Nie wieder Krieg! –
Zur Verleihung des Friedenspreises an Anna Applebaum
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
in Kriegszeiten ist es gang und gäbe, die Gegner des Krieges und
Vertreter eines raschen Verständigungsfriedens zu ächten oder zu
Traumtänzern zu erklären. Andererseits schreckt man nicht einmal davor
zurück, den Bock zum Gärtner zu machen. So gerade geschehen mit der
Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2024 an Anne
Applebaum. Damit knüpft die Vertreterorganisation der Buchhändler an
ihre Haltung im Ersten Weltkrieg und danach an, als sie auf
militaristisch-nationalistische Titel wie „Im Felde unbesiegt“ gerne
aufmerksam machte und unters Volk brachte, die pazifistischen,
antimilitaristischen und freigeistigen Bücher und Schriften hingegen
boykottierte und es ablehnte, für sie Werbeanzeigen zu schalten.
Im Anhang finden Sie einen Beitrag von Wolfram Wette zum Thema „Nie
wieder Krieg!“ – lange vor der Rede Applebaums verfasst, gegen deren
Inhalt sie sich aber vehement ausspricht. Und man hat das Gefühl, sie
wollte damit vor allem der von Wette vertretenen Auffassung zu Leibe
rücken. Die „junge Welt“ hat daher Wettes Darlegungen veröffentlicht
und dieser seine Einschätzung von Applebaum vorangestellt.
Applebaum hat – und man fühlt sich erneut daran erinnert, als lebten wir
wie unsere Vorfahren im Ersten Weltkrieg in einer „Großen Zeit der Lüge“
– im Juni 2024 auch den Carl von Ossietzky-Preis verliehen bekommen.
Hierzu habe ich mich, selbst Ossietzky-Preisträger, gewandt. Betrachten
Sie bitte meine Ausführungen dazu gleichermaßen als Kritik an der
Verleihung des sogenannten „Friedenspreises“.
Mit besten Grüßen,
Helmut Donat
—
Donat Verlag & Antiquariat
Borgfelder Heerstraße 29
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Aus: junge Welt, 77. Jg., Nr. 129, 6. Juni 2024, Seite 10 / Feuilleton
PREISPOLITIK
https://www.jungewelt.de/artikel/476782.preispolitik-der-frieden-der-stahlhelme.html
Der Frieden der Stahlhelme
Anne Applebaum erhält den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg
Von Helmut Donat
IMAGO/El Mundo One size fits all: Anne Applebaum
und die Weltordnungsfragen
Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich für das Erbe Carl von Ossietzkys einsetzen: Der nach ihm benannte Preis »für Zeitgeschichte und Politik« der Stadt Oldenburg schmückt in diesem Jahr Anne Applebaum, am 6. Juni 2024 wird er verliehen. Die Jury begründete ihre Wahl nicht nur mit Applebaums zeitgeschichtlichen Forschungen, in denen sie etwa die These eines geplanten »Holodomors« an den Ukrainern vertritt, sondern auch damit, dass die US-Historikerin und Journalistin die Ukraine »von Anfang an unzweideutig« gegen Russland unterstützt habe. Sie setze sich für eine »regelbasierte Weltordnung« ein und mahne für Europa eine »friedenssichernde Sicherheitspolitik« an – Si vis pacem para bellum.
Applebaum liegt in der Tat weitgehend auf der Linie der US-Regierungspolitik. Sie teilt die Welt in Gute (die NATO und den Westen) und Böse (Russland) ein, ordnet sie nach Freund und Feind. Ziel der russischen Politik sei es, den »Status eines Imperiums und die Vorherrschaft über die ehemaligen Staaten der Sowjetunion und sogar des Warschauer Paktes« zu erlangen, erklärte sie etwa in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 13. Februar 2023. Sie sieht nur eine Möglichkeit für Frieden: die Weiterführung des Krieges, bis Russland in die Knie gezwungen ist und seine Truppen zurückzieht.
Die Einseitigkeit und Undifferenziertheit ihrer Urteile würzt Applebaum mit passenden Halbwahrheiten. So behauptet sie etwa, »der Westen« hätte sich vor dem russischen Einmarsch geweigert, die Ukraine zu bewaffnen. Natürlich verliert sie kein Wort zu den Sicherheitsinteressen Russlands angesichts der NATO-Osterweiterung sowie zweier von deutschem Boden ausgegangenen Weltkriegen.
Indem die Jury Applebaums »fachliche Perspektive« und »journalistische Kompetenz« als »maßgeblich« für »die öffentliche Auseinandersetzung mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine« rühmt, macht sie sich die Haltung einer Kriegstreiberin zu eigen und erweist sich als unfähig, dem pazifistischen Erbe und Geist Carl von Ossietzkys gerecht zu werden. Statt sich wie der Friedensnobelpreisträger und Herausgeber der Weltbühne mit den tieferen Ursachen des Krieges zu befassen, sowie jedwede Schwarzmalerei und Legendenbildung zurückzuweisen, würdigt die Jury Kriegspropaganda. Sie merkt offenbar nicht einmal, dass sie Ossietzky einen Stahlhelm überstülpt. Sie sieht nicht, wie sehr sie damit einen bedeutenden Friedensstreiter in den Dreck zieht. Es wäre nur konsequent, den Preis künftig Kriegsenthusiasten wie dem »Panzer-Toni« oder der Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann zu verleihen.
Applebaum meint, die Welt müsse nach dem Vorbild der USA und des »Westens« gestaltet werden. Ossietzkys aufklärerisches Bemühen ging in eine andere Richtung. Deutlich sah er voraus, dass Staaten, die diesem Beispiel folgen, auf Abwege geraten. Es handelt sich um eine Chimäre, die allen Glück und Frieden verheißt, aber das genaue Gegenteil nach sich zieht. Afghanistan lässt grüßen.
Für Ossietzky war die Welt vielfältig, ihre Völker haben eine unterschiedliche Geschichte. Sie befinden sich auf verschiedenen Stufen der zivilisatorischen Entwicklung und folgen mannigfachen Religionen, Bräuchen, Ideologien oder Weltanschauungen. Die Vorstellung, dass für alle diese Völker ein einziges politisches System, ein einziges Wirtschaftssystem oder schließlich ein einziges Wertesystem denkbar wäre, führt in die Irre. Die sogenannte regelbasierte Weltordnung ist eine Chiffre für das Streben, sich alles, was nicht in sie hineinpasst, gefügig zu machen.
Ossietzky stand vor Augen: Je früher sich die weltweit politisch Verantwortlichen von solchem Überlegenheitsdünkel verabschieden, desto sicherer wird unsere Zukunft sein. Davon ist das US-zentrierte Weltbild, das Anne Applebaums uns predigt, meilenweit entfernt. Stattdessen sollten wir uns auch bezüglich der Beziehungen zu Russland und China stets bewusst sein, dass sie durch viele Missverständnisse getrübt sind. Wer wie Applebaum sein Feindbild pflegt – wie kann der noch in der Lage sein, für Frieden und Verständigung einzutreten?
Anne Applebaum ist keine »Friedensstifterin«. Sie erkennt nicht, wie viel mehr sich erreichen lässt, wenn man auch der Gegenseite gerecht wird und sich selbst begrenzt. Wer wie sie einen Krieg bis zum »Siegfrieden« führen will und darüber die Opfer und Zerstörungen vergisst, hat mit Carl von Ossietzkys Engagement für den Frieden und ein rasches Ende des Mordens nichts gemein.
https://www.jungewelt.de/artikel/486834.krieg-und-frieden-nie-wieder.html
Aus: Junge Welt – Ausgabe vom 30.10.2024, Seite 12 / Thema
Krieg und Frieden
Nie wieder!
Die Friedenspreisträgerin« Anne Applebaum erklärt den Pazifismus zum Ausdruck der Unmoral. Der Ruf nach Frieden aber bleibt aktuell.
Von Wolfram Wette
Andreas Arnold/dpa Pool/dpa
»Der Satz ›Nie wieder!‹ hat uns schon in der Vergangenheit blind gemacht für die Wirklichkeit.« Anne Applebaum in ihrer Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (Frankfurt am Main, 20.10.2024)
Wolfram Wette ist Historiker und Friedensforscher. Sein Aufsatz »›Nie wieder Krieg!‹ – Hat die alte Parole angesichts des Ukraine-Krieges noch eine Zukunft?« ist dem 2024 im Bremer Donat Verlag erschienenen Buch »Bedrohter Diskurs – Deutsche Stimmen zum Ukraine-Krieg« entnommen. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.
Nie wieder sollen sich die Deutschen an der Parole »Nie wieder Krieg!« orientieren, wenn es nach Anne Applebaum geht, die am 20. Oktober 2024 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Im Klartext: Sie sollen sich wieder daran gewöhnen, dass Kriege geführt werden müssen. Das sei die eigentliche Lehre aus der deutschen Geschichte. Was wir vor uns haben, ist der bewusste Missbrauch des Wortes Frieden zur Rechtfertigung des Bellizismus. Krieg gegen Russland, will die »Friedenspreisträgerin« ihrem deutschen Publikum weismachen, diene dem Frieden. Gleichzeitig setzt sich die Historikerin nach dem Freund-Feind-Schema für den Sieg der eigenen Seite ein, die natürlich die »gute« sein soll. So ist diese Preisträgerin eigentlich eine Kriegspropagandistin, die sich weder für Friedensbestrebungen in der Vergangenheit noch in der Gegenwart interessiert. In der Frankfurter Paulskirche wurde sie dafür auch noch beklatscht. Wolfram Wette, 23. Oktober 2024
Elementarer Schock
24. Februar 2022: Der Beginn des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine löste in Deutschland einen elementaren Schock aus. Nicht anders reagierten die Menschen in ganz Europa. Kaum jemand hatte die Fernsehbilder, die an der Grenze zur Ukraine zusammengezogene russische Truppen zeigten, als konkrete militärische Kriegsvorbereitung gedeutet. Die Vorhersage des US-Geheimdienstes, es sei mit einem Angriff Russlands auf die Ukraine zu rechnen, hielt man für eine wenig glaubhafte Meldung. Man beschwichtigte sich mit der Annahme, es handle sich um eine Drohkulisse zur Unterstützung weiterer diplomatischer Aktivitäten, die zur Reduzierung vorhandener Spannungen führen sollten. Mehr konnte und wollte man sich hierzulande nicht vorstellen. Der deutsche Auslandsgeheimdienst scheint auch nicht mehr gewusst zu haben. Es war ein amerikanischer Diplomat, der dem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck kurz vor dem Angriff in einem Briefumschlag die alarmierende Information zusteckte, dass ein Krieg gegen die Ukraine unmittelbar bevorstehe.
Wie massiv der Schock gerade in Deutschland war, wird erst greifbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Kriegsnachricht hier auf eine – in mentaler Hinsicht – weitgehend pazifizierte Gesellschaft traf. Die friedfertige Grundstimmung hatte sich nach 1945 schrittweise als eine Reaktion auf die beiden Weltkriege und den tradierten preußisch-deutschen Militarismus herausgebildet. Der gesellschaftliche Wandel erreichte zwar nicht alle Deutschen, aber doch eine Mehrheit. Als symptomatisch mag der Sachverhalt gelten, dass sich in den 1980er Jahren eher der wehrdienstleistende Soldat unter Begründungszwang fühlte als der Zivildienstleistende. Die meisten Menschen im Lande hielten es für ausgeschlossen, dass es in Europa noch einmal einen zwischenstaatlichen Krieg geben würde. Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schienen durch die Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre gewährleistet zu sein.
In der »Charta von Paris für ein neues Europa« von 1990 hatten sich sämtliche europäischen Staaten, dazu die USA und Kanada, feierlich verpflichtet, ein gemeinsames, friedliches Europa aufzubauen. Es sollte vom Atlantik bis zum Ural reichen, Russland einschließen und durch ein Miteinander, nicht durch ein Gegeneinander, dauerhaften Frieden schaffen. Endlich, so schien es, war die alte Friedensparole »Nie wieder Krieg!« in der Realität der europäischen Regierungspolitik angekommen.
Tatsächlich hat der Appell »Nie wieder Krieg!« die Deutschen schon immer eher polarisiert als geeint. Unter ihm sammelten sich nach 1918 diejenigen Deutschen, die aus dem Krieg als Pazifisten heimgekehrt waren. Sie forderten den Bruch mit dem Militarismus im eigenen Lande, den sie für die Ursache des Ersten Weltkrieges hielten. Damals fühlte sich die politische Rechte provoziert und in ihren tiefsten Überzeugungen angegriffen. Ein »Nie wieder!« versperrte aus ihrer Sicht den Weg in die Zukunft. Die deutschen Nationalisten pflegten eine heroische Erinnerung an die »große Zeit« von 1914 bis 1918, verdrängten die militärische Niederlage Deutschlands und bereiteten materiell wie mental die Wiederaufnahme einer kriegerischen Machtpolitik vor.
Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 erlebte die »Nie wieder Krieg!«-Bewegung eine Renaissance. Diesmal, so die weit verbreitete Auffassung, war die große Mehrheit der Deutschen zu einer grundlegenden Umkehr bereit. Der Anstoß kam von der neu entstehenden Friedensbewegung und von Gegnern des Faschismus. Im befreiten Konzentrationslager Buchenwald formulierten die politischen Häftlinge: »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«
In den zehn Jahren ohne Armee (1945–1955) rangen sich auch konservative Wortführer zur Distanzierung vom Militarismus durch. Nach Umfragen gab es in den ersten Nachkriegsjahren eine große Mehrheit der Deutschen, die bereit war, ihr Denken und Handeln an der Devise »Nie wieder Krieg!« auszurichten. Das Grundgesetz von 1949 gab mit seinem Friedensgebot in der Präambel und mehreren Artikeln eine neue Grundorientierung für alles staatliche und gesellschaftliche Handeln in unserem Land vor. Das Grundgesetz war das Antiprogramm zu dem extrem gewalttätigen Zeitalter der Weltkriege, für die Deutschland die wesentliche Verantwortung trug.
Aber schon in den frühen 1950er Jahren brachen die alten Konfliktlinien wieder auf. Die Konservativen folgten der von Bundeskanzler Konrad Adenauer vorgegebenen Linie der Wiederbewaffnung und Westintegration. Die Opposition stellte sich gegen die »Remilitarisierung« und fand damit großen Zuspruch in der Gesellschaft der westdeutschen Bundesrepublik. So musste die Regierung ihre Politik gegen den Willen dieser Mehrheit durchsetzen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich unter der stets präsenten Drohung eines möglichen Nuklearkrieges schrittweise eine Friedenskultur. Sie korrespondierte mit dem Regelsystem der Europäischen Union, das die Staaten auf gewaltfreien Konfliktaustrag im Innenverhältnis der EU verpflichtete. Mehrere Generationen von Europäern führten ein Leben ohne Krieg. Frieden auf dem Kontinent – verstanden als Abwesenheit von Krieg – galt als Selbstverständlichkeit.
»Verantwortung zeigen«
Veränderungen kündigten sich ausgerechnet nach dem Ende des Kalten Krieges und der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten an. Seit den frühen 1990er Jahren wurden die Deutschen von ihrer Regierung sowie von der militärischen Führung der Bundeswehr mit den camouflierenden Propagandaschlagworten »Neue Normalität« und »Verantwortung zeigen« überschwemmt. Gemeint waren der Abschied von einer Außenpolitik der Zurückhaltung und die Gewöhnung an weltweite Militäreinsätze der Bundeswehr. Man wollte »normal« agieren können wie die Sieger von 1945, nämlich als eine staatliche Macht, die sich souverän des kriegerischen Konfliktaustrags als Mittel der Politik bedient.
Ausgerechnet die »rot-grüne« Regierung unter Gerhard Schröder schickte im Jahre 1999 die Bundeswehr in den ersten Krieg seit ihrem Bestehen, in den sogenannten Kosovokrieg gegen Restjugoslawien. Bundesaußenminister Joseph Fischer sagte damals im Deutschen Bundestag, er habe nicht nur »Nie wieder Krieg!« gelernt, sondern auch »Nie wieder Auschwitz!« Die Luftwaffe trug mit ihren Waffensystemen und Kampfpiloten zu den Tausenden von Luftangriffen der NATO-Verbündeten auf die Bundesrepublik Jugoslawien bei, obwohl Deutschland dazu nicht durch ein Mandat der Vereinten Nationen legitimiert war. Es erklärte sich bereit, einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu unterstützen.
Für die prinzipiell kriegsgegnerisch eingestellten Bevölkerungsteile stellte die deutsche Beteiligung am sogenannten Kosovokrieg eine existenzielle Enttäuschung dar. Sie löste tiefe Depressionen und Orientierungslosigkeit aus, hatten doch die führenden sozialdemokratischen und Grünen-Politiker die grundlegende Orientierung »Nie wieder Krieg!« preisgegeben und sich nach Jahrzehnten der Zurückhaltung wieder in die kriegerische Weltordnung eingereiht. Die meisten Deutschen gaben auch jetzt ihre Friedensmentalität nicht preis und lehnten die Auslandseinsätze der Bundeswehr auch weiterhin mit großer Mehrheit ab.
Ruf nach Waffen
Das war die mentale Lage auch noch zur Zeit des Angriffs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Sie erklärt den Schock, der in Deutschland besonders ausgeprägt gewesen sein dürfte. Lange hatte man hierzulande verdrängt, dass es sich bei der Parole »Nie wieder Krieg!« vor allem um eine deutsche Maxime handelte, deren Reichweite insoweit begrenzt war, und dass die Siegermächte der beiden Weltkriege keinen vergleichbaren Schwur abgelegt hatten. Sie hielten den kriegerischen Konfliktaustrag weiterhin für einen normalen Bestandteil ihrer Machtpolitik. Putins Krieg brachte uns die ungebrochene Tradition der kriegerischen Politik nicht nur Russlands, sondern auch der anderen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges ins Bewusstsein zurück.
Der Schock über den verlorenen Frieden löste in unserem Land einen unbestimmten Bedrohungsreflex aus, der unmittelbar in den Ruf nach Waffen mündete. Der Bundeskanzler fing diese Stimmung mit seinem Begriff von der »Zeitenwende« ein, die von Anfang an militärisch akzentuiert war. Mit der Verkündung des 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramms schwenkten Politik und Gesellschaft auf einen Kurs ein, der nicht mehr von der Friedenslogik vergangener Jahrzehnte, sondern von der Kriegslogik geprägt war. Wer sich ihr nicht unterwarf, war nunmehr – ganz im Sinne deutschnationaler Vorurteile gegenüber Pazifisten – Anfeindungen und Schmähungen ausgesetzt.
Anna Joerke/jW Demonstration »Nie wieder Krieg!« (Berlin, 3.10.2024)
Viele Menschen in unserem Lande befinden sich seitdem in einem schmerzlichen Dilemma: Geprägt durch die lange Friedensära, verstehen sie sich im weitesten Sinne als Kriegsgegner. Gleichzeitig verurteilen sie Putins Angriffskrieg als Verbrechen und als einen schwerwiegenden Bruch des Völkerrechts und verweisen auf das in der UN-Satzung festgeschriebene Recht auf Selbstverteidigung. Die Unterstützung des überfallenen Landes durch zivile Leistungen aller Art betrachten sie als moralische Pflicht. Etwa die Hälfte der Bevölkerung befürwortet auch – teilweise schweren Herzens – eine Waffenhilfe zur Verteidigung der Ukraine. Innerhalb des bellizistischen Denkmusters gibt es wohl kein Entrinnen aus diesem Dilemma.
Die deutsche Bundesregierung ist bislang nicht mit eigenen Friedensplänen hervorgetreten, obwohl das Grundgesetz sie verpflichtet, »in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen« (Präambel). Daraus lässt sich mit gutem Recht der Auftrag ableiten, mit aller Kraft eigene diplomatische Friedensinitiativen zu ergreifen.
Aktuell – im Sommer 2023 – erleben wir, dass verschiedene Staaten und Staatengruppen nach Wegen aus dem Krieg suchen. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass die wichtigsten Kriegsparteien – also Russland, die Ukraine und die USA – maximale Kriegsziele verfolgen und damit unfähig bzw. nicht bereit zu Kompromissen sind. Die Aussichten für eine baldige Kriegsbeendigung sind also düster. Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass der Krieg noch lange dauern kann.
Aber eines Tages wird er beendet sein, und wir sind aufgefordert, uns mit der Frage zu beschäftigen, wie es danach weitergehen soll. Ich sehe folgende Alternativen:
Zunächst die negative Variante: Wir bekommen einen neuen Kalten Krieg. Die Feindkonstellation, die der Krieg geschaffen hat, wird zementiert durch einen neuen eisernen Vorhang, der Europa von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer teilt. Militär, Aufrüstung und Feinddenken beherrschen die Politik und die Volkswirtschaften. Sie produzieren eine stete Kriegsgefahr.
Die zweite Variante ist die positive: Sie muss nicht neu erfunden werden, sondern kann an ältere Erfahrungen anknüpfen, nämlich an die Friedens- und Entspannungspolitik seit den 1970er Jahren. Der Kern dieses Modells besteht in der Erkenntnis, dass Sicherheit nicht durch ein militärisches Gegeneinander zu erreichen ist, sondern nur in einem Miteinander. So schwer das heute auch vorstellbar ist: Das Miteinander muss Russland auch künftig einschließen. Aus der Einsicht in die absolute Priorität der Friedensgewinnung und -bewahrung wächst längerfristig neues Vertrauen. Das ist die grundlegende Voraussetzung für eine positive Entwicklung. Die Ideen der »Gemeinsamen Sicherheit« und des »Gemeinsamen Hauses Europa« geben die politische Orientierung vor. Die Charta von Paris von 1990 kann das völkerrechtliche Modell für künftige gesamteuropäische Vereinbarungen sein. Es bündelt die wohlverstandenen Interessen aller europäischen Länder.
Welche Macht ist geeignet und in der Lage, einen Weg zu diesem positiven Ziel zu bahnen? Nach meiner Überzeugung kann man diese Frage nur vor dem Hintergrund der Kriegsursachen angemessen beantworten. Anders ausgedrückt: Eine tiefschürfende Kriegsursachenanalyse birgt den Schlüssel für die Gestaltung der Nachkriegszeit. Das bedeutet: In erster Linie sind die wichtigsten Akteure der Vorkriegs- und Kriegsphase – also die USA und Russland – befähigt, den Krieg zu beenden und den Frieden wiederherzustellen. Sie tragen die größte Verantwortung – und nicht etwa die überfallene Ukraine. Ich teile die Auffassung des vormaligen EU-Erweiterungskommissars Günter Verheugen, der unmissverständlich sagte: »Ob es zu einem Waffenstillstand oder in seiner Folge zu einem Friedensschluss kommt, wird sich in Washington entscheiden und nirgends sonst.«¹
Die europäischen Länder haben ihre spezifischen politischen Interessen einzubringen, die keineswegs immer mit denen der USA identisch sein müssen. Vielleicht reift dann auch die im Rückblick gewonnene Erkenntnis, dass die Politik, die zum KSZE-Prozess geführt hat, also zu Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kein Fehler war, für den sich die deutsche Politik heute entschuldigen müsste. Vielmehr war sie im Kern richtig, wurde aber nicht konsequent genug betrieben. Konkret: In den 1990er Jahren und später ist die große Chance vertan worden, die Zuspitzung der Spannungen mit Russland zu vermeiden und einen europäischen Friedensraum zu schaffen und zu stabilisieren.
Wille zum Frieden
Damit sind wir noch einmal bei der Parole »Nie wieder Krieg!« angelangt, die in Deutschland nach dem Weltkrieg 1914–1918 Furore machte. Hat diese Orientierung angesichts des Ukraine-Krieges noch eine Zukunft? Oder ist sie überholt? Nach meiner Überzeugung ist sie weder falsch noch unzeitgemäß, wie es die Bellizisten glauben machen wollen. In ihr steckt nämlich die zentrale Erkenntnis, dass es in der Politik maßgeblich auf den Willen zur Friedensbewahrung ankommt. Nicht umsonst hat Willy Brandt im Jahre 1973, also in seiner Zeit als Bundeskanzler, ein Buch mit seinen Aufsätzen und Reden aus dreißig Jahren mit dem Titel versehen »Der Wille zum Frieden – Perspektiven der Politik«. Der Wille zum Frieden löst rationales Handeln aus, also die Aufbietung sämtlicher Strategien zur Kriegsverhütung und Deeskalation von Gewaltkonflikten.
An diesem unbedingten Willen zum Frieden hat es in der Vorgeschichte des Ukraine-Krieges sowohl im Westen als auch in Russland gefehlt. Stattdessen eskalierte der Konflikt bis hin zum Krieg. Das alles war vermeidbar. Immer mehr Menschen, die sich mit den Ursachen dieses Krieges auseinandersetzen, beginnen allmählich zu begreifen, was es heißt: Dieser Krieg konnte vermieden werden. Die Möglichkeit der Kriegsverhütung war gegeben. Was fehlte, war der Wille zum Frieden. Stattdessen dominierten Machtinteressen geopolitischer und geoökonomischer Natur.
Bleibt hinzuzufügen: Der Appell »Nie wieder Krieg!« sollte auch in anderen Teilen der Welt das politische Denken anleiten, etwa in Äthiopien und im Sudan, wo ebenfalls Krieg geführt wird, mit jeweils ungefähr ebenso vielen Toten wie in der Ukraine. Hier wie dort leiden die Zivilbevölkerungen, und hier wie dort wird die für das Überleben notwendige Infrastruktur zerstört. Täglich berichten uns die Medien in Echtzeit über die Werke der Zerstörung und Vernichtung. So ist der Ruf »Nie wieder Krieg!« leider auch heute hochaktuell. Uns gibt er die Richtung vor für die Zeit nach dem Ende des Ukraine-Krieges, für die Zeit, in der die Arbeit an der Vision einer lebenswerten europäischen Zukunft wieder aufgenommen wird.
Anmerkungen:
1 Günter Verheugen: Ab wann nahm das Verhängnis seinen Lauf? Zu den Beziehungen zwischen EU, Russland und Ukraine. In: Vorgänge (2023), Nr. 239/240, S. 16