Eine Israelin über Israel: Shulamit Aloni (Ex-Erziehungsministerin, Knessetabgeordnete 1965-96) im Interview in der „jungenWelt“

„Ich habe 1948 in der Haganah-Miliz gekämpft, um einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen und finde mich jetzt in einem Kolonialstaat wieder, dessen Demokratie sich immer mehr einem gefährlichen Abgrund nähert, nämlich einer Ethnokratie. …“

http://www.jungewelt.de/2009/11-16/056.php :

»Israel ist keine Demokratie mehr«
Religiöser Fanatismus und Ultranationalismus verhindern eine Lösung der palästinensischen Frage. Ein Gespräch mit Shulamit Aloni
Interview: Raoul Rigault
Shulamit Aloni (80) ist Schriftstellerin, Mitbegründerin von Peace Now, Trägerin des Israel-Preises und ehemalige Erziehungsministerin. Von 1965 – 1996 war sie Knessetabgeordnete erst der Arbeitspartei und dann der linkszionistischen RaZ bzw. Meretz

Israels stellvertretender Außenminister Dany Ayalon behauptet, daß der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas bei den Wahlen am 24.Januar 2010 nicht wieder antritt, sei eine »innerpalästinensische Angelegenheit«, mit der seine Regierung nichts zu tun habe. Teilen Sie diese Ansicht?
Ich finde, das ist eine widerliche Heuchelei. Israel hat mit dieser Entscheidung durchaus etwas zu tun, weil es jede Möglichkeit sabotiert hat, mit den Palästinensern zu einem akzeptablen Kompromiß zu gelangen. Die Besiedlung bzw. Kolonisierung der besetzten Gebiete, die Strangulierung des Gaza-Streifens und die vor einem Jahr im Zuge der Militäroperation »Gegossenes Blei« begangenen Verbrechen haben der palästinensischen Führung, die versuchte, ihren Leuten zu erklären, daß es eine Alternative zu bewaffnetem Kampf und Terrorismus geben könnte, um die Anerkennung ihrer Rechte zu erreichen, den Boden unter den Füßen weggezogen. Israel hat diese Hoffnung getötet. Aber was konnte man andererseits von einer Regierung erwarten, die einen gefährlichen Rechtsextremisten wie Avigdor Lieberman zum Außenminister macht? Von einer Regierung, in der die Mehrheit der Kabinettsmitglieder US-Präsident Barack Obama für einen Feind von Eretz Israel hält?

In einem Essay haben Sie vor kurzem erklärt, der Zustand der israelischen Demokratie sei alarmierend, was zu massiven Polemiken führte. Lagen Sie falsch?
Ich nehme nicht ein Komma von dieser Anklageschrift zurück. Mir hat das Herz geblutet, als ich das geschrieben habe, aber gleichzeitig sehe ich es auch ganz nüchtern. Ich habe 1948 in der Haganah-Miliz gekämpft, um einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen und finde mich jetzt in einem Kolonialstaat wieder, dessen Demokratie sich immer mehr einem gefährlichen Abgrund nähert, nämlich einer Ethnokratie. Da mache ich nicht mit. Ich schäme mich für diese Regierenden, die im Namen der Sicherheit Menschenleben zerstören und alle humanen Werte mit Füßen treten. Heute existiert die Demokratie innerhalb des Staates Israel nur in formaler Hinsicht. Es gibt Wahlen und Parteien und ein gutes Justizsystem. Aber es gibt auch eine allmächtige Armee, die die Gerichtsentscheidungen ignoriert, welche den Raub von Land begrenzen, das Leuten gehört, die seit 42 Jahren unter der Besatzung leben müssen und es so gut wie möglich bestellt haben. Andererseits greift der Rassismus um sich, wenn man anfängt, von einem »gerechten Krieg« zu reden und Landraub »Rückgabe von Eigentum« nennt. Die bittere Wahrheit lautet, daß Israel heute eine Geisel des religiösen Fanatismus und eines Ultranationalismus ist, der meint, er könne die palästinensische Frage mit Gewalt lösen. Es ist schrecklich, aber der Staat Israel ist keine Demokratie mehr. Wir leben in einer Ethnokratie mit einer »jüdischen und demokratischen« Ordnung.

Für die Verteidiger der bestehenden Verhältnisse ist Israel eine »Demokratie im Schützengraben« und die Anwendung von Gewalt kontinuierliche »Selbstverteidigung«. Was antworten Sie denen?
Man kann nicht in Sicherheit leben, wenn man ein anderes Volk unterdrückt. Das zu glauben, ist eine ebenso tragische wie schändliche Illusion für ein Land, das demokratisch sein will. Das alles hat zu Abu Mazens Entscheidung sehr viel beigetragen.

Ihre Positionen ähneln denen des ehemaligen US-Präsidenten James Carter, der von der Regierung Netanjahu scharf angegriffen wird. Wie stehen Sie dazu?
Grund für den Angriff des Establishments auf Carter ist die Tatsache, daß dieser es gewagt hat, die Wahrheit auszusprechen, die allen bekannt ist: Mit Hilfe seiner Armee praktiziert Israel in dem von ihm besetzten Gebiet eine brutale Form von Apartheid. Die Armee hat jedes palästinensische Dorf und jede Kleinstadt abgeriegelt oder in ein Gefangenenlager verwandelt, um jede Bewegung der Bevölkerung zu kontrollieren und ihr das Leben im Westjordanland schwer und in Gaza unmöglich zu machen.

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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