagegen gestimmt, 0 sich enthalten und 6 waren nicht beteiligt.

Die 8 Nein-Stimmen der SPD kamen von

Jan Dieren / Krefeld II – Wesel II

Axel Echeverria / Ennepe-Ruhr-Kreis II

Jessica Rosenthal / Bonn

Tina Rudolph / Eisenach – Wartburgkreis – Unstrut-Hainich-Kreis

Nadja Sthamer / Leipzig II

Ruppert Stüwe / Berlin-Steglitz-Zehlendorf

Erik von Malottki / Mecklenburgische Seenplatte I – Vorpommern-Greifswald II

Carolin Wagner / Regensburg

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Art 87a – lautet nun:

„(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.

(1a) Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten. Auf die Kreditermächtigung sind Artikel 109 Absatz 3 und Artikel 115 Absatz 2 nicht anzuwenden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

(2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.

(3) Die Streitkräfte haben im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle die Befugnis, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist. Außerdem kann den Streitkräften im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle der Schutz ziviler Objekte auch zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen übertragen werden; die Streitkräfte wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen.

(4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen“.

Seit Jahren steigen die Verteidigungsausgaben schon

In der SPD verliert niemand mehr ein Wort darüber, dass der Verteidigungshaushaltsposten schon seit 7 Jahren überproportional kontinuierlich steigt, von 33 Milliarden Euro 2015 auf 50,3 Milliarden im Jahr 2022 und dass Deutschland fast so viel Geld ins Militär pumpt, wie Russland. Kaum jemand in der SPD stellt derzeit die Frage, warum ein 100 Milliarden Sondervermögen benötigt wird, wenn doch nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI, die USA 39 Prozent der weltweiten Militärausgaben bestreiten, Russland nur 3,1 Prozent und die Ausgaben der europäischen Nato-Mitglieder die Ausgaben Russlands um das Sechsfache übersteigen. Weil keiner in der Partei die Antwort hören möchte, die da lauten könnte, dass die 100 Milliarden Euro für eine Änderung der weltpolitischen Strategie Deutschlands benötigt werden.

Hier wäre ein Blick in die Parteigeschichte angebracht.

Wilhelm II., Karl Liebknecht, Hugo Haase und der Burgfrieden

Die im Bundestag herrschende Stimmung am 27.02.2022 erinnerte den patriotischen Taumel, der Wilhelm II. in seiner ersten Kriegsrede im Ersten Weltkrieg am 4. August 1914 zu dem berühmten Ausspruch veranlasste, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.

Grund der Rede war die deutsche Kriegserklärung an Russland, weil das Land der ultimativ gestellten deutschen Aufforderung zur Rücknahme seiner Generalmobilmachung nicht nachgekommen war. In seiner Rede dankte der Kaiser den Versammelten für ihre „Liebe und Treue“ in den Tagen der diplomatischen Krise und beschwor die nationale Einheit. Dann gewährte er seinen innenpolitischen Gegnern, namentlich der Sozialdemokratie, mit einer pathetisch rhetorischen Geste „Vergebung für ihre Angriffe in der Vergangenheit“. Er gelobte feierlich, er kenne „keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr“, stattdessen seien „wir […] heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder“.

In seiner folgenden Reichstagsansprache griff er diese Wortwahl auf, als er verkündete: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Dann folgten laut amtlichem Protokoll der Reichstagssitzung die Worte des Reichstagspräsidenten Dr. Kaempf: „Wir kommen nunmehr zur Gesamtabstimmung. Ich bitte die Herren, die in der Gesamtabstimmung in dritter Lesung den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Feststellung eines zweiten Nachtrags zum Reichshaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1914 annehmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. (Geschieht. Rufe: ‚Einstimmig!‘ – Zuruf: ‚Gegen eine Stimme!‘) Es ist, soweit ich sehen kann, einstimmig – mit Ausnahme eines einzigen Abgeordneten. (Stürmische Bravorufe und Händeklatschen.)“

Die einsame Gegenstimme kam von Karl Liebknecht.

In seiner Erklärung, die in handschriftlichen Kopien in der Parteibasis kursierte, schrieb er. „Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg“ und entlarvte die von der SPD-Mehrheit mitgetragene Rechtfertigungslüge der kaiserlichen Regierung. Es handele sich vielmehr um einen „von der deutschen und österreichischen Kriegspartei (…) hervorgerufenen Präventivkrieg“, „einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes“.

Das Pressebüro der SPD warnte die sozialdemokratischen Zeitungen vor strafrechtlichen Folgen bei Abdruck der Erklärung von Karl Liebknecht. Auch der SPD-Fraktionsvorstand reagierte umgehend und drückte im Parteiorgan Vorwärts in einer Erklärung sein tiefes Bedauern über Liebknechts „entgegen dem alten Brauch der Fraktion“ erfolgten Disziplinbruch aus.

Für Karl Liebknecht war es klar, dass sein Abstimmungsverhalten den völligen Bruch mit der Führung der SPD bedeutete, entstammte er doch einer Familie, in der die Gegnerschaft zu Militarismus und imperialen Kriegen zur Tradition gehörte. Sein Vater, Wilhelm Liebknecht, ein Mitbegründer der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, hatte 44 Jahre zuvor während des Deutsch-Französischen Krieges im Reichstag des Norddeutschen Bundes gegen die Kriegskredite gestimmt und wurde für diese internationalistische Haltung inhaftiert.

Nicht nur der Druck der Partei nahm für Karl Liebknecht zu, auch die staatlichen und polizeilichen Mühlen begannen zu mahlen. Neben den Bedrohungen seines Lebens wurde er aufgrund einer allerhöchsten Entscheidung als Bausoldat in ein Arbeiterbataillon „an der Grenze der Monarchie, aber nicht in eine größere Stadt“ per Gestellungsbefehl eingezogen. Damit unterlag er ab dem 7. Februar 1915 der Militärgesetzgebung und gleichzeitig war ihm jegliche politische Betätigung außerhalb des Parlaments verboten.

Aber noch einmal zurück zur Abstimmung über die Bewilligung der Kriegskredite.

Um bei der Abstimmung keine Überraschung zu erleben, führte die SPD-Fraktion am Vorabend der Sondersitzung des Reichstags zur Bewilligung der Kriegskredite eine Probeabstimmung durch. Dabei stimmten 78 Abgeordnete für die Kriegskredite und 14 dagegen. Zur überstimmten Minderheit zählte der Fraktionsvorsitzende Hugo Haase, der dem linken Flügel der Partei angehörte und ein überzeugter Pazifist war. Schon als junger Anwalt hatte er viele im Kaiserreich verfolgte Sozialdemokraten verteidigt, war gegen das Wettrüsten aufgetreten und sah sich deshalb außerstande, fünf Milliarden Reichsmark für den angeblichen „Verteidigungskrieg“ gegen Russland zu genehmigen.

Weil die Mehrheit der SPD-Abgeordneten für die Abstimmung am nächsten Tag aber Fraktionszwang beschlossen hatte, musste der Pazifist Hugo Haase im Reichstag nun als SPD-Fraktionsvorsitzender das Ja der SPD gegen seine innere Überzeugung verkünden. Er wusste noch nicht, dass der Fortgang des Krieges seine Partei, die SPD, bald zerreißen würde. Schon nach einigen Kriegsmonaten beschimpften ihn eigene Genossen im Parlament als „Drecksseele“, „Halunken“ und „Verräter“, weil er immer noch den Kriegskurs der Regierung kritisierte. Schließlich wurde er wegen seiner pazifistischen Haltung aus Fraktion und Partei ausgeschlossen und gründete 1917, mit anderen Kriegsgegnern, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD).

All diese Strafmaßnahmen konnten jedoch nicht verhindern, dass die Burgfriedenspolitik, mit der innenpolitische Konflikte und wirtschaftliche Auseinandersetzungen zurückgestellt werden sollten, zerbrach. Als der Krieg keine schnellen Erfolge hervorbrachte und die Bevölkerung unter der hohen Opferzahl und den Wirtschafts- und Versorgungsproblemen litt, kam es wieder zu Streiks und Protesten und schon 1916 war der Burgfrieden dann endgültig beendet.

Bis zum Ende des 1. Weltkrieges fanden neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten den Tod.

Hugo Haase wurde am 8. Oktober 1919 von Johann Voß, einem angeblich psychisch erkrankten Lederarbeiter durch Revolverschüsse verletzt. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert und war auf dem Weg der Besserung, als er am 7. November 1919 überraschend im Alter von 56 Jahren an einer Sepsis verstarb.

Karl Liebknecht wurde am 15. Januar 1919 zusammen mit Rosa Luxemburg von deutschen Militärs ermordet.

Letztlich führte die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten und somit zum ersten Weltkrieg zur Spaltung der SPD und der Arbeiterbewegung, die bis heute anhält.

Der neue Burgfrieden

Das aktuell geplante Rüstungspaket 2022 hat ohne Probleme den Bundestag passiert. Auch im Bundesrat war die Zwei-Drittel-Mehrheit sicher, da die vier Regierungsbeteiligungen der Linken für eine Sperrminorität nicht gereicht hätten.

Das Vorhaben der Ampelkoalition, die gigantische Aufrüstung sogar im Grundgesetz zu verankern, ist mit dem neuen Burgfrieden ohne Probleme möglich geworden, eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat für eine Änderung des Grundgesetzes galt schon in der Sondersitzung des Bundestages im Februar als sicher.

Der neue Burgfrieden sieht so aus, dass

  • eine riesige Koalition aus CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP entstanden ist, die meint, länger als eine Legislaturperiode zusammenarbeiten zu können und eine kontinuierliche Aufrüstung in den Verfassungsrang gehoben hat. Dadurch möchte sie gewährleisten, dass zukünftige, anders zusammengesetzte Koalitionen das Megarüstungsprogramm weder stoppen, kürzen oder verändern können, weil es in Verfassungsstein gemeißelt ist.
  • alle Beteiligten den Trick der Regierung, die angekündigte Aufrüstung ausschließlich über neue Schulden zu finanzieren und das Ganze „Sondervermögen“ zu nennen, als besonders clever und als tollen Coup loben. Wenn nämlich das 100-Milliarden-Programm zur Förderung der Rüstungsindustrie durch Steuererhöhungen finanziert werden müsste, käme es voraussichtlich zu größeren Widerständen. Als „Paket Sondervermögen“ geschnürt, werden die Vermögen der Reichen und Superreichen verschont und die Kosten bei den Beschäftigten und Sozialleistungsbeziehern eingespart.
  • bei einer offiziellen Inflationsrate von über 10 Prozent im Sommer 2022 Bundeskanzler Scholz die „Sozialpartner“ zu einer „konzertierten Aktion“ eingeladen hatte, bei der man die Gewerkschaften eingehegt hat und davon abhielt, ihre zukünftigen Lohnforderungen in Höhe der Inflationsrate zu stellten

und

es in Wahrheit um autoritäres Durchregieren geht und die Bevölkerung, coronagestählt, möglichst kritiklos „unpopuläre“ Maßnahmen mitmacht und immer mehr bereit ist „neue Realitäten und radikale Kurswechsel“ hinzunehmen.

„Es geht auch nicht darum, die deutschen Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf die neuen Aufgaben vorzubereiten“

Um die Bevölkerung auf die „neue Politik“ einzuschwören und auf „die neuen Aufgaben“ vorzubereiten, brauchte es einige Anstrengungen und einen langen Zeitraum von 30 Jahren.

In diesem Zusammenhang sei noch einmal an das Interview mit den „Blätter“ im Jahr 1992 erinnert, in dem der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe, gelernter Lehrer mit CDU-Parteibuch, sagte: „Niemand sollte erwarten, dass die Übernahme neuer Aufgaben in der Außenpolitik über Nacht geschieht. Die in vierzig Jahren gewachsenen Instinkte der Menschen lassen sich nicht einfach wegkommandieren. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht darum, die deutschen Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf die neuen Aufgaben vorzubereiten“.

Vielleicht sollten sich die SPD-Mitglieder die Sätze von SPD-Mitglied Egon Bahr in Erinnerung rufen, die er am 3. Dezember 2013 im Gespräch mit Schülern im Rahmen der „Willy-Brandt-Lesewoche“ im Friedrich-Ebert-Haus Heidelberg sagte: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte, es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Vor allem aber sollten sich die Mitglieder der Sozialdemokratie an den mutigen und aufrichtigen Karl Liebknecht erinnern!

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Der Beitrag erschien bereits am 12.05.2022 auf https://gewerkschaftsforum.de/ und wurde aktualisiert.

Quellen: VVN-BdA, taz-berlin, Süddeutsche Zeitung, der Freitag, Sebastian Haffner-Geschichte der SPD, Wilma Ruth Albrecht, Junge Welt  
Bild: SPD-Tobias Schwarz/AFP 

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Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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