Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó hat am Mittwoch Roger Köppel, Chefredakteur der Weltwoche, ein Interview gegeben, das aufhorchen lässt. Unter dem Titel „EU wie im Kindergarten“ berichtet er vom jüngsten Treffen der EU-Außenminister. Der Titel verharmlost einen Aspekt, den Szijjártó als Grundproblem der EU schildert und der die Grundlagen der Politik insgesamt berührt. Von Christian Deppe.
Es gebe, so Szijjártó, infolge der Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten in ganz Europa eine große Frustration. Grund sei der Neid auf Orbán, weil er der letzte und einzige europäische Politiker von Rang sei, der auf die Mächtigen der Welt zugehen kann. Die europäischen Politiker seien frustriert, weil sie Angst haben, dass immer deutlicher werde, welchen Schaden ihre Politik Europa und den europäischen Völkern zugefügt hat. Sie versuchten, so Szijjártó, diese Situation zu verbergen, was immer komplizierter werde. Die Politiker seien unempfänglich („taub“) für die Idee, die EU wieder als eigenen, souveränen Akteur auf die internationale Bühne zu bringen.
Es gebe in Europa und im transatlantischen Raum eine große Blase, die „von der großen Mehrheit der liberalen Mainstream-Medien“ geschaffen worden sei. Die Medien suggerieren, dass die euro-atlantische Position die weltweit führende sei. Das aber treffe nicht zu. Verlasse man die Blase, merke man, dass es weltweit Sympathien für die ungarische Position gebe, man respektiere sie und stimme ihr zu.
Freimütig erzählt Szijjártó von seinen Erfahrungen im Kreis der EU-Außenminister: Bei schwierigen Themen kommen seine Kollegen vor oder nach einer Sitzung auf ihn zu und bitten ihn, für die ungarische Position zu kämpfen. Seine Aufforderung, doch selbst diese Position einzunehmen, werde so beantwortet: „Ich kann das nicht offen sagen, wegen der Medien, wegen der NGOs, wegen der Koalitionspartner.“ Im privaten Gespräch oder per SMS sogar während einer Sitzung werde er von seinen Kollegen gelobt, in der Sitzung hingegen und öffentlich reden sie ganz anders. Vertreter gewählter Regierungen seien nicht mutig genug, zu sagen, was sie für gut halten. Das sei Folge des großen Drucks, der von den „liberalen Mainstream-Medien“, von NGOs und von Washington ausgehe. In der Ukraine-Frage, so Szijjártó, befürworten einige Außenminister die ungarische Initiative, weil sie in die richtige Richtung gehe. Öffentlich wird das nicht.
Eine erschreckende Vorstellung: Auch Politiker stehen unter der Kontrolle der öffentlichen Meinung, die sie zwingt, ihre Überzeugung zu verleugnen und mit dem Strom zu schwimmen. Sie bedeutet, dass Politiker am Gängelband demokratisch nicht legitimierter Agenturen, nicht öffentlicher Akteure, von Denkfabriken und NGOs hängen, die die öffentliche Meinung herstellen. Die Medien verpacken und verkaufen sie; ihre Dominanz auf dem Markt erzeugt die Blase, aus der sich Politiker nur insgeheim, privat lösen können.
Szijjártó bekleidet das Amt des ungarischen Außenministers seit zehn Jahren. Offenbar erlebt er seine Kollegen aktuell nicht das erste Mal als Unfreie, die nicht sagen können, was sie denken. Bei Abstimmungen verhalten sie sich konform mit der vorgegebenen EU-Linie – hinter vorgehaltener Hand geben sie ihrem ungarischen Kollegen recht, entschuldigen sich und fordern ihn auf, die ungarische Position nur ja nicht aufzugeben. Wenn diese Erzählung zutrifft, dann steht es schlecht um Europa.
Dass hochrangige Politiker nicht ihren Einsichten und Überzeugungen folgen, erinnert daran, dass laut jüngeren Umfragen von Allensbach auch immer mehr Bürger hierzulande sich nicht mehr trauen, öffentlich wie im privaten Rahmen ihre Meinung zu bekunden. Das wird dann im Schutz der Wahlkabine getan, in der man der Frustration freien Lauf lassen kann. Die Grundfesten einer demokratischen Gesellschaft sind erschüttert, wenn „oben“ wie „unten“, wenn die Bürger eines Landes und ihre Politiker Angst haben, weil unabhängige, abweichende Einschätzungen und Vorschläge sanktioniert werden. Eine Demokratie hinter vorgehaltener Hand ist keine. Es braucht eine Medienrevolution, wenn Demokratie endlich eine Chance haben soll.