Georg Büchners Mahnung „Denkt an das Blutbad von Södel“, bei dem im Jahr 1830 5000 nur mit umgeschmiedeten Sensen bewaffnete Bauern und Handwerker vom fürstlichen Jägerheer abgeschlachtet wurden, war der Einstieg in die Diskussion..denn der Oberhessische Bauernaufstand mit seinen frühdemokratischen und sozialen Forderungen gegen die Fürsten von Isenburg-Büdingen, von Goerts, die Barone von Riedesel, die Solmser Fürsten usw. ging von Mittel-Gründau aus. Einer seiner Anführer war der Mittel-Gründauer Bauer Tobias Meininger, der später im 1848er Demokratischen Verein auch eine führende Rolle spielte. Der Hessische Landbote wurde in einer Druckerei in Offenbach illegal gedruckt und bei Groß-Auheim über den Main ins Ausland gebracht. Auf Schmuggelwegen jetzt schon nicht mehr in Hessen-Darmstadt sondern im Ausland Hessen-Kassel am Kloster Wolfgang vorbei, den Höhenweg (Eselsweg) meidend immer fast durch die Kinzigsümpfe bis zur Hessen-Kassler Flaschenhals-Furt über die Kinzig nach Rothenbergen. Dieser reiche Weinort musste umgangen werden wie auch Niedergründau. Die Zeitungspakete wanderten über den Scheidweg an der Bergkirche und dem meist bewachten Küsterhaus sowie der Ziegelei vorbei zum Kolbenstein, jener Stelle, wo über einer gefassten Quelle noch ein Säulenstumpf stand, auf dem in grauer Vorzeit einmal ein MistrasKult-Bildstock stand. Der Kolbenstein. Von hieraus waren es nur noch ein paar Hundert Meter bis zu den rettenden Scheuern und Stallungen der Mittel-Gründauer bauern, die das Blutbad von Södel überlebt hatten. Gefahr drohte jetzt direkt an der Grenze zwischen Hessen-Kassel und Darmstadt-Oberhessen nur noch von den Zöllnern an der Hasselbachbrücke, dort wo sich heute der OrtseingangsKreisel befindet. Diese Brücke durfte man nicht nehmen, sondern durch die Gründau-Auen waten, bis man auf der Höhe des Ahl über die Kirchgasse den Hof des Tobias meiniger erreichen konnte und dort die Pakete den Wartenden Weiterschmugglern übergeben, die durch die Vonhäuser Hohl Richtung Nordwesten . Richtung Giessen verschwanden über Kalbach, Düdelsheim, Eckardroth … . Welche Route sie dann nahmen, wird im Roman „Die Buxweilers“ von Valentin Senger sehr gut beschrieben…
Beim 36. Erzählabend des
Historisch-Demokratischen Vereins Mittel-Gründau von 1848 , bei dem sich monatlich 15 bis 30 Mittel-Gründauer_innen zur Erforschung der Dorfgeschichte treffen (Eine Sammlung des bisher aufgeschriebenen Geschichte(n) kann man hier im Archiv unter der Katergorie „Gründauer Geschichte(n)“ finden),
kamen zum Jahrestag „80 Jahre Regierungsübergabe an die Faschisten“ unter Anderem die Instandsetzung des jüdischen Friedhofs in Haingründau zur Sprache. Dort liegen eine Reihe von Angehörigen der Familien Hecht begraben, sowohl des Land- und Viehhändlers Otto Hecht als auch des (Matze-) Bäckers Karl Hecht.
Einige Teilnehmerinnen der Runde meinten, es sei nicht richtig, dass nur weil diese Toten Juden waren die Gräber nicht gleich behandelt würden wie die katholischer, evangelischer oder konfessionsloser Toten. Diese Gräber würden nach 25 Jahren aufgegeben, die Steine entfernt, die Gräber neu „belegbar“.. Die Runde einigte sich darauf, dass man die Totenkulte der verschiedenen Religionen tolerieren und manche Gräber und Grabsteine – egal welcher Religion – als Denkmäler, Gedenksteine erhalten solle..
Die seien dann auch vor Verkäufen durch das Büdinger Fürstenhaus auf den Kunst- und Antikmarkt sicherer als die bis vor kurzem noch unzugänglichen und eventuek bereits verkauften Dokumente zur Mittel-Gründauer Geschichte aus dem fürstlichen Archiv in Büdingen. Gefordet wurde im Gespräch zumindest die Herausgabe von Kopien der ortsgeschchtlichen Dokumente, um sie in Mtel-Gründau öffentlich zugänglich zu machen.
Beim Thema Gedenken an Widerstand und Fluchthilfe wurden nach der Würdigung der drei Mittel-Gründauer Pioniere für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, dem Schriftführer des oberhessischen Bauernaufstandes von 1830, dem Mittel-Gründauer Lehrer Paul Nagel, dem Schriftführer des Demokratischen Vereins Mittel-Gründau von 1848, dem Lehrer Bernhard Kaffenberger und dem RotSportler, Bahngewerkschafter, kommunistischen Widerstandskämpfer gegen die Faschisten , SKG-Gründer und späteren Bürgermeister Wilhelm Pfannmüller, … Vorschläge für Straßennamen, die Mehrzweckhallen-Taufe, die Anbringung von Gedenktafeln vorgetragen.
Anschließend Gespräch über
die Spruchkammerarbeit zur Entnazifizierung, an der in Büdingen und Dar,mstadt Wilhelm Pafnnmüller hervorragend beteiligt war. Diese Arbeit wurde in der SPD nicht von allen begrüßt. Zumal auch Spitzenpolitiker wie Georg-August Zinn, Walter Kölbel (Bürgermeister von Rüsselheim und Zinn-Mitarbeiter)sich nicht klar zu ihrer NS-Vergangenheit bekennen wollten … Die neueste Untersuchung über die Nazi-Vergangenheit hessischer Landtagsabgeordneter der CDU, FDP, BHE, SPD und der GRÜNEN wurde in der Diskussion ebenfalls vorgestellt.
Der für mich spannendste Teil des Abends war die Diskussion, die Berichte über die Fluchthilfe für die beiden jüdischen Familien Hecht.
Es haben sich hier im Dorf wirklich herzzerreißende Szenen abgespielt:
Besonders bei der Fluchthilfe für die Familie des Land- und Viehhändlers Hecht:
man konnte als Mittel-Gründauer Kleinst-Mondschein-Bauer, als „NebenerwerbsKrauter“, als schon vor den Nazis zum „freiwilligen Arbeitsdienst“ gezwungener Familienvater beim Landhändler gegen Anschreiben Saatgut, Hühnerfutter usw erhalten, das Anschreiben war im ausgehenden 19.Jahrhundert bei den Hechts üblich. Auch nach der Hochwasserkatastrophe 1911, die die Kleinstbauern am schlimmsten traf, weil sie in den saueren Bachwiesen im Sumpf weit unten erst Land gewonnen hatten („Sieh zu dass du Land gewinnst!“, hieß es ja auch für die „vaterlandslosen Gesellen“, die bei der Erbteilung nur noch eine halbe Scholle oder gar nix mehr erbten. Oder für die Alleinerziehenden Mägde mit ihren Bangerten, diese „sittenlosen Weibsbilder“ (so die Empörten KirchenOberen über die unsittlichen Verhältnisse im Gründau-Tal), bei denen es hieß: Tuch! oder Buch! , wenn die fürstlichen Jäger sie beim Waldfrevel erwischten (Brennholz-Sammeln, Wilderei etc..) mit ihren gefüllten Tragetüchern. „Buch“ hieß Eintragung in das JägerBuch und anschließender Strafprozess oder „Tuch“, …
Waldfrevel in Wäldern, die ursprünglich den Dörfern gehörten als Almendewald wo sich die Dörfler das Brenn- und Bauholz holen durften….
Die so Verarmten, die mit Verkauf der geerbten Äcker sich aus der Leibeigenschaft und Fron „befreienden“ ehemals freien Bauern mussten so enteiget als Wanderarbeiter wegziehen, ihre Familien zurücklassen, mussten Betteln gehn ..
und zum Überleben auch noch die letzten Äcker, die letzte Kuh bzw die letzte Geiß verkaufen und /oder zum Ausgleich für das „Angeschriebene“ dem „Anschreiber“ überlassen: das waren Äcker, das waren die letzten Ziegen und Hühner (die das Hochwasser noch übrig gelassen hatte), das waren Teile der Häuser, Scheuern und Stallungen ….
Es traf die über Generationen „verebte“ Dorfarmut und alle, die in diese Armut stürzten wie heute die HARTZ4er …
Die große Zustimmung der Mittel-Gründauer zur Volksabstimmung für sdie „entschädigungslose Enteignung der Fürsten“ von 1926 wurde aus diesen Erfahrungen gespeist. Die Enteignung, die Maßnahmen gegen die strukturelle Armut ermöglicht hätte : Äcker und Weideland zurück an die Kommunen, Bauplätze, Geld für Schulen, usw… wurde durch den Auftrags-Terror der SA verhindert….
gegen die Mehrheit der Wähler …
Die Dorfarmut hatte aber auch die zweite Erfahrung: eben nicht nur der Fürst hat sie enteignet, sondern in Kombination mit ihrer so gemachten Armut eben auch der Land- und Viehhändler Hecht.
Sein Reichtum entstand in großen Teilen aus der Armut der Dörfler und dem Ruin vieler Bauern und Handwerker. (Klar wurde dabei auch erwähnt, dass die eigentlichen großen Profiteure letztlich die Großschlachthöfe, die Fleisch- und Wurstfabriken und deren Eigentümer waren.. aber der spütr und einsehbare Akt der Enteignung geschah eben durch den Landhändler.)
Bei den Gesprächen über den Verkauf von Äckern, Stallungen und Häusern aus dem Besitz der Hechts mitte der 30er zur Finanzierung der Auswanderung/Flucht vor den Nazis – so wurde berichtet – soll Otto Hecht den zum Teil auch bie ihm beschäftigten Kauf-Interessenten gesagt haben: “ Mir wärs recht, wenn ihr das kauft, es war ja früher auch Eures!“ oder so ähnlich…
Nicht wenige hätten da die letzten Groschen zusammen getragen und dann gekauft.
Klar war das eine Mischung aus Fluchthilfe und Gelegenheit, wieder in den Besitz des verlorenen Acker zu kommen. Möglich auch, dass da Dumpingpreise gezahlt wurden… aber die Hechts hatten die Äcker ja früher auch zu Dumpingpreisen erhalten…
Am Beispiel des Hanauer Land- und Viehändlers Deines, des Bruders des Kurfürstlich-Kasselaner Finanzrates, und der Verteidigung seines Anwesens durch die Hanauer Bürgerwehr gegen aufständische Bauern aus der Grafschaft Hanau … konnte nachgewiesen werden, dass die Religionszugehörigkeit bei diesen wirtschftlichen Prozessen keine Rolle spielte. –
Eine zentrale Rolle spielte dabei aber der von oben gelenkte Antisemitismus .. denn die Hanauer Bürgerwehr schützte das Anwesen des mit Deines konkurrierenden jüdischen Landhändlers in der Haneur Vorstadt nicht. Die aufständschen Bauern
plünderten das Anwesen, vernichteten die Schuldscheine und der protestantische Viehhändler Deines war seinen größten Konkurrenten los. Der klagte jahrelang in Kassel auf Schadenersatz, den nach gut zehn Jahren die kurfürstlichen Gerichte in Kassel zwar zuerkannten, ihn aus Steuermitteln (also die kleinen Leute) bezahlen ließen aber gleichzeitig noch eine erkleckliche Summe an Prozessgebühren abzogen…
(Quelle: Zieglersche Chronik /Historisches Museum der Stadt Hanau)
Der Mann war für den Rest seines
Lebens ruiniert. Seine Erben nicht weniger…
Immerhin durften sie nach den Steinschen Reformen auch andere als nur Handelsberufe erlernen und ausüben. (Wenn die Zünfte und Handwerkskammern es zuließen!)
Ausschnitt aus meinem Nachruf auf Stéphane Hessel: